Neustart

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Die Sonne verschwindet langsam hinter dem Horizont und taucht die Autobahn und die rasenden Autos in ein rot goldenes Lichtmeer. 

Nadines Herz zieht sich zusammen, wie gern würde sie einfach hinter im Licht verschwinden. Ihr fliegen kleine Steinchen ins Gesicht und allmählich tut ihr linker Arm weh, schon seit Stunden hält sie den Daumen in Richtung der Autos. Doch niemand hält an. Sie blinzelt der Wintersonne entgegen und läuft weiter im nassen Graben, dann bleibt sie plötzlich stehen, dreht sich um und blickt den Fahren entgegen. Ihr Handy in der Hosentasche beginnt zu vibrieren und spielt ein Lied ab, dass an Körperverletzung grenzt. Nadine seufzt und hört dem Song zu, ohne abzuheben, sie weiß wer das ist und was er will. 

Seit sie heute Morgen im Morgen-grauen ihre Sachen gepackt und Nürnberg verlassen hat, verging keine halbe Stunde ohne das ein besorgtes Familienmitglied oder ein Freund angerufen hat. Keinen dieser Anrufe hat sie entgegengenommen. Sie dreht sich um und folgt den roten Lichtern der Wagen die an ihr vorbei rauschen. Entmutigt bleibt sie stehen und greift nach dem kleinen Rucksack auf ihrem Rücken. Sie zehrt den alten Reißverschluss auf und holt ihre Kamera heraus, dieses Schmuckstück hat sie zwar satte 1000 € gekostet aber sie war es vollkommen wert. Nadine schaltet sie ein und blickt durch den Sucher. Sie zoomt den roten Feuerball und die verschwimmenden Schilder davor heran, bis sie den beinahe gesamten Bildausschnitt ausfüllen, dann betätigt sie den Auslöser. 

Die Bildschirm der Kamera wird für wenige Sekunden schwarz, dann erscheint ein Bild von einer völlig überlasteten Autobahn und rote Lichtstreifen die in fast im selben rot verschwinden. 

Versonnen blickt sie noch einige Augenblicke auf die Fotografie... dann dreht sie sich wieder denn Wagen zu und versucht es auf ein neues.

Die ersten Sterne schieben sich bereits auf den dunklen Nachthimmel, Nadine blickt skeptisch aus dem großen Fenster der Tankstelle, in ihrer Hand einen Pappbecher mit einer dünnen, hellbraunen, glühendheißen Brühe die ihr für 1,30€ als Kaffee verkauft wurde. Ihre Füße schmerzen, sie ist den gesamten Weg von Nürnberg in Richtung Frankfurt gelaufen. 35 km. Müde reibt sich Nadine die Augen, rutscht vom Barhocker und schlendert in den kleinen Lebensmittelladen. Sie hat noch genau 62,75€ damit wird sie nicht mehr weit kommen, das bedeutet sparen. Sie blickt sich um und entscheidet sich für ein kleines Brot vom Vortag, eine vegetarische Pastete und eine große Flasche Wasser. Ein Taschenmesser steckt tief verborgen in ihrem Rucksack. An der Kasse lässt sie noch zwei Schokoladenriegel und eine Packung Kaugummi mitgehen. Die Kasse rechnet und zeigt 4,79€ an, Nadine zieht einen Schein aus dem Portemonnaie und legt ihn auf die versiffte Theke. Schwupp, ist das Geld weg. Die Kasse klingelt, rasselt und schlugt giereig das Geld. Nadine bekommt das Wechselgeld überreicht. Wehmütig sieht sie auf die paar Cents in ihrer Hand, das ist alles was von den 5€ übrig ist. Sie muss sich das bisschen Essen gut einteilen, häufig kann sie an Tankstellen bei den Preisen nicht einkaufen gehen. Neben der Kasse hängt ein Schild, W-Lan is free. Nadine schüttelt sich innerlich, was für ein Englisch. 

„Haben sie noch ein Zimmer frei?" Der Satz ist über ihre Lippen bevor sie groß darüber nachdenken kann. Der Typ hinter dem Tresen mustert sie gelangweilt. Nadine betet das er nicht nach ihrem Ausweis fragt, wie soll sie erklären was eine 17 in einem Motel an der A 3 zu schaffen hat, allein... „Sicher" brummt er, Nadine atmet aus. „Es gibt aber ken Frühstück." murmelt er in seinen Weihnachtsmannbart. „Kein Problem, ich brauch nur ein Dach über dem Kopf." „Macht 35,95€, bezahlt wird im Vorraus. Auschecken bis spätestens 10:00 Uhr, bitte." Mit diesen schlichten Worten hält er ihr einen Zimmerschlüssel hin. Nummer 13. Welch Ironie. „Danke."

Das Zimmer ist schlicht, sehr schlicht. Um nicht zusagen Schrott, die Tür klemmt und quietscht unangenehm laut. Durch einen sehr kurzen, schmalen Gang gelangt man zum Bett. Es ist ein Etagenbett, beim Test sinkt Nadine tief in die Matratze ein. Sie vermeidet es das Bettlacken anzuheben und drunter zu blicken. Direkt neben dem Bett, auf der linken Seite, ist ein winziges Fenster in der Wand. Es lässt sich nicht vollständig öffnen, der Bettrahmen ist im weg. Zudem ist es ei geöffnetem Fenster dermaßen laut das sie beschließt lieber die stickige Luft zubehalten als taub zuwerden. Auf der anderen Seite geht eine Tür in ein kleines Bad ab. Nadine wirft ihren Rücksack auf das Bett. Dann umrundet sie es und knipst das Licht im Bad an, die Lampe flackert und spendet unangenehm gelbes Licht.  

Toilette, Waschbecken und Dusche, alles etwas betagt. Aber es gibt frische Handtücher. Sie schaltet das Licht im Bad wieder aus, dann lässt sie sich auf das Bett fallen und fährt sich mit der Hand durch die dunkelroten Haare. Schräg über dem Bett hängt ein Fernseher, Nadine greift nach der Fernbedienung. Sie schaltet direkt in die Abendnachrichten und erstarrt, hinter der Mattscheibe blicken sie ihre eigenen grünen Augen an. Es ist ein Foto von ihrem 15 Geburtstag, sie hält ein Fotoalbum in den Händen und strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Das Bild verschwindet, dafür erscheint ein Sprecher der Nürnberger Polizei und der Anwalt ihrer Familie. Eine Schar von Reportern drückt ihnen ihre Mikrofone ins Gesicht. 

„....können wir deswegen noch keine genauen Angaben zum Verschwinden von Nadine machen, es besteht ebenso die..." Nadine erwacht aus ihrer Starre und macht lauter." ...das sie weggelaufen ist." Hier übernimmt der Anwalt „Wir werden uns wieder an die Öffentlichkeit wenden wenn meine Mandanten es wüschen oder wir neue Erkenntnisse haben. Vielen Dank:" „Warten sie, meinen sie das sie wirklich weggelaufen ist." "...Chance das sie entführt wurde? „Ist sie durchgebrannt..." „Neue Erkenntnisse, was soll..." „Dr. Mart, wie erklären sie..." Die Reporter über brüllen sich gegenseitig. Dann wechselt das Bild wieder zum Studio, die, sehr blonde, Nachrichtensprecherin übernimmt und macht mit den anderen Top-Themen das Tages weiter. Nadines Atmung geht schneller, sie schließt die Augen und hofft das niemand im Motel der sie gesehen hat, diesen Bericht verfolgt hat und sie erkennt. Minuten lang bleibt sie still, aber nichts geschieht, sie entspannt sich und holt ihren Netbook aus der Tasche. Sie hat die Hälfte ihrer technischen Geräte mitgenommen, ihren I-Pod, die Kamera, ihr Smartphone, den Netbook und sämtliche Ladekabel. Sie schließt ihn an den Strom an und schaltet ihn ein, sie gibt ihr Passwort ein und startet wenig später Firefox. Dann googelt sie Nadine Nolan.

"Nadine Nolan, Tochter von Novak Nolan und Nicole Meyer. Verschwand heute in den frühen Morgenstunden aus dem Anwesen in Nürnberg. Novak Nolan, bekannt als berüchtigter Anwalt von Konzernen wie Daimler und Nicole Meyer, Erbin des Schmuck Imperiums Meyer&Phantom gaben heute gegen Mittag ein Interview zu dem Verschwinden ihrer 17 Jährigen Tochter."

So lautet ein Nachrichteneintrag vom frühen Nachmittag.

Ein Link führt zu besagtem Interview, Nicole klickt ihn an. Nach kurzem laden des Videos taucht der Garten vor ihrem Elternhaus auf. Davor, umringt von Dutzenden Reportern und Paparazzis, ihre Eltern mit Dr. Mart, Anwalt und einem langjähriger Freund der Familie. 

Ihre Mutter spricht als erste, die Stimme leise und gebrochen. „Ich bitte sie, helfen sie uns bei der such nach unserem kleinen Mädchen. Sie doch erst 17. Sie würde nie weglaufen, das ist nicht unsere süße Nadine..." Weiter kommt sie nicht, sie bricht in Tränen aus, Nadine schnaubt verächtlich, süße Nadine. 

Das sie nicht lacht bitter auf, sie weiß nicht wann ihre Eltern sie einmal süß genant haben, oder sie überhaupt gelobt haben. 

Novak legt den Arm um seine Frau, die ihren Kopf an seine Brust legt, und spricht nun an ihrer Stelle weiter. „Wir bitten sie dringlich, helfen sie uns. Meine Frau und ich machen uns große Sorgen. Man hört schon zu viele schreckliche Geschichten. Lassen sie Nadine nicht auch so ein Fall werden. Dankeschön." 

Perfekt, für jeden Außenstehenden ist diese Interview wahrscheinlich herzzerreißend, Nadine lacht nur bitter. Das war die selbe emotionslose Maske die ihr Vater immer trägt wenn er in die Öffentlichkeit tritt, seine Welt muss perfekt sein. Genauso wie seine Frau und seine Kinder. 

Wer nicht spurt kassiert Schläge und Hausarrest. Nadine kann ein Lied davon singen, ihr ganzer Körper ist übersät mit alten und neuen Schlägen. Sie hatte schon mehrere gebrochene Knochen und lag einmal zwei Wochen mit Nierenquetschung im Krankenhaus. 

Sie klappt den Netbook zu und stellt ihn neben das Bett, dann macht sie sich über ihr „Abendessen" her. Während sie auf dem trockenen Brot herumkaut blickt sie auf ihr Smartphone, 21:34 Uhr. Sie greift nach ihrer Kamera und tritt ans Fenster, sie stößt es auf und ein ohrenbetäubender Lärm dringt in den Raum ein. Sie legt die Kamera auf den Fensterrahmen und schießt ein Foto. 

Rote und weiße verwaschene Lichtstreifen. Nadine lächelt leicht und schaltet die Kamera wider ab. 

Dann stellt sie, sie neben das Bett und geht ins Bad. Kurze Zeit später kommt sie zurück, schließt das Fenster und legt sich schlafen. 

Das letzte was sie sieht ist ihr wertvollster Besitz, ihre Kamera.

Love is BlindWhere stories live. Discover now