III.I | Tiefe Krater im Wüstensand

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Jacques

Zurück von den Feldern folgte er dem Trampelpfad durch die Ansammlung blecherner Hütten, vorbei an Unrat, Plastikfetzen und einzelnen verkrüppelten Sträuchern. Seine Gedanken wanderten erneut zu seiner Mutter.

Nach der Flucht vor seinem Vater und wochenlanger Irrfahrt waren sie hier im Dorf angekommen. Kara war genauso jung wie er und kam als Erste auf ihn zu, um ihm alles zu zeigen. Der damals herzliche Empfang der Bewohner, deren Hilfe beim Bau ihres Hauses und nicht zuletzt das Feld, das ihnen Idir verpachtet hatte, bewegten sie zum Bleiben. Inzwischen sprachen sie passabel Arabisch und er war damals noch klein, sodass ihm die Anpassung leichtfiel. Sie waren längst nicht mehr die einzigen Zugezogenen im Dorf. Trockenheit und Kriege vertrieben immer mehr Menschen aus den südlichen Ländern in Richtung der Nordküste Afrikas und weiter ins grüne Europa.

An seinen Erzeuger erinnerte er sich nur schwammig – zum Glück. Das Klatschen des Gürtels auf seiner nackten Haut, den Alkohol im Atem des Vaters. Ständige Prügel und Gebrüll. Bis heute kapierte er nicht, warum. Eines Tages hat der Kerl nicht mehr von ihm abgelassen. Schläge und Tritte bis zur Besinnungslosigkeit. Sein Körper war im Anschluss ein einziger Schmerz. Erst Wochen später erholte er sich. Während der Mistkerl mal wieder seinen Rausch ausschlief, packte Annabelle das Nötigste und sie schlichen davon. Das war die beste Entscheidung ihres Lebens – und seines.

Als er die Tür zu ihrer Hütte öffnete, wallte ihm brachiale Hitze entgegen, die sich wie jeden Tag dort staute. Seine Mutter war immer noch nicht zu Hause und auf den Feldern hatte er sie ebenfalls nicht gesehen. Trotz der Wärme zog Eiseskälte in seine Knochen und ließ ihn frösteln. Was, falls sie das Dorf bereits verlassen hatte, wie angekündigt? Aber sie hätte doch mit ihm darüber gesprochen. Oder nicht?

Innerlich rief er sich zur Ruhe. Atmete tief durch und fuhr sich durch die Haare, während er sich in ihrer Kammer um die eigene Achse drehte. Eventuell gab es eine simple Erklärung. Vielleicht besuchte sie eine kranke Nachbarin oder erledigte Besorgungen auf der anderen Seite des Dorfes.

Da bemerkte er es: Ihr Rucksack. Er fehlte. Verflucht. Im grellen Keil, den die Mittagssonne in die Kammer warf, fiel er auf die Knie und durchwühlte hastig ihre Habseligkeiten. Nach wenigen Sekunden war die Sache klar. Sie hatte zwei Trinkflaschen, ihr Handy und den Schlafsack mitgenommen. Alles, was für eine längere Wanderung notwendig war. Das zerknickte Foto von Annabelles Mutter und ihrer drei lachenden Schwestern vor ihrem damaligen Haus, sowie die Zigarrenkiste mit ihren wichtigsten Erinnerungsstücken, lagen noch dort.

Befreit atmete er durch und legte mit Bedacht alles an die angestammten Plätze zurück. Einerseits war er erleichtert, da sie offenbar plante, zurückzukommen. Anderseits hatte sie, wie es schien, mitten in der Nacht oder früh am Morgen klammheimlich das Dorf verlassen. Nur wohin? Und warum hatte sie ihm nicht Bescheid gegeben?

Schlagartig waren die Eisklumpen zurück. Ihm fielen das seltsame Handygespräch und ihre schuldbewusste Miene ein. Mit wem hatte sie telefoniert? Hatte es mit dieser Idee zu tun, von der sie ihm erst heute erzählen wollte? Plante sie, ihn mit vollendeten Tatsachen zu konfrontieren? Vermutlich. Hoffentlich war ihr nichts passiert. Aber wenn sie gestern Abend annahm, ihm heute davon berichten zu können, hatte sie doch zumindest damit gerechtet, im Laufe des Tages wieder zurückzukehren.

Um sicherzugehen, dass sie wirklich fort war, klapperte er sämtliche bekannte Familien des Dorfes ab, erntete aber nur Schulterzucken. Später umrundete er die Felder am Hang, schaute in die tiefen Wassergräben sowie die verfallenen Schuppen – ohne eine Spur zu finden. Schlussendlich war er zumindest sicher, dass sie keinen Unfall in unmittelbarer Nähe gehabt hatte.

Als er am Abend in ihre Hütte zurückkam, hatte er immer noch keine Spur seiner Mutter gefunden. Ihr Handy war abgeschaltet und niemand hatte sie gesehen. Kara, mit der er nur kurz hatte sprechen können, tröstete ihn. Sie sah es wie üblich positiver. Sicherlich hätte Annabelle einen Grund gehabt, ihn nicht mitzunehmen, und würde bestimmt früher oder später mit guten Nachrichten zurückkehren.

📚𝗥𝗔𝗖𝗛𝗘𝗩𝗜𝗥𝗨𝗦 - Ein Thriller im unmittelbaren Morgen (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt