Prolog

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Der erste Gedanke den ich hatte, war nicht sehr nett. So wirklich überhaupt nicht nett, ich malte mir die schlimmsten Einzelheiten aus und stellte sie mir so unheimlich hässlich vor, wie es eigentlich gar nicht mehr möglich war. Es war spät, ich war müde und wollte in Mittelerde versinken, doch jemand musste sich ausgerechnet neben mich setzen mit so lauter Musik, dass selbst ich die Gitarre über die Kopfhörer meines Sitznachbars hören konnte. Es war wirklich schrecklich, sich jetzt noch mit solch einer banalen Situation herum schlagen zu müssen. Der Bus war bis auf einen alten Opa und zwei Arbeiter komplett leer, diejenige neben mir, hätte sich also ruhig überall anders hinsetzen können.

Als das Mädchen eine Station später noch immer neben mir saß und die ruhige Ballade einem Indie-Song gewichen war, platze mir der Kragen. Für einen kurzen Moment hob ich den Kopf um die Person zu meiner linken darauf anzusprechen, die Musik gefälligst leiser zu stellen, doch als ich die kurz geschnitten, blonden Haare sah, hatte ich das Gefühl meine Stimme verloren zu haben, die Worte die ich mir zurecht gelegt hatte, waren verflogen und ich hatte selbst mühe dabei, meinen Mund geschlossen zu halten.

Ihr Profil war so unscheinbar und doch gleichzeitig so wunderschön, dass ich mich in dem Moment verfing. Sie starrte auf ihr Handy, doch ich wagte es nicht von ihr wegzusehen, weil ich Angst hatte, der Augenblick würde sich für immer in Luft auflösen. Am Hinterkopf hatte sie ihre Haare zu einem kleinen Zopf gebunden, doch die meisten Strähnen hatten sich bereits aus der Frisur gelöst. Ich betrachtete das struppige Haar das ihr in Wellen vom Kopf abstand. Sie bemerkte meinen Blick nicht, war viel zu beschäftigt damit, was sich auf ihrem Handy abspielte. In Zombieland hatte sich Columbus immer gewünscht, einem Mädchen mal die Haare hinters Ohr streichen zu können. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nie verstanden wie man sich etwas so absurdes Wünschen konnte, doch jetzt begriff ich. Als ihr eine der Strähnen ins Gesicht fiel, musste ich dem Drang widerstehen die Hand zu heben und diese einfach aus meinem Blickfeld zu streichen um wieder freie Sicht auf ihr Profil haben zu können.

Sie hob den Kopf und sah nach vorne, hastig blinzelte ich und drehte den Kopf nach rechts um aus dem Fenster zu sehen. Ich hielt die Luft an und wartete, dass sie wieder auf ihr Handy blickte, doch sie tat nichts dergleichen. Sie sah einfach grade aus und aus den Augenwinkeln erkannte ich ein kleines Lächeln, das ihre Lippen umspielte. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und sah dann wieder auf mein Buch hinunter, versuchte mich in Gandalfs Worten zu verlieren, doch mein Blick wanderte alle paar Sekunden zu ihrem Handy und auch wenn ich es hasste, wenn andere mir über die Schulter sahen, konnte ich meine Neugierde nicht zügeln.

Und sie schrieb.

Nicht mit anderen Leuten, sie beschrieb eine Szene, was sie am Leben störte. Es war kein Blog, ich vermutete eher, dass sie in einer Schulzeitung mitwirkte und sich Notizen zu einem Artikel machte. Es war nichts großartiges, doch die Tatsache, dass sie mit Worten umgehen konnte, es ihr so schnell gelang etwas zu tippen, was sie später verwenden könnte, verzauberte mich. Alles an ihr schien mich zu verzaubern. Als sie zwei Stationen später, die Musik lief noch immer so laut, dass ich die Melodie hören konnte, den Knopf mit der Aufschrift „Stopp" herunterdrückte, riss ich mich zusammen und fesselte meinen Blick auf die Worte vor mir. Ich sollte mich auf Bilbos Abenteuer konzentrieren und nicht einem Mädchen hinterher sabbern, welches ich vermutlich nie wieder sehen würde.

Wo der Lavendel blühtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt