Kapitel 2

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Sechs Monate später

Lena

Ihre Tochter leidet an einem Herzfehler.‹

Ein Satz, den niemand jemals hören möchte.

Ausgerechnet meine Eltern hatten das große Pech, genau diese Worte einige Tage nach meiner Geburt gesagt zu bekommen. Aber neben zahlreichen Operationen, Krankenhausaufenthalten, Zusammenbrüchen und anderen Krisen war diese Neuigkeit wahrscheinlich bloß ein kleiner, wenn auch bedeutender Teil des ganzen Dramas. Der Auslöser. Der Funke, der das lodernde Feuer entfacht hat.

Gerade mal ein paar Stunden auf der Welt und dennoch todkrank. Das war ich. Mein Leben lang. Bis zu meinem sechzehnten Geburtstag habe ich quasi in Krankenhäusern gewohnt.

Besser als meine Eltern und besser als meine Schwester hatte ich mich damit abgefunden, dass der Tod mein ständiger Begleiter war.

Doch an einem Montagmorgen, unauffällig, kalt und grau, hat das Schicksal beschlossen, mir eine zweite Chance zu geben. Nämlich in Form eines fremden Herzens.

Mir wurde das größte Geschenk gemacht. Ein neues Leben. Aber wie alles andere auch hat dieses neue Leben eine Schattenseite: Ich trage das Herz einer Person in mir, die einst genauso lebendig war wie ich, jetzt jedoch nicht mehr existiert.

»Ich finde, dass du hingehen solltest«, sagt Yara, meine ältere Schwester und macht sich nicht einmal die Mühe, von dem merkwürdigen Häkelexperiment auf ihrem Schoß aufzublicken.

Ich starre es eine Weile an und komme zu dem Entschluss, dass es ein Schal ist. Passt ganz gut, immerhin ist es Mitte Herbst und bald kommt der Winter.

Yara verheddert unabsichtlich eine Nadel in der feinen Wolle und flucht leise einige undefinierbare Beleidigungen vor sich hin. Ich hoffe inständig, dass sie nicht auf den Gedanken kommt, mir den misslungenen Klumpen auf ihrem Schoß zu Weihnachten zu schenken.

»Ich weiß nicht«, entgegne ich, während ich meine schwarze Hose, die schwarze Bluse und den schwarzen Blazer, den ich trage, im großen Wandspiegel vor mir betrachte. Ich sehe blass aus. Schwarz steht mir nicht.

Nach der Transplantation musste ich eine Weile im Krankenhaus bleiben. Anschließend folgte die Kur in einer kardiologischen Rehabilitationsklinik. Ich lebe noch nicht lange zu Hause, vielleicht seit ein paar Wochen, und schon soll ich auf einen Friedhof gehen?

»Was spricht denn dagegen?«, erkundigt sich meine Schwester unbekümmert und bemerkt nicht, dass drei Sekunden später vor lauter Konzentration ihre Zunge aus dem Mundwinkel lugt.

»Ich kenne diese Frau nicht einmal!«, sage ich, bevor ich mich besinne und ein wenig beschämt verbessere. »Ich meine, ich habe sie nicht gekannt.«

Kopfschüttelnd erinnere ich mich an den Tag, an dem ich herausgefunden habe, wer meine Spenderin ist. Eigentlich dürfen Ärzte einem nicht sagen, von wem das Organ stammt, welches man implantiert bekommen hat. Daher war mein Weg nicht unbedingt der konventionellste ...

»Komm schon, Leni. Bitte!«, flüstert mir Milena, die von allen immer nur Milla genannt wird, von unserer Zimmertür aus zu.

»Das ist vollkommen verrückt!«, entgegne ich, während ich mir die Brust halte. Unter meinen Fingern schlägt ein neues Herz. Die Operation ist noch nicht lange her. Anderthalb Wochen, um genau zu sein.

In den letzten Tagen habe ich kaum geschlafen. Stattdessen liege ich wach im Bett und lausche den regelmäßigen Schlägen in meiner Brust. Seit ich aus der Narkose aufgewacht bin, fühle ich mich komisch – fremd im eigenen Körper.

Schicksalsschläge [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt