Kapitel 4

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Über meine Hausübung gebeugt versuchte ich ein spannendes Thema für ein Essay zu finden. Mein moralisches Dilemma, in dem ich mich gerade befand, wäre sicherlich perfekt zum Diskutieren gewesen. Erzähle ich meiner besten Freundin, dass ich ihr Date geküsst habe oder nicht. Eine Liste mit Pro und Kontra Argumenten wäre vermutlich tatsächlich hilfreich gewesen.„Okay, ich brauche einen Taste-Tester.", sagte Simon und kam mit einem Teller heißer Kekse zum Coach Tisch, auf dem meine Lernsachen ausgebreitet waren.
„Ich melde mich freiwillig als Tribut.", murmelte ich und konzentrierte mich auf die Aufgabe vor mir.
Simon schüttelte lachend den Kopf und nahm einen Keks vom Teller. Ich öffnete meinen Mund, als er ihn mir fütterte. Ich kaute die süßen Krümmel und genoss die noch warme, flüssige Schokolade. Diese Kekse waren göttlich. Simon war ein Meister im Backen und Kekse eine seiner besten Disziplinen. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich mich als Vogelmutter beschreiben, die ihr Junges füttert.", sagte er und ließ sich neben mir auf die graue Coach fallen.„Genau genommen kauen Vögel das Essen für die Babys vor und spucken es ihnen dann in den Mund.", erwiderte ich und blickte von meinen Notizen auf.
„Erstens, du bist eine Besserwisserin und zweitens gefällt es anderen Menschen vielleicht sich in den Mund zu spucken.", scherzte Simon.
Ich schauderte und griff nach einem Pastell-Blauen Polster, denn ich ihm über den Kopf zog. „Arghh es gibt kein Szenario, in dem Spucke involviert wäre, das auch nur im Geringsten verführerisch wäre."
Eine tiefe, amüsierte Stimme drang zu uns durch. „Mir fällt, da etwas ein.", sagte Harvey als er durch das Wohnzimmer, in Richtung Küche ging. Er stellte ein Wasserglas auf die marmorne Arbeitsplatte und durchquerte lässig den Raum. Ohne es zu bemerken, folgten meine Augen, jeder seiner Bewegungen, als er nach einem Keks griff. Seine braunen Locken lagen wirr auf seinem Kopf, als wäre er gerade aufgestanden. Seine graue Jogginghose hing locker auf seinen Hüften und ich schluckte als ich den kleinen streifen gebräunter Haut sah, der zwischen dem Bund seiner Hose und seinem schwarzen Pullover hervorstach.
„Was machst du hier? Ich dachte du wärst trainieren?", fragte Simon und richtete seine schwarze Brille. „Oder Fan-Post beantworten." Er seufzte genervt und deutete auf den Briefkasten vor dem Haus, der durch das Fenster zu sehen war. „Wenn ich noch einmal knapp fünfzig Briefe vor unserer Haustür finde, verbrenne ich sie eigenhändig."
„Mein Trainer ist krank.", sagte Harvey und holte sein Wasserglas. „Außerdem bist du doch nur eifersüchtig, weil dir nicht jeden Tag Fans schreiben."
„Ha ha.", meinte Simon und zog das Keksteller außer Harveys Reichweite. „Keine Kekse für vorlaute große Brüder.", verkündete er.
Harvey stand auf. „Auch gut. Sie sind sowieso etwas trocken."
Simons Miene spiegelte Empörung wider und er sah ernsthaft verletzt aus. Er tat mir leid, immerhin stand er ständig in Harveys Schatten.
„Hör nicht auf ihn.", sagte ich und warf Harvey einen scharfen Blick zu. „Er hat einfach keinen guten Geschmack."
Simon nickte mir dankbar zu. Harvey setzte eine neutrale Miene auf und ließ seinen Blick über mich wegschweifen. Ich existierte also wieder nicht in seinem Universum.
„Ich weiß ziemlich genau, was gut für mich ist. Ich bin in meinem Zimmer.", sagte Harvey schließlich und ließ uns allein. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass diese Worte für mich bestimmt waren.
Simon seufzte und stellte den Teller Kekse wieder auf den Coach Tisch, auf meine Zettel.
„Du solltest weniger lernen.", sagte Simon und musterte stirnrunzelnd meine Notizen. „Wann hast du das letzte Mal etwas gemacht, was nicht mit der Akademie zusammenhing?"
Simon wusste, wie wichtig ein perfekter Abschluss für mich war. Vielleicht war ich manchmal etwas zu sehr auf Noten fixiert, aber ich wollte meinen Vater stolz machen. Außerdem hing meine Zukunft von diesen Noten ab. Nur wenn ich einen makellosen Durchschnitt hatte, konnte ich mir eine Universität meiner Wahl aussuchen und die Kurse belegen, von denen ich träumte. Natürlich machte ich es mir manchmal selbst schwer und meine Freizeit litt unter der Disziplin, die ich an den Tag legte. Aber irgendwann würde sich die harte Arbeit bezahlt machen.
Ich dachte über Simons Frage nach und sofort musste ich an die Nacht in der Bar denken. „Maia hat mich mit auf ein Date mit deinem Bruder geschleppt. Es war ein... interessanter Abend."
Simon griff nach einem Keks und kaute langsam. „Er war überraschend gut gelaunt, als er nach Hause kam. Maia muss ihn umgehauen haben."
Ich runzelte die Stirn und versuchte meine Verlegenheit zu überspielen. „Warum warst du noch wach?"
Simon schüttelte den Kopf. „Ich habe noch einen Kuchen dekoriert, aber das ist nicht der Punkt. Du lenkst ab Livi."
Ich schüttelte unschuldig den Kopf und zog eine neutrale Miene. „Ich bin gleich wieder da."
Simon schluckte den Keks hinunter. „Glaub ja nicht, dass du so einfach davon kommst."
Ich schmunzelte und stand schnell auf, bevor meine schuldbewusste Miene mich doch noch verraten würde. Schnell flüchtete ich durch den hellen Hausflur in Richtung Toilette. Im Flur war es still und ich atmete erleichtert auf. Der flauschige weiße Teppich dämpfte meine Schritte, als ich an der Kommode mit den vielen Fotos von Simon und Harvey vorbei ging. Darauf standen auch einige von Harveys ersten Karting Pokalen, die er in den Junior Kategorien gewonnen hatte. Das Gold und Silber glänzte in der Sonne, das durch ein Fenster hereinfiel, von weißen Vorhängen umrahmt.
„Liv." Eine der Holztüren öffnete sich im Gang und Harvey trat heraus. Seine Haare waren nass und tropften auf dem Teppich, außerdem trug er kein T-Shirt. Seine straffe Haut glänzte noch etwas feucht, als wäre er gerade frisch aus der Dusche gestiegen. Mein Blick wanderte über seine Bauchmuskeln, weiter hinauf über seine Brust, bis ich endlich bei seinen Augen angelangt war. Einer seiner Mundwinkel zuckte leicht und seine braunen Augen funkelten, als wäre ihm diese Situation keineswegs unangenehm.
„Du triffst dich wieder mit Maia?", platzte es aus mir heraus. Am liebsten wollte ich es sofort wieder zurücknehmen, denn es ging mich wirklich nichts an.
Das Funkeln verschwand aus Harveys Blick und er seufzte. „Vielleicht."
Ich und Harvey setzten gleichzeitig zu einer Erwiderung an. „Es tut mir leid ich wollte mich nicht..." „Liv, das was in der Küche zwischen uns passiert ist..."
Einen Moment verstummten wir beide.
„Wir sollten es einfach vergessen, ich kann keine Ablenkungen gebrauchen und du auch nicht.", sagte ich schließlich und versuchte nicht an das Gefühl zu denken, dass dieser Kuss bei mir ausgelöst hatte.
„Du hast recht.", sagte Harvey seine Stimme leise und irgendwie passte dieser Ausdruck nicht zu ihm.
„Ich habe Maia nichts erzählt und werde es auch für mich behalten. Immerhin will ich mich nicht zwischen euch stellen.", sagte ich und trat einen Schritt zurück.
Harvey nickte wieder. Er fuhr sich durch seine nassen Haare, die ihm in die Stirn hingen.
„Geht es dir gut Liv, du wirkst etwas gestresst."
Ich hatte mit allem gerechnet nur nicht mir dieser Frage.
„Es geht mit gut. Keine Sorge es ist nur Shakespeare der mich wachhält.", sagte ich scherzhaft.
Harvey schnaubte. „Und ich dachte bereits, ich wäre der Grund für deine Augenringe."
Ich verdrehte die Augen und gab ihm einen Klaps auf seine Schulter. „Nicht die ganze Welt dreht sich um dich."
Harvey umfasste mein Handgelenk und beugte sich vor. „Ich habe wirklich keine Ahnung was in deinem hübschen Köpfchen vorgeht." Er war mir so nah, dass sein warmer Atem meine Wange strich. An der Stelle, an der er mein Handgelenkt umfasst hatte, schien meine Haut zu brennen. Aber am meisten überraschten mich seine Worte. Er fand mich hübsch.
„Olivia, wenn du das Tor zu Narnia gefunden hast, würde ich gerne mitkommen.", rief Simon aus dem Wohnzimmer und ich hörte, wie er aufstand.
Ich trat einen Schritt zurück und Harvey ließ mein Handgelenk los, dennoch spürte ich seine Finger noch immer auf meiner Haut.
Harveys braune Augen waren wieder so unleserlich wie immer, als ich mich umdrehte und Richtung Wohnzimmer ging. Simon stand neben der Couch und musterte mich misstrauisch.
„Alles okay?"
„Alles gut.", murmelte ich und lies mich über meine Notizen gebeugt auf die Coach sinken. Simon kommentierte mein Verhalten nicht weiter, sondern ließ mich noch ein bisschen lernen.
Simon war das Ebenbild seines Bruders, nur seine braunen Locken waren etwas länger und sein Gesicht etwas schmaler und feingeschnittener. Wir waren gemeinsam aufgewachsen und seitdem unzertrennlich, auch wenn er in Hartfield zur Highschool ging und ich auf die Akademie etwas außerhalb der Stadt. So oft es ging sahen wir uns, auch wenn ich meistens meine Karteikarten dabeihatte. Simon unterstützte mich und nahm es nicht persönlich, wenn ich Zeit zum Lernen brauchte, was ich am meisten an ihm schätzte.
Nach einer Stunde rief er das Wort, auf das ich mich immer am meisten freute. „Lernpause!" Es war unser gemeinsames Ritual alles wegzuräumen, was mit Schule zu tun hatte. Danach ging Simon jedes Mal zu Fernseher und griff nach einem Spiel mit geschlossenen Augen. Dieses Mal war es Mario Kart, dass er in die Nintendo Switch steckte und mir einen Controller zuwarf.
„Bereit?", fragte er und ein verrücktes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Ich fing den Controller. „Mach dich bereit zu verlieren.", sagte ich und spürte, wie meine kompetitive Seite zum Vorschein kam. Oh ja ich brauchte einen Sieg mehr als alles andere. 

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