Was, wenn...

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Nala starrte die Gestalt an, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. 

Wenn es diesen Mann, diesen Mutan wirklich gab, dann waren ihre Träume vielleicht nie Träume gewesen. Dann waren all das Verdrängen, die Angst und das Deuten und Analysieren für nichts gewesen. Es gab keinen symbolischen Grund, warum ihre Erinnerung ihr diesen Traum immer und immer wieder schickte. Keine versteckte Bedeutung. 

Und wenn das alles real gewesen war, bedeutete es, dass ihre Mutter eine Mutan war? Und was war dann sie? Ihre Mutter hatte sie an Land geschoben, um sie vor diesem Mann in Sicherheit zu bringen. Hatte sich in seine Hände begeben, um sie zu schützen. Wer war dieser Mann, dass ihre Mutter das getan hatte?

Nalas Gedanken rasten durch ihren Kopf. So viele Fragen und Möglichkeiten kamen auf und vergingen wieder. Ihre Liebe zum Wasser, aber die Angst vor dem Meer. Die Fische, die ihr im großen Aquariumzoo nachschwammen. All diese Kleinigkeiten. 

Ihre Hand glitt zu ihrem Hals und berührten die Kette. Was würde mit ihr passieren, wenn ihr die Ketten abgenommen würden? Nur am Rande bekam sie mit, wie Marlon sie wieder auf ihren Stuhl führte und die Spiele begannen. 

"Nala, bitte."

Die Sorge in Marlons Blick durchdrang ihr Grübeln und sie konzentrierte sich wieder auf ihre Umgebung. Ihr Begleiter atmete hörbar aus. Wie gebannt beobachtete sie die Kämpfe und war überrascht, wie wenig blutig die ersten waren.

"Das wirkt gar nicht so schlimm, wie ich mir Arenakämpfe vorstelle."

"Das sind nur die Vorkämpfe. Damit die Mayaki und die Mutane warm werden. Blutig wird es erst später."

Nala zuckte bei der Stimme der Warka zusammen und konnte ihren Blick von der Tribüne und den Kämpfen nehmen.

"Wie schaffen sie das?"

"Was?"

"Das alles hier."

Nala glaubte einen kurzen Schatten im Gesicht der Heilerin zu sehen, doch es war genauso schnell vorbei.

"Du brauchst etwas, woran du glaubst. Einen Grund, eine Motivation, die dich alles ertragen lässt. Etwas, dass dein Feuer in deinem Inneren weiter brennen lässt, selbst wenn um dich herum alles im Eis erfriert. Wirst du Menschen töten? Ja. Wird dich das verändern? Mit Sicherheit. Aber diese Motivation ist stärker als aller Schmerz und alles Leid. Wenn du diesen Grund gefunden hast, dann kannst du alles ertragen. Dein Begleiter hat diesen Grund bereits. Du überlebst hier nur, wenn du schleunigst deinen findest. Eure Schonzeit ist bald vorbei. Jarumos braucht neue Nasara, wenn er sein Gesicht nicht verwirken will."

Einen Grund zu leben. Welchen Grund hatte sie schon? Sie glaubte nicht daran, dass sie es jemals an die Oberfläche zurück schaffen würden. Das Leben dort oben kam ihr so weit weg vor. Nachdenklich schritt sie wieder an die Fenster. Noch immer saß der Entführer ihrer Mutter, jedes Wesens, der ihr so viel Leid gebracht hatte, oben auf den Rängen und schien sich an den Kämpfen zu ergötzen.

Und da glomm tief in ihr ein Gedanke auf. Der so naheliegend gewesen war, dass sie nicht daran zu denken gewagt hatte. Und dieser Gedanke war ein Grund. Sie spürte es, wie ihre Lebensgeister wieder erwachten. Wie sie wieder Mut schöpfte und sie verstand, was die Warka meinte. Diese nickte und ließ sie am Fenster zurück.

Entschlossen betrachtete sie sich den Mutan genauer. Präge sich alles an ihm ein, was sie konnte. Er hatte ihr ihre Mutter genommen und er wusste, wo sie war. Dieses Wissen würde sie ihm entreißen. Auf die eine oder andere Weise. Dafür würde sie kämpfen. Dafür würde sie töten.


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