Prolog | Edited

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P R O L O G

Rom, heute

"Entschuldigen Sie, junge Dame, aber die Economy-Class wurde noch nicht aufgerufen", ertönte die tiefe Stimme eines Mannes hinter mir. Amüsiert zog ich meine Augenbrauen in die Höhe. Ich konnte ihn mir schon vorstellen, ohne hinsehen zu müssen: Mittfünfziger, weiße Haare, Laptoptasche in der linken und Smartphone in der rechten Hand. An seinem Finger ein goldener Ehering. Frustriert, weil seine Frau ihn nicht mehr vögelt und sein Businesspartner aus Hong Kong den fünf Milliarden-Dollar-Deal hat platzen lassen. Vermutlich hatte er seinen Abend dann champagner-trinkend in der Badewanne seiner Hotel-Suite ausklingen lassen, während ein italienisches Escort ihm die Füße massiert.

Ich drehte mich in seine Richtung um. Bingo. Vor mir stand ein gestresst wirkender Mann mit gerunzelten Augenbrauen. Seinen Laptop hatte er unter dem Arm geklemmt. In seiner Hand ein Smartphone.

Er musterte mich kurz. Seinem Blick zu urteilen, müsste ich eigentlich in der Holzklasse sitzen.

Vielleicht lag es daran, dass ich meinen Laptop nicht wie alle anderen Businessreisende aufgeklappt in der Hand hielt, um noch schnell eine E-Mail zu verfassen, in der ich den Praktikanten feuerte, weil er die Blumen falsch gegossen hatte. Vermutlich lag es jedoch eher daran, dass ich braun gebrannt, tiefenentspannt, im Sommerkleid und Strohhut vor ihm stand und alles an mir nach Strandurlaub in Rimini schrie.

"Warum erzählen Sie mir das?", fragte ich mit unschuldiger Stimme.

"Ach, sie fliegen Business?" Erstaunen in seinem Gesicht.

"Normalerweise fliege ich First Class." Natürlich flog ich nicht First Class. Ich war eine Managerin. Eine ziemlich erfolgreiche sogar. Doch bezahlte ich lieber weiter meine Praktikanten zum Blumengießen, als dass ich mir Kaviar von nackt geölten Männeroberkörpern in der First Class servieren ließ.

Der Mann lachte irritiert auf. Ich zog meine linke Augenbraue erwartungsvoll in die Höhe. Das wäre der richtige Zeitpunkt mir mitzuteilen, was ihm so dringlichst auf der Zunge lag. Stattdessen schaute er mit zusammengepressten Lippen wieder hinab auf sein Smartphone.

Ich überlegte, ob ich ihm noch eine meiner Visitenkarte zustecken sollte. Nur für mein eigene Amusement.

Ellis Shephard, Geschäftsführerin, MentalHelp GmbH .

Nun gut, wie hätte er auch wissen sollen, dass ich, Ellis Shephard, die letzten Tage nicht betrunken am Strand von Rimini verbracht hatte, sondern in der Toskana war, um meine eigene innere Mitte wiederzufinden, nachdem ich mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Welches Chaos ich wirklich verursacht hatte, wurde mir durch das Vibrieren meines Handys in erneut bewusst. Ich wollte die eingegangene Nachricht nicht sehen. Nicht umsonst, hatte ich mein Telefon in der letzten Woche ausgeschaltet, damit ich in den Hügeln der Toskana zwischen Weinfelden und Zypressen Atemübungen machen konnte, ohne einen Herzkasper zu bekommen. Ich starrte auf den Absender. Meine Herz begann schneller zu schlagen. Es war an der Zeit, sich der Realität zu stellen.

"Ellis, melde Dich endlich. Ich muss Dich sprechen! Bitte."

Ich zog meinen Hut tiefer ins Gesicht und reichte dem Bodenpersonal Ausweis und Ticket.

"Game over", flüsterte ich vor mich hin, während Mister Vielflieger hoch erhobenen Hauptes an mir vorbeistürmte.

Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob ich wirklich in dieses Flugzeug steigen wollte. Denn ich wusste, was mich erwarten würde. 


Zimmer mit Aussicht (I + II)Where stories live. Discover now