Gewohnheit

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Kopf hoch Kopf runter. Immer wieder die selbe Leier.
Ein Blick aus dem Fenster.
Einmal kurz die Augen schließen.
Das Klappern von Kugelschreibern auf dem dünnen Blatt Papier.
Das Tippen von schnellen Fingern auf der Tastatur.
Das leise Murmeln einer Masse von Menschen.
Eine deutlich lauter werdende Stimme.
Sie sticht aus der Masse heraus, holt mich zurück mit einem kräftig Stimmeinsatz am Anfang des Satzes.

Ich öffne die Augen.
Mein Blick immer noch auf das Fenster gerichtet.
Ein Blick nach draußen.
Es ist dunkel und grau.
Eine nicht durchlässige Wolkendecke am Himmel.
Kahle Bäume, dessen Äste sich biegen durch den reißenden Wind.
Ein Wind dessen Kraft ich gewohnt bin.

Anderswo zieht der Wind leicht an mir.
Wie ein Samttuch streicht er über mein Gesicht.
Hier zieht der Wind stark an mir.
Er reißt an mir.
Er schlägt und peitscht mir ins Gesicht.
Daran bin ich gewöhnt.

Sollte der sanfte Wind vielleicht eher die Gewohnheit sein?
Ich schließe die Augen. So vieles an das sich der Mensch gewöhnt.
Was ist wenn dem nicht so wäre?

Klappernde Kugelschreiber auf dünnem Papier.
Studenten gebeugt über ihren Aufzeichnungen auf knarzenden Tischchen.
Tippende Finger auf Tastaturen.
Leises Gemurmel, laute Stimme.
All das Gewohnheit.
Ich nehme es kaum wahr.

Was wäre wenn ich doch alles wahrnehmen würde?
Bis ins kleinste Detail.
Was wäre wenn jeder Tag besonders wäre, auch wenn er scheinbar immer gleich ist?
Es ist immer die gleiche herausstechende Stimme.

Mein Blick schreitet einmal durch den Saal.
Studenten die nach vorne sehen.
Studenten die mit einander ein leises Gespräch über Themenbezogenes oder nicht Themenbezogenes führen.
Studenten die eilig Wort für Wort, die Aussagen desProfessors, auf die sich langsam füllenden Blätter schreiben.
Studenten die auf ihr Handy sehen, mit einer nicht anwesenden oder anwesenden Person kommunizieren.

Sind sie gelangweilt?
Bin ich gelangweilt?
Sollte sie gelangweilt sein?
Sollte ich gelangweilt sein?
War nicht ich es, die sich für das hier entschieden hatte.
Sollte ich nicht gespannt der Stimme folgen?
Alles wissbegierig in mich aufnehmen?

Wieder ein Blick aus dem Fenster.
Faust.
Goethes Faust.
Ein Mann der alles wissen wollte.
Sollte ich alles wissbegierig aufnehmen?
Darf ich mich langweilen?

Ein kleiner Strahl.
Ein kleiner wärmender Sonnenstrahl durchbricht die Wolkendecke.
Durchbricht das Grau.
Durchbricht das Dunkel.

Ruhe.
Die Studenten sehen nach vorn.
Auch ich sehe nach vorn.
Eilig schreiben alle mit.
Kopf hoch.
Kopf runter.
Kopf hoch.
Kopf runter.
Die Stimme durchbricht die Ruhe.
Ein lautes Poltern,
von klopfenden Fäusten auf zerbrechlichen Tischchen,
durchbricht die Stille im Saal.

Was hatte ich gelernt?

IT'S MEWhere stories live. Discover now