Kapitel 1

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Vertraue auf dein Können, wisperte meine innere Stimme, doch es war gar nicht so einfach, ihr zu glauben, wenn mein Vertrauen einem eingetretenen Spiegel gleichkam und man schon ein ganzes Leben lang nur eines zu hören bekommen hatte: Du bist nicht gut genug.
»Grand-Plié, meine Damen, gefolgt von einem Tendu nach vorne, zur Seite und nach hinten, einem Relevé und einer Wiederholung des Ganzen in die andere Richtung«, rief meine Tanzlehrerin Madame Rousseau streng in die Runde, riss mich somit aus meinen niederträchtigen Gedanken und ließ ihren wachsamen Blick über die Tänzerinnen gleiten. Sie kamen ihren Aufforderungen wie Aufziehpuppen nach, beugten ihre Knie tief, hielten sich mit einer Hand an der Ballettstange fest, während die andere Hand in einer geschmeidigen Bewegung einen unsichtbaren Halbkreis vom Bauch zur Seite zeichnete. Der Pianist, der in einer Ecke des Raumes hinter seinem gigantischen schwarzen Flügel saß, klimperte eine mir unbekannte klassische Melodie. Er untermalte dadurch die Tanzschritte, die in Form französischer Kommandos von Madame Rousseau wie aus einem Kanonenrohr gefeuert wurden und die einen scharfen Kontrast zur Gesamtsituation bildeten. Einerseits befanden wir uns mitten im Kurs des klassischen Balletts, welches das Sinnbild reiner Eleganz und einen fast schon märchenhaften Charme darstellte, andererseits lief Madame Rousseau wie ein Drill Sergeant bei der Army auf und ab, musterte uns mit Adleraugen und schien gedanklich wohl eher eine Armee von Robotern statt Tänzerinnen ausbilden zu wollen.
»Miss Gilbert, Sie sind mit Ihrem Kopf überall, nur nicht hier in meinem Kurs«, beschwerte sie sich. »Ich erwarte etwas mehr Konzentration«, ergänzte sie scharf und ich blickte durch die große Spiegelfront in ihre Richtung, während ich mich bemühte, die Gedanken an eine balletttanzende Roboterarmee beiseitezuschieben. Ihre grünen Augen funkelten mich über den Rand ihrer filigranen goldenen Brille hinweg intensiv an und schienen mir stumm mitteilen zu wollen, dass sie nicht zufrieden mit dem war, was ich tat. Verbissen wandte ich den Blick wieder ab, starrte mein Abbild in der komplett verspiegelten Wand an und konnte keinen Unterschied zu den anderen Tänzerinnen erkennen. Meine Haltung war nahezu makellos, die Ausführung der Schritte taktgenau und sauber. Und wenn sie mich nicht so im Visier hätte, würde sie bemerken, dass einige der Tänzerinnen aus diesem Kurs den einfachen Weg wählten - statt Grand Pliés bloß einfache Pliés ausführten oder im Relevé auf die halbe statt auf die ganze Spitze gingen. Doch in dieser Gruppe aus perfekten Ballerinen, die aussahen wie einem Kinderbuch entsprungen und somit dem absoluten Klischee entsprachen, fiel ich auf wie ein Neonschild in der Dunkelheit, weshalb Madame Rousseau mich bereits seit Anbeginn dieses Kurses kritischer im Visier hatte als die restlichen Tänzerinnen. Mein rosa Haar war nicht piekfein in einen Dutt gebunden, sondern ruhte als unförmiges Vogelnest auf meinem Kopf. Unter dem langärmligen Body, den ich trug, zeichnete sich die schwarze Tinte der Tattoos ab, die meine Arme zierten, und auch unter der hellen Stumpfhose blitzte Körperkunst auf, die nicht einmal ansatzweise dem Klischee einer makellosen Ballerina entsprach.
»Abschließend eine Arabesque Penché und eine Révérence«, teilte sie uns mit stark französischem Akzent mit und setzte ihren energischen Gang von links nach rechts fort, während wir den letzten Tanzschritt ausführten. Fast schien es mir, als wolle sie mich absichtlich testen, um mich im Anschluss kritisieren zu können. Ich spürte, wie mein Standbein zu zittern begann, als ich im Takt der Musik und den anderen Tänzerinnen den Oberkörper tiefer beugte, beide Arme nach oben und unten ausgestreckt, und das Spielbein mit den Zehenspitzen Richtung Decke immer höher führte. Dabei lag mein gesamtes Körpergewicht auf dem winzigen Punkt meiner Zehenspitzen und je länger wir die Position hielten, desto mehr Schmerzen flammten in meinem Standbein auf.
»Miss Gilbert, wo zum Teufel ist Ihre Körperspannung? Sie knicken in der Hüfte ein.«
Ich presste die Lippen aufeinander, hielt die Position für einen letzten Atemzug, ganz darauf bedacht, meine Hüften zu stabilisieren und den Schmerz auszublenden, und kam anschließend weniger galant zu den letzten Takten des Klaviers zurück auf beide Beine.
»Révérance, Miss Gilbert«, erinnerte mich Madame Rousseau beinahe tadelnd, sodass mein Geduldsfaden, der über die letzten zwei Stunden hinweg immer fadenscheiniger geworden war, letztendlich komplett riss.
»Verzeihung, Madame.« Ich verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln und führte einen geradezu lächerlichen, altertümlichen Hofknicks aus.
Sofort schwoll das Getuschel meiner Kommilitoninnen an und ich löste meinen Knicks eleganter als meine Arabesque auf. Jetzt hatte sie wenigstens einen Grund, mich zu hassen.
Madame Rousseau musterte mich mit solch einem empörten Blick, dass ich für einen kurzen Moment fast glaubte, sie würde mich in einem hohen Bogen aus dem Ballettsaal werfen. Doch sie schüttelte bloß missbilligend mit dem Kopf und ließ ihre Augen abschätzig von oben bis unten über meine Person gleiten.
»Wirklich sehr amüsant. Vielleicht sollten Sie Ihre Albernheiten lieber im Schauspielkurs fortsetzen anstatt hier in meinem Unterricht. Womöglich sind Sie dort besser aufgehoben«, rügte sie mich und mein Hochgefühl verebbte innerhalb weniger Millisekunden.
»Wie bitte?«, hakte ich vollkommen vor den Kopf gestoßen nach und spürte die stechenden Blicke der anderen Mädchen in meinem Rücken. Keine von ihnen schien auch nur ansatzweise auf den Gedanken zu kommen, den Saal zu verlassen. Ganz im Gegenteil. Sie blieben an Ort und Stelle stehen, lauschten gebannt dem Gespräch und suhlten sich zufrieden in dem Gefühl der wachsenden Unsicherheit, die ich ausstrahlte.
»Sie haben mich schon verstanden, Miss Gilbert«, sprach sie gelassen, aber mit einer gewissen Härte in ihrer Stimme, weiter. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das Zeug zur Tänzerin haben. Das Aussehen fehlt Ihnen bereits«, merkte sie an und um diese Aussage zu untermalen, ließ sie ihren Blick betont langsam von meinem unordentlichen, auseinanderfallenden Dutt zu den Tattoos gleiten. »Außerdem haben Sie eine unsaubere Ausführung«, stach sie weiter auf mein schrumpfendes Selbstbewusstsein ein. »Sie sind schwach. Und Schwäche kann ich in diesem Kurs nicht gebrauchen.«
Jedes Wort fühlte sich wie ein Fausthieb in meine Magengrube an und ich wich zurück, in der Hoffnung, ihren vernichtenden Worten entkommen zu können.
Ich öffnete den Mund. Wollte etwas zu meiner eigenen Verteidigung sagen. Etwas, das sie nicht in Rage versetzen würde. Doch ich ließ bloß ungefilterte Worte das Tageslicht erblicken.
»Das ist nicht wahr, Madame, und das wissen Sie genauso gut wie ich«, begann ich und ignorierte das kleine Stimmchen in meinem Hinterkopf, welches mich anflehte, den Mund zu halten, wenn ich mich nicht noch mehr in die Schusslinie ihrer knallharten Kritik stellen wollte. »Ich habe genauso viel Talent wie jede andere Tänzerin in diesem Raum, sonst würde ich nicht hier stehen. Ich glaube —«
»Wissen Sie, was ich glaube?«, unterbrach mich Madame Rousseau knapp. »Ich glaube, dass Sie eine verzerrte Wahrnehmung haben. Ihnen fehlt es an Leidenschaft, Miss Gilbert. Eine gute Tänzerin glänzt nicht nur mit einer fehlerlosen Technik. Sie muss Gefühl zeigen. Emotionen. Alles, was ich bei Ihnen sehe, ist Schwäche. Aus einem unerfindlichen Grund scheinen Sie nicht fähig zu sein, Emotionen in Ihren Tanz einfließen zu lassen, geschweige denn sie zu zeigen oder gar zu leben. Und wenn Sie das nicht schaffen, dann entspricht es sehr wohl der Wahrheit, dass Sie nicht das Zeug zur Tänzerin haben. Und jetzt gehen Sie«, feuerte Madame Rousseau hinterher und meine Beine kamen wie von allein in Bewegung. Ohne meinen Kommilitoninnen auch nur eines Blickes zu würdigen, lief ich zu meiner Tasche, hängte sie mir über die Schultern und drückte die schwere Flügeltür mit der Schulter auf.
Jetzt fang bloß nicht an zu weinen, Gilbert. Du bist nicht schwach. Du. Bist. Nicht. Schwach, flüsterte die innere Stimme in mir, während ich mit gesenktem Kopf durch die Galerie der Tanzfakultät lief. Bevor ich in die brütende Mittagshitze trat, ließ ich mich auf einer freien Bank neben ein paar leeren Schließfächern nieder. Die Tasche rutschte von meiner Schulter, landete mit einem dumpfen Laut auf dem zerschlissenen Parkettboden und fiel in sich zusammen. In etwa so wie meine Hoffnung, gut in diesem Kurs aufgenommen zu werden. Doch auch jetzt, fast drei Jahre später, behandelten sie mich wie eine Aussätzige, wie den schwarzen Schwan, der ich in den Augen meiner Kommilitoninnen bereits immer gewesen war. Mit fahrigen Handbewegungen schnürte ich die Bänder meiner Spitzenschuhe auf, zog sie aus und atmete auf, als der anhaltende Druck auf meine Knochen endlich ein Ende nahm. Schließlich holte ich meine abgetragenen Converse aus meiner Tasche, schlüpfte hinein und stand ächzend auf. Schon jetzt fühlten sich meine Muskeln wie durchgekochte Nudeln an und meine Füße schmerzten bei jedem noch so kleinen Schritt, den ich tat — Schmerz, ob er nun seelischer oder körperlicher Natur war, begleitete mich bereits seit Jahren und erinnerte mich daran, dass ich sehr wohl etwas fühlte.

Habits of my Heart || LESEPROBETahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon