Kapitel 1

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„Stockwerk 3, Stockwerk 3, Stockwerk 3...", wiederholte ich religiös, damit ich nicht vergessen würde, dass meine Wohnung tatsächlich in Stockwerk 3 lag. Schritt für Schritt, Stufe für Stufe hievte ich meinen letzten schweren Karton das Treppenhaus hinauf.

„Mal wieder typisch, dass genau heute der Aufzug kaputt ist", fluchte ich leise zwischen gequälten Atemzügen. Ich war vor einer guten Woche schon eingezogen, aber irgendwie fanden meine Eltern immer wieder einige meiner Besitztümer, die ich, chaotisch wie ich war, irgendwo in meinem Zimmer liegen lassen hatte. Beim Gedanken an das Bild von mir und meinem Freund Evan, das hinter meinem Nachttisch gelegen, sich dort festgekeilt hatte und dann aus meinem Gedächtnis verschwunden war, musste ich schmunzeln. Hätte mein Freund gewusst, dass ich die Existenz seines liebevollen Weihnachtsgeschenkes von letztem Jahr völlig vergessen hatte, wären wir sicher nicht mehr zusammen gewesen. Evan war schon ziemlich speziell. Die nachtragendste Persönlichkeit, die ich jemals gekannt hatte, aber gleichzeitig auch impulsiv. Er war immer etwas sauer oder frustriert oder hing alten Fehlern nach, schaffte es aber immer, mir gegenüber eine sanfte Seele zu sein, die nur mein Bestes wollte. Er hatte mir davon abgeraten, alleine in eine Wohnung in der Nähe vom Campus zu ziehen für mein Kunststudium. Es sei zu gefährlich gewesen. Davor hatte er sich natürlich erst einmal für fünf Minuten darüber aufgeregt, dass ich ihn allein lassen würde. Wenn ich ehrlich war, verstand ich nicht so genau, warum er das für so riskant hielt. Klar, ich könnte mich auf der Treppe langmachen, wenn ich schwere Kartons schleppte, die mir die Sicht auf die Stufen versperrten. Oder ich könnte ausgeraubt werden und niemand würde mir helfen, aber welcher Dieb würde schon diese mörderischen drei Stockwerke hinauf kraxeln, nur um eine arme Studentin noch ärmer zu machen? Ich hatte mich die letzten drei Wochen fast ausschließlich von Fertignahrung ernährt, weil ich mir sonst die Wohnung nicht hätte leisten können. Jetzt hatte ich aber endlich die Zusage für einen besser bezahlten Job bekommen. Nächsten Monat würde ich nach der ersten Bezahlung erst einmal einkaufen gehen und zur Feier des Tages ein Stückchen fertigen Kuchen mit meinem Freund teilen.

Ich war so sehr in die Gedanken an nächsten Monat vertieft, dass ich fast mein Stockwerk verpasste. „Stockwerk 3" stand neben dem Treppenabsatz an einem Schild, das ich schon immer für unglaublich unnötig gehalten hatte. Zählen könnten die Bewohner wohl noch selbst.

„Stockwerk 3!" Agil drehte ich mich um und versuchte, diese Peinlichkeit möglichst elegant zu verschleiern. Ich setzte mit einem Krachen die Kartons auf dem Boden ab, bevor ich mich erinnerte, dass die Waren darin wertvoll und wahrscheinlich auch ziemlich fragil waren. Ich suchte und fand meinen Schlüssel, stopfte ihn ins Schlüsselloch und schwang die Tür auf. Ja, es sah noch genau so aus wie vor drei Stunden, als ich die Wohnung verlassen hatte. Keine Einbrecher. Schnell setzte ich den Karton auf dem Tisch ab, streifte Schuhe und Jacke ab und setzte mich auf einen Stuhl, um langsam und bedächtig Schicht für Schicht die Box auszupacken. Ganz oben hatte ich meine Handtasche hingeworfen, darunter stapelten sich Klamotten, die ich noch ganz hinten im Schrank gelagert hatte, bei dieser Gelegenheit aber mitnehmen wollte, auf einer beträchtlichen Schicht Bücher und dem Bild von mir und meinem Freund. Der Reihe nach verstaute ich erst meine Kleidung fein säuberlich auf der Lehne meines Sofas, nahm dann das Bild heraus und strich nachdenklich über den etwas demolierten Eichenrahmen.

„Ach, Evan. Evan Brooks. Wie bist du überhaupt in mein Leben gekommen? Und wie werde ich dich wieder los?", dachte ich kichernd. Dabei war ich mir ganz im Klaren, dass der letzte Satz kein Witz war. Aber den Gedanken kehrte ich schnell beiseite, darüber wollte ich im Moment nicht nachdenken. Ich stellte das Bild auf meinen Wohnzimmertisch, der sich praktischerweise in Reichweite meiner Arme befand, und kramte durch die vielen mehr und minder dicken Bücher am Boden des Kartons. Einige davon hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gelesen. Vielleicht war es an der Zeit, sie wegzugeben. Aber eines der Bücher war ganz neu, zumindest für mich.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 17, 2021 ⏰

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