1. Kapitel

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Gerade saß ich an meinem Schreibtisch, las mir zum hundertsten Mal den Rechenweg der Aufgabe zu den linearen Gleichungen durch und versuchte anhand meiner eigenen Rechnung nachzuvollziehen, was ich falsch gemacht hatte, als mich Rihanna mit meinem Lieblingslied „Wild" aus der Blase gefüllt mit Mathematik herausholte.
Ich nahm den Anruf entgegen: „Greta?", fragte ich zur Begrüßung.
„Die Frau ist komplett durchgedreht", kam es seufzend aus meinem Handy.
„Ich frage Jonathan, ob er mich fährt – gib mir fünf Minuten und ich bin da", sagte ich und legte auf.
Sofort beschleunigte sich mein Puls vor Freude und ich spürte, wie mir das Adrenalin durch die Adern fuhr. Unwillkürlich musste ich grinsen. Wenn abends mein Telefon klingelte, war es so gut wie immer Greta, die sich wegen ihrer Mutter abreagieren musste.
Ohne anzuklopfen polterte ich in das Zimmer meines großen Bruders. Wütend sah er von seinem Handy hoch. „Spinnst du? Schon mal etwas von anklopfen gehört? Du weißt schon, dass ist das, wenn man seine Hand zur Faust ballt und dann sachte gegen die Tür ..."
Weiter kam er nicht, weil ich ihn schon unterbrochen hatte, ehe er sich in Rage reden konnte.
„Ich weiß, was anklopfen ist, Jonathan. Aber es ist wichtig! Du musst mich bitte schnell zu Greta fahren!" Ich sah ihn mit großen Augen an.
„Das sind zehn Minuten zu Fuß – lauf' doch hin. Dafür vergeude ich kein Benzin. Oder frag Mama." Er schaute wieder auf sein Handy. Für ihn war das Gespräch hier beendet.
„Seit du ein Auto hast, bist du so arrogant geworden", fauchte ich und wollte gerade die Tür zu knallen, als er einlenkte.
„Von mir aus fahre ich dich. Aber nur zu Greta und nicht weiter! Und du fragst Mama um Erlaubnis", fügte er noch schnell hinzu.
„Ich wusste, ich habe den besten Bruder der Welt", grinste ich und hüpfte ins Wohnzimmer zu meinen Eltern. „Wir fahren kurz zu Greta!", verkündete ich.
„Alles gut, Schatz, mach ruhig – viel Spaß und grüß' Sybille von mir!"
„Ist das denn okay? Ich meine, es ist schon nach zehn Uhr und morgen ist Schule..." fragte ich.
„Du bist alt genug, wir vertrauen dir!" Meine Mutter senkte ihren Blick wieder auf ihr Buch.
Leise schnaubte ich. Natürlich gab es wieder keinen Einspruch oder eine Mahnung oder eine andere Grenze.
Ich zog mir die Schuhe an und hüpfte zu die Stufen zu unserer Auffahrt hinunter, wo Jonathan bereits den Motor seines roten Mazdas gestartet hatte.
Laut ausatmend ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen und sah meinen älteren Bruder erwartungsvoll an. Er schaute auch mich an.
„Fahr", rief ich schrill. „Alles okay?", er sah mir tief in die Augen. Ich hätte doch laufen sollen, da wäre ich wirklich schneller gewesen.
„Ich hab es mir doch anders überlegt, laufen ist gut für den Kreislauf. Wir sehen uns später!" Eilig schlüpfte ich aus dem Auto und schlug die Tür zu, ehe Jonathan noch etwas erwidern konnte. Ich joggte los und ließ bald schon die Allee, die zu unserem Haus führte, hinter mir. Die Sonne ging gerade erst unter und für einen Frühlingsabend war es noch sehr warm.
Als ich unzählige Häuser später endlich an dem Mehrfamilienhaus ankam, in dem Greta seit sechs Monaten wohnte, hörte ich schon Türen knallen und sah Gretas Mutter über dem Balkongeländer hinuntergebeugt etwas auf die Straße schreien. Wenige Augenblicke später kam Greta schnellen Schrittes zu mir geflitzt und zog mich in eine hastige Umarmung. „Können wir los?" Hektisch sah sie sich um, als hätte sie Angst, dass ihre Mutter doch noch hinter ihr hergelaufen kommen könnte.
Grinsend drückte ich ihr einen Airpod in die Hand und schaltete die Lautstärke auf einhundert Prozent. „Wie immer?" Sie nickte stumm. Ich wählte auf dem Handy unseren liebsten Rihanna Song „Wild" aus und wir rannten los.
Wir liefen den Weg zurück, den ich gekommen war, vorbei an unserem Haus und durch einen kleinen Wald. Gretas lange blonde Haare flogen ihr immer wieder ins Gesicht und sie hatte Mühe, auf dem Weg zu bleiben. Meine schulterlangen dunklen Haare hatte ich wohlwissend in einen Zopf nach hinten gesperrt. Mit dem Ende des dritten Durchlaufs von „Wild" kamen wir an unserem Ziel an. Der große Baum auf einem kleinen Hügel wirkte so vertraut, als hätte er nur auf uns gewartet. Keuchend ließen wir uns auf dem noch warmen Gras nieder und lachten. Ich wusste nicht, was so lustig war, aber ich musste dennoch laut lachen.
Meine Freundin lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. „Danke fürs Abholen", lachte sie keuchend.
„Immer doch", grinste ich. „Was war dieses Mal los?", wollte ich wissen und legte mich zu ihr.
„Ach, das Übliche: Sybille kam genervt von der Arbeit und meckerte an allem herum, woran man herummeckern kann: Warum meine Noten so schlecht sind, wie meine Frisur aussieht und dass ich endlich mal etwas mit mir anfangen und über die Zukunft nachdenken soll. Typisch Eltern halt", seufzte sie.
„Typisch Sybille meinst du wohl eher", murrte ich.
„Hm? Was hast du gesagt?", sie hatte mir nicht richtig zugehört.
„Nichts, nichts, alles gut. Ich hab einfach nur manchmal das Gefühl, dass es meinen Eltern nicht so wichtig ist, was mit mir ist."
„Warum? Deine Eltern sind doch cool! Sie erlauben dir so viel und ihr hattet noch nie wirklich Streit!" Sie hatte sich aufgerichtet und schaute verträumt den Hügel hinunter.
„Wollte Jonathan dich nicht fahren?", fiel ihr plötzlich ein.
„Wollte ist gut gesagt – musste. Aber dann hat er den Mund aufgemacht und das war zu viel", lachte ich spöttisch.
„Ich hätte gern einen großen Bruder", murmelte sie. „Dann müsste ich Sybille nicht allein ertragen und hätte jemanden der zu mir hält". Das dachte sie als Einzelkind. Im wahren Leben ist ein großer Bruder lange nicht so toll, wie man denkt. Früher als Kinder haben wir uns immer geprügelt, weswegen weiß ich nicht mehr so genau. Jonathan hat mir immer meine Kabelkopfhörer weggenommen oder sie durchgeschnitten, weil er dachte, dass es funktioniert, wenn dann jeder einen Kopfhörer hat. Was ich aber dafür umso besser weiß, ist, dass meine Eltern sich selbst da nie wirklich präsent gezeigt haben, da sie auf einen antiautoritären Erziehungsstil schwören. Keine Ahnung was damit genau gemeint ist – ich glaube, das ist so ein Erwachsenen–Ding. Wenn wir mal eine Strafe bekommen haben, dann nur etwas Harmloses wie Teller abwaschen. Trotz der Prügeleien haben wir Kinder immer zusammengehalten und viel erlebt. Als Jonathan gerade siebzehn geworden war, nahmen er und seine Freunde mich und Greta auf unseren ersten Drink mit – da waren wir gerade mal vierzehn. Und seit dem Tag waren Greta und ich unzertrennlich, der Beginn unserer Freundschaft, die mit diesem Geheimnis begann, weil wir wussten, dass unsere Eltern und vor allem Jonathan uns umbringen würden, wenn wir es ihnen erzählten. Mittlerweile war Jonathan neunzehn und wir sechzehn und wir haben nie wieder getrunken, bis Gretas Vater letztes Jahr auszog. Damit hat sich alles geändert und damit meine ich nicht nur Gretas und Sybilles Umzug, sondern dass Greta und ich uns verändert haben.
Aber jetzt machte Jonathan Abitur und hatte somit genug Prüfungsstress, also weniger Zeit für mich.
„Hey, du sagtest doch, du willst dich ablenken, richtig?", grinste ich.
Greta sah mich schief von der Seite an. „Die Frage ist, ob wir die gleiche Definition von ablenken haben. Und das denke ich nicht, Helga." Ebenfalls grinsend legte sie ihren Kopf auf meine Schulter.
„Wir haben so lange nichts Verrücktes mehr gemacht – das letzte Mal mit vierzehn als wir mit Jonathan heimlich getrunken haben", stachelte ich hartnäckig weiter.
„Wir sind soeben vor meiner Mutter weggelaufen, ich finde das schon ziemlich verrückt", erwiderte die Blondine.
„Das ist doch mittlerweile zur Alltäglichkeit geworden. Komm schon, Greta, das wird lustig, versprochen!", bettelte ich weiter. „Sei kein Feigling!" Ich sah sie mit einem durchbohrenden Blick an und sie starrte zurück. Es folgte ungefähr eine Minute Blickkontakt ohne Blinzeln, bis Greta es nicht mehr aushielt und nachgab.
„Dann zeig mir deine verrückte und ablenkende Idee", spottete sie und zog mich hoch.
Kichernd rannten wir den Hügel hinunter, bis wir zur nächsten Tankstelle kamen.
„Wow, eine Tankstelle – wie spannend und ablenkend!", rief Greta und verdrehte übertrieben die Augen.
„Blöde Kuh, der Spaß kommt noch!" Zur Strafe landete mein Ellenbogen sanft aber mahnend in ihren Rippen.
„Aua!", heulte sie theatralisch auf.
„So, Lektion eins: Spaß haben mit Helga beginnt jetzt. Hast du nicht auch Lust, deine Alkoholverträglichkeit zu testen?", triumphierte ich und klopfte mir innerlich schon für die tolle Idee auf die Schulter.
„Ja, aber normales Bier ist langweilig und wir sind erst sechzehn und bekommen nichts anderes, du Genie", warf meine beste Freundin ein.
„Wer sagt denn dass wir an die Kasse gehen?", grinste ich schelmisch.
„Du... du willst sie klauen? Bist du verrückt? Wenn wir erwischt werden..."
„Werden wir schon nicht, wenn du dich jetzt entspannst und so tust, als wäre es ein ganz normaler Abend und wir wären immer hier", verdrehte ich genervt die Augen und senkte die Stimme. Das weiß doch echt jeder!
„Okay, von mir aus. Dann lass uns aber eine Wette abschließen, damit es immerhin eine Challenge ist: Wer den teureren Alkohol mitbringt hat gewonnen!" Provozierend zog sie eine Augenbraue hoch und sah mich herausfordernd an. „Diese Einstellung gefällt mir viel besser!" Ich gab ihr ein Highfive.
„Wir treffen uns in dreißig Minuten wieder am Baum, abgemacht?", flüsterte Greta aufgeregt. Sie ging vor und ich ging fünf Minuten später hinterher. Ich grüßte den Kassenwart mit einem knappen Nicken und einem freundlichen Lächeln. Langsam schlenderte ich durch die Regale und ging selbstsicher zu dem Kühlschrank mit den alkoholischen Getränken. Ich drehte eine Bierflasche um, um die Prozentzahl zu sehen und drehte sie gelangweilt wieder zurück. Dasselbe tat ich mit drei weiteren Flaschen. Der Kassenwart würdigte mich keines Blickes, also ging ich zu den hochprozentigen Spirituosen. Nichts Spannendes. Zu meinem Glück entdeckte ich ganz hinten noch ein paar Flaschen Berliner Luft, die wahrscheinlich zurück ins Lager sollten. Ich schaute zum Kassenwart, der mich jetzt gelangweilt anschaute. Ich ging zurück zu den normalen Bierflaschen und tat wieder so, als würde ich mir dien Inhaltsstoffe und die Prozente anschauen. Als er weg schaute, nutzte ich meine Chance und ging hastig zu den Flaschen und steckte mir eine unter mein Shirt und richtete mich auf. Selbstbewusst ging ich zur Tür und rief: „Tschüss, schönen Feierabend!" Der Kassenwart schaute gelangweilt zu mir und brummte etwas Unverständliches. Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass in den Türen kein Alarm eingebaut war. Mein Herz pochte und meine Hände in den Taschen meines Pullovers waren nass. Ich setzte einen Fuß aus der Tür und dann den anderen.

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⏰ Last updated: Sep 22, 2021 ⏰

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