Im Kampf gegen die schwarzen Schatten in seiner Brust ließ die Hand des Herrschers von der Uniform des Chorleiters ab und schloss sich stattdessen um eine Falte seines eigenen Mantels, während er sich mit seinem gesamten Körpergewicht gegen den erstarkenden Sturmwind lehnte. Hätten die Schöpfer unter den Bergen nur ein wenig mehr Kraft in den Windstoß gegeben, nur einen größeren Atemzug aus den Öffnungen der Berggrenze ausgestoßen, so hätte sich der Rabenkönig mit den Flügeln seines Familiennamens von den Wirbeln davontragen lassen können. Aber er blieb am Boden. An die Felsen seiner Festung gefesselt. Mit einer Schuld, die er sich selbst nicht verzeihen würde.

In einem Anflug von Trotz gegen die Mächte des Schicksals verzogen sich Laurins Lippen zu einer schmalen Linie und hinderten ihn nur auf diese Weise daran, gegen die fremden Götter der Lehma zu fluchen. Er glaubte, das Säuseln der Schöpfer in den Blättern der Bäume zu hören, glaubte, die fremden Götter würden ihm seinen Fehler wieder und wieder ans Ohr singen wollen. Er meinte, in den Böen aus dem Westen bereits den Geruch des verfluchten Landes wahrnehmen zu können.

Der König schmeckte das Unheil unmittelbar auf der Zunge. Ein Kitzeln und Prickeln und Zwirbeln der verbotenen Magerey.

Würzig. Abenteuerlich. So voller Geschichten.

Aber falsch wie ein atonaler Gesang.

Er schwor sich: Mochte ihn der Sturm in jener Nacht auch über die Klippen in die Schlucht zerren wollen, statt ihm Flügel zu schenken ... er würde sich mit Händen und Füßen gegen die Erinnerungen in den Mauern seiner Festung wehren.

»Der Donner mag wohl für einen Augenblick verstummt sein, aber der Regen wird nicht mehr lange auf sich warten lassen«, murmelte der größere Schatten mit einem besorgten Blick auf Laurin Rabenschwinge, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen. »Die Luft schmeckt förmlich nach einer knisternden Macht aus den Bergen und wird sich sicher nicht unserem guten Willen beugen wollen. Ich kenne die Stille. Den Wind, der flüstert, bevor er zu brüllen beginnt. Den Wind aus dem Westen, der zunächst nur an den Menschen knabbert, bevor er sie mit der Gewalt aller Schöpfer in Stücke zerreißen will. Das eine Blinzeln im Herzschlag des Kosmos, wenn die Schöpfer noch einen tiefen Atemzug vor der Zerstörung nehmen. Das ist nicht die natürliche Ordnung. Wir sollten ...«

Warin Sorrell unterbrach sich in seinen Ausführungen über vernünftiges Handeln, als sich der König an seiner Seite zu einer statuenhaften Version seines Selbst zu versteifen begann. Auch für einen Ewigen war die Veränderung im Gesichtsausdruck des Menschenmannes mehr als deutlich zu lesen und erweckte bei all den tanzenden Feuerlichtern den Eindruck, Laurin würde allein bei dem Gedanken an eine Rückkehr in die königlichen Räume binnen Sekunden um Jahrhunderte altern. Dreißig Jahre gelebten Lebens verwandelten sich im Bruchteil eines Herzschlages in die Jahrtausende der alten Lehma.

»Ich kann das nicht im Kartenzimmer besprechen«, beharrte Laurin – das Gesicht mit einem Male so blass wie das Antlitz des verschwundenen Mondes.

Und obgleich Warin die Ursache der Verwandlung erahnte, so versuchte er sich doch ein letztes Mal als Stimme der Vernunft.

»Laurin ... Meine Sänger sind vertrauenswürdig«, beteuerte er.

»Ich weiß.«

Die Antwort kam tonlos und kalt.

»Der Wind ist bereits zu stark«, bemerkte Warin erneut.

»Ich weiß.«

Aber auch die zweite Antwort zeigte sich jeder Beratung erhaben.

Warin Sorrell richtete seine Lehmaaugen in einer bedeutungsschwangeren Geste auf das Bein seines Freundes und versuchte, die Ausmaße seiner Schmerzen aus der angespannten Körperhaltung des Mannes zu lesen. Wären die Ereignisse der unheiligen Nacht nicht von derart überwältigender Natur gewesen, so hätte der Chorleiter vermutlich mit härteren Worten auf seiner Sorge um die Gesundheit des Königs beharrt.

Ein Herz aus Lehm und Glas - Rabenkrone [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt