01 (1.Teil)

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Trish fragte sich, wie Wasser aussah.

Man erzählte sich, es wäre klar und durchsichtig, manchmal auch blau. Andere Gerüchte sagten, es würde in den Farben des Feuers leuchten und bei Berührung züngelten einem angeblich Flammen aus dem Mund. Fast jedes Mal, wenn Trish die unruhigen Wellen betrachtete, wie sie gegen die Mauer schlugen und an ihnen brachen, fragte sie sich, ob sie es nicht ausprobieren sollte. Einfach die Kräfte in ihrem Körper sammeln, um so weit wie möglich zu springen. Wenn die Mehrheit die Wahrheit sagte und die Brühe ihr die Haut von den Knochen ätzte, hatte sie nichts verloren. Es gab nichts, das sie vermissen würde.

Nein, das ist eine Lüge, musste Trish sich eingestehen, während ihr Blick zum Horizont schweifte. Ihr Leben hatte zwar keinen Sinn für sich selbst, aber sie wusste, dass jeder Tote ein Verlust für die Siedlung war. In den meisten Momenten kümmerte sie selbst dieser Gedanke nicht, aber sie wusste, dass sie damit auch ihren Bruder zurücklassen würde. Und Kell war der einzige, der ihr noch etwas bedeutete.

Das Meer toste tief unter Trish und sie begann wieder, es zu beobachten wie sie es beinahe jeden Abend tat. Der Schaum, der auf den dunklen Wellen thronte, schimmerte violett, manchmal auch gelb, und spritze bei dem Aufprall gegen die Mauer in alle Richtungen. Trish zuckte nicht mehr zusammen, sie wusste, dass die Wand zu hoch war, als dass die Brühe ihre Füße berühren könnte.

Es roch fürchterlich, eine Mischung aus fauliger Süße und einem stechend scharfen Geruch, der ihr in die Nase biss. Aber sie war es gewohnt und deswegen störte sie sich nicht mehr daran und beobachtete lieber, wie die Sonne sich hinter der Wand aus Staub und Nebel dem Boden entgegenneigte.

Erst vor wenigen Tagen hatte einer der Siedler – Tarik – behauptet, früher wären die Menschen durch das Wasser geschwommen. Das hieß, sie waren mit dem ganzen Körper eingetaucht und hatten sich hindurchbewegt. Trish hatte bei seinen Worten nur gelacht und ihn einen hoffnungslosen Fall genannt. Tarik hatte schon immer zu viel Fantasie gehabt, aber mit seinen Geschichten zauberte er den anderen wenigstens ab und an ein Lächeln auf das Gesicht.

Und ein Lächeln war sehr selten, das hatte Trish schon früh begriffen.

Trish sah erneut hinunter auf das graue Meer und versuchte sich vorzustellen, darin zu schwimmen. Ein lächerlicher Gedanke. Es würde keine Minute vergehen, bis sich ihre Haut vom Körper gelöst oder die Gifte ihre Schleimhäute zerfressen hätten. Und doch musste es ein unbeschreibliches Gefühl sein, vollständig von Flüssigkeit umgeben zu sein, sie zwischen den Fingern, auf den Lidern und in den Haaren zu spüren. Kühl und sauber.

„Fische", flüsterte Trish, teste den Klang des Wortes und sprach es mehrmals hintereinander aus. Sie wusste nicht, ob es stimmte, dass es einmal Fische gegeben hatte, aber insgeheim sehnte sie sich danach, dass es so war. Denn dann bestand vielleicht die winzige Chance, dass immer noch ein paar existierten und sie sie eines Tages sehen könnte. Sie sollten glänzende, schlanke Körper mit dünnen Fortsätzen haben und flink durch das Wasser huschen.

„Schlag dir diesen Unsinn aus dem Kopf!", hatte ihr Vater ihr befohlen und sie geschlagen, weil sie sich in Tagträumen verloren hatte statt zu arbeiten. Und er hatte Recht gehabt. Doch wenn Trish am Abend auf die Mauer kletterte und die Wellen beobachtete, schlichen sich die Träume immer wieder in ihren Kopf.

„Hier bist du also."

Trish ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken und drehte sich gelassen um. Selbst wenn ein hinterlistiger Mörder hinter ihr darauf wartete, sie zu erdrosseln, um ein hungriges Maul weniger stopfen zu müssen, hätte es sie nicht gekümmert. Vielleicht hätte sie ihm sogar gedankt.

Aber es war kein Mörder, der sich an das dunkelgraue Geländer lehnte und ein schiefes Lächeln auf den Lippen trug.

„Kell!", rief Trish aus und stemmte sich auf die Beine. Ihr Bruder breitete seine Arme aus und drückte Trish an seine Brust. Sie genoss die Wärme, die sein Körper ausstrahlte und sog seinen Geruch in sich auf – Erde, Schweiß und etwas Neues, das sie nicht zuordnen konnte.

Das letzte Lied der ErdeWhere stories live. Discover now