Was nicht in eine Tasche passt

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Es war dunkel, als sie sich schließlich auf den Heimweg machte. Durchnässt. Zitternd.
Nicht nur vor Kälte, sondern vorallem dem was ihnen bevorstände. Was würde jetzt passieren?
In all den Jahren hatte Mila nur ein einziges Mal ihr Geheimnis in Gefahr gebracht. Sie war noch klein gewesen und unbedacht, aber Keelan war furchtbar wütend geworden.
Seine sonst so sanften Hände donnerten auf die Tischplatte und er fragte sie immer wieder, was sie sich dabei gedacht hätte. Natürlich schwieg sie. Wie sie es damals immer tat.
Mit maskenhaften Gesichtszügen, paralysiert von ihrer Angst, saß sie da und hörte zu.
An jenem Tag war sie überzeugt er würde sie ins Waisenhaus zurückbringen.
Also versteckte sie sich in dem Kasten der großen Pendeluhr, die dort im Keller herumstand, seit sie ihn zum ersten Mal ehrfürchtig staunend betreten hatte und hoffte, betete, dass er sie nicht fand.
Wenn er sie nicht fand, konnte er sie nicht fortschicken.
Mila schob die Erinnerung beiseite. Irgendwann hatte sie der Hunger eben herausgezwungen.
Was nützte das jetzt? Damals war es nur eine Kleinigkeit gewesen, an die sie sich nicht einmal mehr erinnern konnte. Sie waren damit davongekommen.
Würden sie jetzt auch solches Glück haben?
Vor der Tür ihrer Hütte hielt sie inne. Wie sehr wünschte sie, sie könnte sich noch immer im Uhrenkasten verstecken und dort ausharren bis die Welt sie vergaß. Bis jede Gefahr vorüberzog.
Unglücklicherweise war sie irgendwann zu groß dafür geworden.
Mit einem freundlichen Quitschen schwang die Tür vor ihr auf. Keelan stand im Türrahmen, die Stirn besorgt in vertraute Falten gelegt. Hinter ihm prasselte ein warmes Feuer im Kamin.
Wie immer hatte er mit dem zu Bett gehen auf sie gewartet.
„Wo warst du denn so lang? Setz dich ins Warme. Ich hol dir was trockenes."
Es dauerte nicht lang, da kam er wieder – in der einen Hand trockene Kleider, in der anderen einen Kessel mit Wasser, den er jetzt über das Feuer hängte. Während er aus dem Schrank den Beutel mit Kräutern herausfischte, den Maggie ihnen zum Frühlingsanfang grummelnd überlassen hatte, warf er ihr einen verärgerten Seitenblick zu. „Du wolltest längst zurück sein."
Sie nickte und kämpfte gegen den immer größer werdenden Kloß in ihrem Hals. Ihre Fingern kneteten den Kleiderhaufen in ihrer Hand, klammerten sich in den Stoff.
Endlich hatte er den Beutel erwischt und tat eine kinderhandvoll in das zu Kochen beginnende Wasser.
Sie spürte seinen Blick auf ihr. Beunruhigt. Besorgt. „Was ist los?"
Da brach es aus heraus. „Ich habe eine Konstruktionszeichnung verloren."
Dann war es still bis auf das leise Zischen des Wasserkessels und das Knistern der verbrennenden Holzscheite. Sein Gesicht verlor an Farbe und zum vielleicht ersten Mal empfand Mila die Stille zwischen ihnen unangehnem. Fürchtete, dass sie den Sturm in die gemütliche Kammer eingeladen hatte.
„Zieh dich um. Ich will nicht, dass du krank wirst.", sagte er schließlich und ging erneut zu dem Schrank hinüber. Er klang nicht wütend. Immerhin.
Sie lockerte die Hand, die sich in die Kleidung geklammert hatte und zwang sich sie aufzufalten.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, kam er mit zwei Tassen und schöpfte Tee aus dem Kessel. Er reichte ihr eine. „Vorsicht. Heiß."
Und immernoch prasselte das Feuer und der Wasserkessel summte. Draußen dagegen hielt der Regen an, tobte wild mit dem Wind als Kameraden. Sie pustete auf den Tee und ihr Atem war zittrig dabei.
Er war herrlich warm in ihren kalten Händen.
„Wir können nicht hierbleiben." Seine Stimme war ruhig und fest, doch sie konnte die Traurigkeit dahinter hören. Sie stellte den Tee beiseite. „Bitte, Kee."
Es war das einzige Zuhause, dass sie je gehabt hatte. Das einzige, an dass sie sich erinnern konnte.
„Gibt es keine andere Möglichkeit?"
Trotz dem Mitgefühl in seinen Augen blieb er stumm. Keine andere Möglichkeit.
Und es war ihre Schuld.
Wie konnte sie jetzt widersprechen, wenn sie auch sein Leben mit ihrer Nachlässigkeit in Gefahr gebracht hatte?
„Pack deine Sachen, Mila." Die Worte hallten in ihr wieder.
Das alles gehörte ja zu ihr. Das prasselnde Feuer und die knarrenden Fensterläden. Ihre Lichtung. Maggies Laune, die bitterer sein konnte, als ihre Kräuter. Diese Hütte, mit den Kerben in der Wand, dort wo Keelan sie gemessen hatte. Der Keller. Der Uhrenkasten.
Wie sollte sie das in ihre Tasche packen? Und so wie das alles zu ihr gehörte, gehörte sie zu ihm. Hierher.
Sie konnten doch nicht einfach fortgehen?
Kee jedoch war mehr Zuhause als alles andere. Wenn er ging dann würde, nein, dann musste sie es auch tun. Es gab keine andere Möglichkeit. Keine. Andere. Möglichkeit.
Ihr Atem ging unmerklich schneller. Auf einmal erschien die kleine, behagliche Kammer viel zu eng um sie. Das Knistern zu laut, der Regen ganz unwirklich vor der Tür. Sie verschwammen zu einem lautem, schrillen Rauschen in ihren Ohren. Irgendwie so surreal. Was war mit ihr? Wurde sie verrückt oder war sie es schon?
Sie kniff die Augen zusammen, damit die Welt wieder ins Lot kam, doch es nützte nichts.
Nein, nicht jetzt. Nicht heute. Reiß dich zusammen, Mila!
Aber die Gedanken kamen hoch, die in der Tiefe schlummerten, wie Staub der sich schon lange angesammelt hatte und letztlich das Getriebe verkeilt.
Gedanken an diese fremden Menschen, an einem fremden Ort, an dem sie nicht wusste, wie die Fensterläden klingen und wo die guten Verstecke liegen. Menschen, die sie nicht einschätzen konnte, mit fremden Stimmen und fremden Gesichtern, die erwartungsvoll starrend auf Antworten warteten.
Und warteten. Mit Augen, die sich schmerzhaft in sie bohrten und in denen sich ihre Gedanken spiegeln, während sie schließlich beschließen, was sie ist. Zu nichts zu gebrauchen.
Ihr eigener Herzschlag pulsierte in ihren Ohren, so laut, dass er das Rauschen mühelos übertönte. Er ging schnell, zu schnell. Starb sie dieses Mal? Ja, sie starb. So fühlte es sich an.
Gut. Immerhin starb sie dann hier. In ihrer Hütte, zwischen dem alten Kessel, der Dellen hatte, von dem einen Mal als er ihr heruntergefallen war und dem Duft von Maggies Kräutern in der Luft.
Das half. Sie spürte, wie es langsam vorüberging. Die Panik lockerte ihren Griff.
Keelans Blick traf ihren. Er musterte sie aus Augen, die ihr wärmer schienen, als der Tee, den sie eben noch in der Hand gehalten hatte. Sie griff danach. Das war gut. Etwas zum festhalten.
Leise zählte sie die Sekunden. Eins, Zwei, drei, vier, fünf. Die Oberfläche der Flüssigkeit schwappte aufgeregt umher, drohte überzulaufen. Sechs, sieben, acht, neun, zehn. Ihr Atem ging langsamer und die Wellen glätteten sich. Sie nahm einen Schluck.
Wieder war da das Gefühl von seinem Blick das ihre Haut kitzelte, geduldig und warm. Endlich erwiderte sie ihn.
„Bitte, Kee. Lass uns noch ein paar Tage warten. Ich bring das in Ordnung."
Selbst in ihren eigenen Ohren klang das hohl. Was sollte sie schon in Ordnung bringen?
Der Zettel war verschwunden und sie hatte keine Ahnung, wo sie ihn noch suchen sollte.
Trotzdem. Es war doch ihr zuhause.

Die UhrmacherinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt