Nur zur Sicherheit zeichnete Alvadee noch die Schleierrune auf den Türrahmen. Sie sah wie ein wallendes Tuch aus und würde den Gelehrten vormachen, dass hier kein Monster hauste, dass es hier nichts gab, was von Interesse sein könnte.

Alvadee zeichnete beide Runen mehrmals auf den Türrahmen, fing das abfallende Pulver auf und sah dabei zu, wie der Goldstaub in Verbindung mit dem Kalk reagierte und einen Zauber um den Eingang legte. Selbst, wenn der Rahmen zerstört werden würde, würde die Macht weiterhin bestehen. Doch so, wie Fleischrunen eine begrenzte Zeit besaßen, währten auch die aus dieser speziellen Kreide und Goldstaub nicht von Dauer.

Eine Nacht.

Alvadee konnte die Gelehrten in den meisten Fällen nur für eine einzige Nacht abhalten, danach musste sie sich sputen, alle Runen zu erneuern. Und wenn sie ein neues Monster fand, dann musste sie da geeignete anbringen. Je mehr Monster sie einsperren und verstecken wollte, desto länger wurden ihre Rundgänge. Alvadee fürchtete sich vor der Nacht, in der sie entscheiden musste, welche Monster sie zur Gelehrtenjagd freigeben wollte – welche den wenigsten Schaden anrichten würden.

Ein Knurren drang an ihre Ohren und trug einen modrigen Geruch mit sich, der in ihrer Nase stach. Alvadee wich einen Schritt zurück, stolperte und fiel beinahe neben ihrer Tasche auf den Steinboden. Durch das milchige Fenster hindurch, das in drei Segmente aufgeteilt war, erkannte sie die dunkle, unförmige Silhouette des Runenmonsters, das dieses Haus in seinen Besitz genommen hatte.

Ein äußerst gefährliches Monster, hallte die Stimme ihres Vaters laut durch ihren Kopf, als würde er neben ihr stehen. Seine Rune ist unfassbar mächtig, Alvadee. Sie darf niemals in die Hände der Gelehrten gelangen. Sie könnten damit Fürchterliches anstellen.

Kälte füllte die Luft um Alvadee herum. Der Gestank nach vermodertem Fleisch wurde immer stärker, dass sie würgen musste. Schnell verstaute Alvadee das kleine Papier mit dem wertvollen Kreidestaub in einem ledernen Säckchen, das sie fest verschloss und packte die Runenkreide zurück in ihr Medaillon, versteckte es dann wieder unter ihre Bluse. Sie atmete ein paar Mal tief ein und machte sie dann daran, auch die Fenster und Hausecken mit den Runen zu bestücken. Es war eine langwierige und anstrengende Arbeit und immer drang dieser seltsame Geruch an ihre Nase. Er erinnerte sie an die Nacht, an ihre Gänge durch die Straßen von Mhernyk. Nachdem sie das Haus umrundet hatte. suchte in ihrer Tasche, während sie in eine Gasse einbog und diese entlang schritt, nach der Karte, die ihr Vater ihr vor seinem Ableben gegeben hatte.

Hier sind alle wichtigen Monster eingezeichnet, mein Kind, hatte er noch auf seinem Totenbett geflüstert, während Alvadee die Karte beinahe gewaltsam aus seinen verkrampften Fingern hatte lösen müssen. Es gibt Monster, die musst du um jeden Preis einsperren. Vor allem das der Ewigen Nacht und das der Erinnerungen. Lass nicht zu, dass die Gelehrten ihren Hass zurückerlangen, den sie durch ihre Gabe verloren haben. Lass nicht zu, dass sich irgendjemand erinnert. Eine einzelne Erinnerung kann den Untergang der Welt bedeuten.

Die warnenden Worte wiegten sie auch weiterhin in den Schlaf. Alvadee wisperte sie immer vor sich her, wenn der Tag abrach und sie vor der Sonne fliehen musste, bis die Finsternis ihre kalten Finger um sie schloss und in einen traumlosen Schlaf verfrachtete, bis Solars wieder schwand. Worte, die ihr alles bedeuteten, denn es waren die letzten ihres Vaters gewesen.

Nein, nicht ganz die letzten.

Ich bin stolz auf dich. Und ich liebe dich.

Alvadee schluckte und blieb stehen. Sie war am Ende der Gasse angekommen und nutzte das Licht einer metallenen Laterne, in dessen Innern eine Kerze unruhig hin und her flackerte, um in dem gelben Schein ihr nächstes Ziel auszumachen. Sie fuhr mit dem Finger auf den verblassenden, grauen Linien entlang und suchte den Punkt, an dem sie stand, als sie hinter sich ein schweres Keuchen hörte.

Die Kirche des reinen Blutes (Runen aus Fleisch und Kreide 01)Where stories live. Discover now