Ignoranz

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Diesmal hatten sie sich zur Beerdigung zusammengefunden. Während die anderen seiner Familie in die Kirche gingen, stand er noch draußen und rauchte. Er blickte in den Himmel, träumte, hörte die Vögel zwitschern, fragte sich, was Schönheit ist, nahm einen letzten Zug und schnippste den Stummel auf den Sandboden, ehe er die abgequalmte Kippe mit seinem Schuh zertrat. Er sah hinunter, rümpfte die Nase, betrauerte einen zerquetschten Marienkäfer genau wie seine Schuhe, die neu gewesen waren. Schließlich ging er hinein. Er hatte heute schwarz angehabt, das, was für eine Beerdigung üblich gewesen war und so, wie ihn die anderen kannten. Neben einer seiner Cousinen und seinem Vater leuchteten die Kerzen. Helle Lichter, die jeder fokussierte, standen im Raum. Er setzte sich auf die Holzbank, wo schon die Kinder seiner Tante saßen und blickte auf die Holzverzierungen in der Kirche. Er stellte fest, dass es ein Barockbau gewesen war, konnte ihn genau datieren und blickte noch einmal auf sich hinab. » Wer weiß, was ich heute getragen hätte, wenn «, dachte er, bevor Freunde seiner Oma seine Cousinen begrüßten und einen kurzen SmallTalk führten.

Irgendwo saß sein Vater. Sie führten ein schmerzliches Verhältnis. Er war der geschlagene Sohn und sein Vater war ein standhafter Mann gewesen. Wirklich bedeutsam war es nicht gewesen; das, was vorgefallen war. Bedeutung hatte für ihn schon lange nichts mehr gehabt. Wieder wollte er rauchen. Jetzt war es zu spät. Er blickte nach links. Ein blauer Himmel zierte den Tag, der doch eigentlich so traurig sein sollte. Er war emotionslos. Er blickte zurück. Neben ihm begannen einige zu weinen und er saß nur dort, als wäre er nicht wirklich anwesend. Es war wie immer gewesen. Eine Urne stand vor ihm und füllte dem Raum. Er saß darin und war doch beinahe unsichtbar.

Als es vorbei war, standen sie zusammen. Er rauchte und sagte kein Wort. » Wie läuft dein Studium «, fragten sie. » Irgendwas mit Medien, nicht? « Er nickte unbeteiligt. Er war immer sehr zerstörerisch, wenn sie zusammenkamen; zerstörerisch zu sich selbst. Er versuchte sich abzulenken, dachte an die Texte, die er schrieb, an das Geschehen, an alles, an sich, verfluchte es, küsste und begehrte es, schrie innerlich: » Scheiße, verdammt «, aber sagte kein Wort. Es hätte keiner gehört. Sie waren bereits gegangen. Er ging hinterher, um den Anschluss nicht zu verpassen, auch wenn er sie kaum mehr sehen konnte. Dann blickte er zurück und erinnerte sich an die Tage, an denen er neben der Kirche im Sonnenschein frische Erdbeeren und warme Mohnbrötchen gegessen hatte. Er liebte sie. Er liebte es. Er liebte Illusionen, das, was andere nicht sehen konnten. Er verabschiedete sich: » Auf Wiedersehen? «, fragte er, ohne sich wirklich verabschieden zu wollen, weil er nicht wusste, was dieser Schnitt zu bedeuten hatte. War es die Endlichkeit, die vor ihm stand, die Zigarette in der Hand? Die Vorstellung? Die Oma? Welche Vorstellung überhaupt? » Als ob es so einfach wäre «, dachte er sich und ging.

Er kam zwar nicht an, aber irgendwann erreichte er den großen Gutshof. Er sonnte sich und versteckte seine müden Augen hinter einer teuren Sonnenbrille. Er war schick gekleidet und das Outfit passte zu ihm. Sie kannten ihn so. Er kannte sich so auch. Es war ein Teil von ihm; der andere weilte woanders. Er sang leise, summte, steckte die Hände in die Hosentaschen, wippte auf und ab, » Genoss das Leben «, wenn ihn jemand fragte. » Irgendwann kommt sie wieder «, versicherte er sich, um sich eben doch nicht zu verabschieden. » Irgendwann kommt all das wieder; wenn ich zu Hause bin, wenn ich mich nur richtig erinnere, wenn ich mich nicht loslasse. «. Er war ein Meister der Depersonalisierung gewesen, aber es juckte ihn nicht. Es juckte ihn gar nichts, denn alles, was ihn betroffen gemacht hätte, hätte ihn unwiderruflich zerstört. Er war das Resulat dreiundzwanzigjähriger Ignoranz gewesen. Er war der hinter den Lichtern. Bevor er den anderen wieder folgte, erinnerte er sich an ihren Gang, an die Waschküche, den Schlüssel, der dort verstaut war, all die schönen Erinnerungen, die nun immer mehr zu verschwinden begannen. » Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen «, dachte er und war sich bewusst, dass alles für die Endlichkeit bestimmt war. Das so beruhigende Gefühl, die Endlichkeit, dass alles einmal enden wird, diesmal fraß es ihn auf; diesmal gab es ihm keinen Halt, keine Hoffnung, kein Licht in der Dunkelheit.

IgnoranzWhere stories live. Discover now