Prolog

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Es war der bisher düsterste Tag eines lange Jahre währenden Krieges. König Aurion stand dem Feind von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Salix hatte ihm das Schwert mit den langen borkigen Ästen, die dem Nymphenkönig wie verfilztes Haar vom Kopf wuchsen, aus der Hand geschlagen. Aurion wusste, dass er ohne Waffe keine Chance gegen seinen übernatürlichen Widersacher hatte. Doch, auch wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte sich zu wehren, er hätte sie nicht ergriffen. Der Menschenkönig war des Kampfes müde geworden. Seit Monaten kämpfte sein Heer gegen die Clans der Schatten, den Völkern übernatürlicher Wesen, die seine Vorfahren einst in die Dunkelheit verbannt hatten. Ein Fehler, denn das hatte sie nur stärker gemacht. Seit Aurion denken konnte, brannte nun schon ein blutiger Streit zwischen seinem Volk und allem Übernatürlichem in seinem Königreich. Schon die Annalen in der großen Bibliothek von Videam erzählten von dem Machtkampf. Er wünschte sich, jetzt dort zu sein. Dort, wo er von eichenen Regalen und schnörkeligen Deckenmalereien umgeben und der Krieg zwischen pergamentenen Seiten und goldenen Lettern eingeschlossen war.

Die Erinnerung an sein Zuhause machte den Gedanken an den nahenden Tod erträglicher. Denn nichts anderes würde ihn erwarten, wenn Salix ihn erst mit seiner Giftranke verwundet hatte, die gefährlich wild zwischen den Schulterblättern des Nymphenkönigs hervorwucherte. An jenen Giftzauber hatte Aurion schon zahlreiche Männer verloren. Doch Salix überließ ihn nicht so schnell dem Tod. Er wollte ihn wie einen Gefangenen langsam und qualvoll foltern. „Ich kann dich auch ganz ohne Magie töten, Aurion", spuckte Salix dem König hämisch entgegen, „Wir unterscheiden uns nicht sonderlich von euch Menschen, wir sind nur eine bessere Version von euch." Salix' bemooste Haut schimmerte hellgrün vor Euphorie, als er eine lange bewachsene Kopfranke zum Schlag hob. Dann peitschte er Aurion mit gebündelter Kraft einen sauberen Schnitt unter beide Knie.

Aurions Beine knickten ein und er stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden. Mit einem Keuchen landete er in einer Pfütze aus Blut. Salix sagte etwas zu ihm, brüllte ihm schadenfreudig zu, er solle sich erheben. Doch Aurion wollte nichts mehr hören. Er wollte nur ein letztes Mal in die Augen seiner tapferen Krieger schauen, bevor er starb. Mit letzter Kraft drehte er seinen Kopf zur Schlacht. Doch er fand nicht, was er suchte. In den Augen seiner Krieger war der Siegeswille erloschen. Müdigkeit hatte sich in ihnen breit gemacht. Fremdgesteuert wie Marionetten schienen sie sich auf ihre Feinde zuzubewegen. Aber auch die Werwölfe des gegnerischen Canisclans schnappten ziellos in der Luft. Die Vampire der Kolakas hatten ihren Blutdurst schon vor Monaten gestillt und die Zauber der Nymphen hielten nur noch Sekunden.

Salix' messerscharfe Ranken strichen derweil mit einer beängstigenden Sanftheit über Aurions regungslosen Körper. Dem Nymphenkönig lief ein Schauder über den Rücken, seine Giftranke zuckte vor Blutdurst. Er genoss die Folter. „Du hast die Qual verdient, Aurion. Du sollst mit deinen letzten Atemzügen erleben, wie es ist, unterdrückt zu werden", stieß Salix zornig hervor. Aurion wollte etwas erwidern, sich für den Krieg gegen das Übernatürliche rechtfertigen, dafür dass es so unnatürlich sei und eine Gefahr für Natur und Leben. Dass war es zumindest, was sein Vater ihm eingebläut hatte und woran er bis heute geglaubt hatte. Doch Aurion steckten die Worte im Halse fest, als er sah, woher das Blut kam, in dem er regungslos lag. Er folgte dem Rinnsal mit seinen Augen. Es floss aus den Wunden zweier Körper zusammen. Der eine war ein Krieger seines Heeres. Doch der andere trug die Rüstung seines Feindes. Es war ein junger Werwolf. Das Blut der beiden unterschied sich nicht. Es wurde eins. Nein, es war eins. Aurion kam dieser Krieg plötzlich unendlich dumm vor. Vielleicht hatte Salix recht. Vielleicht war alles Übernatürliches nicht viel anders als sein Volk. Warum bekämpften sie die Clans der Schatten, obwohl sie doch für die gleiche Sache auf dem Schlachtfeld standen: Das Königreich, das sie seit Monaten mit Blut getränkt hatten.

Doch es war zu spät. Aurion konnte seine plötzliche Erkenntnis nicht mehr mitteilen. Salix hatte seine Giftranke erhoben, um dem Menschenkönig den letzten Schnitt zu verpassen. Aurion griff nach einer weißen Lilie, die aus der blutigen Pfütze zu wachsen schien. So unschuldig aus dem Blut zweier Wesen, die sich für ihre Unterschiedlichkeit bekämpften, obwohl sie sich doch bis aufs Blut glichen. Er drückte die Lilie fest in seiner Hand und wünschte sich, dass sein Tod eine bessere Ära für das Königreich einleiten würde. „Stirb", schrie Salix hasserfüllt. Dann spürte Aurion die Ranke an seinem Hals. Er kniff die Augen vor Angst zusammen, in dem Wissen gleich zu sterben. Doch dann schrie Salix schmerzerfüllt auf und statt dem tödlichen Gift spürte Aurion, wie jemand neben ihm zu Boden sank. Es war der Nymphenkönig. Überrascht suchte Aurion den mutigen Krieger, der Salix niedergestreckt hatte und blickte in die Augen seines Sohnes. Damian hielt die abgetrennten Ranken von Salix in seinen Händen. „Ich werde dich nicht töten Salix, aber du wirst dich für deine Taten verantworten müssen", sagte er zittrig. Er wirkte erschöpft und erleichtert. Vergeblich suchte Aurion Zorn und Mordlust in Damians Augen. In dem Moment erinnerte sich der Menschenkönig an die weiße Lilie, die er noch immer in seiner Hand hielt, und dachte an den Wunsch, den er ihr im Angesicht des Todes zugeflüstert hatte. Nun verstand er: Er hatte seinen Sohn immer für zu weich erklärt, um einmal in seine Fußstapfen treten zu können. Doch es war Schicksal gewesen, dass Damian ihn im Moment der Erkenntnis nach Gleichheit und Frieden rettete. Mit gebrechlicher Stimme hauchte Aurion seinem Sohn entgegen: „Du bist die Zukunft, Damian. Du bist das Königreich." Dann sank der Menschenkönig in die Bewusstlosigkeit. 

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⏰ Last updated: May 20, 2021 ⏰

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Eine Lilie für das KönigreichWhere stories live. Discover now