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Tick. Tack.
Die Zeit lief, und sie schien immer schneller zu laufen. Sie lief davon. Erst eine Minute, dann fünf, letztendlich eine Stunde.
Eine Stunde verging in der Marie-Louise neue Wörter auf den Bildschirm projizierte, sie anstarrte und wieder löschte. Nach einer ganzen Stunde saß sie nun genau so dort wie zuvor, bloß das Weinglas hatte sich geleert. Enttäuscht lehnte sie sich zurück, gegen die Rückenlehne der alten Ledercouch, die dabei leicht quietschte.
Sie konnte nicht verstehen, warum sie nicht mehr schreiben konnte. Kein Wort schien ihr mehr zu gefallen, sie ließen sich mit keinen anderen Wörtern zu Sätzen verbinden und insgesamt schienen die Buchstaben einfach keinen Sinn mehr zu ergeben.
Ähnlich wie ihr Leben. Was sollte sie noch tun, wenn sie nichts mehr hatte, niemanden der sie liebte, selbst das Schreiben, ihre große Leidenschaft konnte ihr nicht mehr helfen.
Krampfhaft versuchte sie sich in ihr früheres „Ich" hineinzuversetzen. Wie sie viele Nächte ihren Mann vertröstet hatte, weil ein neuer Bestseller in ihrem Kopf nur darauf wartete niedergeschrieben zu werden. Stunde um Stunde saß sie an dem Schreibtisch. Ihre Finger schmerzten von den alten, schweren Tasten der Schreibmaschine, ihr Rücken klagte ebenfalls über ihre gebeugte Haltung, aber nichts konnte sie davon abhalten weiter zu schreiben
Wo war diese Frau nun?
Anscheinend existierte sie nicht mehr. Zumindest erkannte Marie-Louise sich selbst nicht wieder. Ihr war bewusst, dass irgendwo tief in ihrem Inneren die alte Marie-Louise schlummerte, doch zu dem jetzigen Zeitpunkt schienen diese Erinnerungen eher wie ein Traum oder gar eine Wunschvorstellung. Sie konnte sich kaum mehr mit sich selbst identifizieren. Und wenn sie das schon nicht konnte, wer war sie dann überhaupt?
Laut seufzend schüttelte sie den Kopf, als könnte sie ihre Gedanken dadurch direkt abschütteln und sie würden verschwinden, was sie natürlich nicht taten und griff erneut nach der Weinflasche um ihr Glas aufzufüllen.
Sie kam sich vor, wie ein Teenager in der Pubertät. Wahrscheinlich beschäftigte sich Joshua gerade mit solchen Problemen, aber sie war eine erwachsene Frau. Sie sollte nicht über so etwas nachdenken. Sie hatte wichtigere Probleme, als sich mit ihrer Identität und der Vergangenheit zu beschäftigen.
Dennoch grübelte sie weiter. Wie hatte sie es nur geschafft, früher ihre ganze Inspiration zu bekommen und in ihre Leidenschaft zu stecken?
In der nächsten Sekunde fiel es ihr ein. Ein Gefühl des Tatendrangs machte sich in ihrem eingefallenen Körper breit und sie fühlte sich plötzlich von einem Energieschub überrollt.
Der Park.
Wie oft hatte sie früher in diesem Park gesessen, oder war darin herum gelaufen, hatte andere Menschen beobachtet, das Leben gespürt.
Das war es was ihr fehlte.
Sie hatte sich in ihrer Wohnung verbarrikadiert und damit jegliche Chance an Inspiration ausgeschlossen.
Beinahe von allein erhob sich ihr Körper von der Couch und die müden Beine trugen sie in die Küche.
Kaffee.
Würde sie nun einen ernsthaften, neuen Versuch starten, würde sie diesen definitiv nicht ohne eine gute Ladung Koffein meistern können.
Es war fast so, als hätte sich ihr Geist von der Gegenwart verabschiedet. Ihr Körper arbeitete und trug sie den Weg zum Park, doch ihre Gedanken schwebten in der Zukunft. Voller Hoffnung bald wieder ein Buch schreiben zu können, kreierte sie zukünftige Szenarien in ihrem Kopf.
Wie sie das Buch schrieb, wie stolz Joshua war, dass sie endlich einen Laptop dafür benutzt hatte, wie ihre Schwester ihr gratulierte und das Buch in ihr eigenes Bücherregal stellte, wie ihr Mann zurück zu ihr kam und sich für seine Affäre entschuldigte. Immer weiter driftete sie in ihre Gedankenwelt ab, bis sie ein schweres atmen und gedämpfte Schritte hörte. Diese Geräusche zogen sie zurück in die Realität und sie war bereit sämtliche Impressionen aufzunehmen um später über diese schreiben zu können.
Ein wenig enttäuscht stellte Marie-Louise fest, dass es sich lediglich um eine Joggerin handelte, die sie mit einem merkwürdigen Blick von oben nach unten musterte und angestrengt die Augenbrauen zusammen zog.
Irritiert blickte Marie-Louise an sich herunter und fand die Erklärung für den seltsamen Blick der Frau.
Sie hatte sich keinerlei Mühe gegeben sich zurecht zu machen, sondern hatte ihre Wohnung geradewegs verlassen. Sie trug einen dunkelblauen Bademantel und ausgelatschte Sneaker, die schon nach der Mülltonne riefen, in die sie augenscheinlich gehörten. Sogar den Kaffee hatte sie in eine gewöhnliche Tasse gefüllt anstelle eines "coffee-to-go"-Bechers, wie ihn die meisten Leute benutzten.
So wie sie in dem Park herumlief, befanden sich die meisten Leute höchstens in ihrem eigenen Garten oder auf ihrem Balkon, aber niemals in der Öffentlichkeit.
Ein wenig schmunzeln musste sie bei dem Gedanken schon. Was die Joggerin wohl über sie gedacht haben muss?
Zufrieden ließ sie sich auf einer Parkbank nieder und wartete.
Tick. Tack.
Wieder schien die Zeit von ihr wegzulaufen und es wurde immer dunkler. Kaum Menschen befanden sich mehr auf den Straßen und nach weiteren Minuten begannen sogar die Straßenlaternen zu brennen, weil es so spät geworden war.
Marie-Louises Hoffnung schwand.
Sie schien mit der Zeit zusammen weggelaufen zu sein, als wären sie alte Freunde gewesen und ein Feind ihr gegenüber.
Erst als nach langer Zeit niemand mehr vorbei kam und Marie-Louise einsehen musste, dass sie alleine in dem Park war, schaffte sie es von der Parkbank aufzustehen und wieder zurück zu ihrer Wohnung zu laufen.
Dieses mal jedoch in vollem Bewusstsein. Sie hatte Leute dort gesehen, aber irgendwas war dennoch anders. Ihre Besuche in der Vergangenheit schienen alle fröhlich und von lebensfrohen Menschen bedeckt, heute hatte sie bloß Ignoranz und Herabwürdigung in Form von Blicken erhalten.
Schleppend trug sie sich über den Bürgersteig und wartete an einer roten Ampel, obwohl keine Autos mehr fuhren. Nur ein einzelner Transporter eines Umzugsunternehmen schien es sehr eilig zu haben und raste an ihr vorbei.
Ja, zu einem Umzug hatte ihre Schwester ihr auch schon geraten, nachdem ihr Mann sich von ihr getrennt hatte, aber das wollte sie nicht. Sie konnte nicht plötzlich ihr gesamtes Leben verändern und außerdem war es gar nicht so leicht eine geeignete Wohnung zu finden. Daraufhin hatte sie ihr angeboten, als Überbrückung bei ihr einzuziehen, doch auch dieses Angebot lehnte Marie-Louise nicht gerade zögerlich ab. Dort einziehen und ihrer Schwester bei ihrem perfekten Leben zusehen, während sie sich Vorwürfe anhören durfte, dass sie ihr eigenes Leben nicht im Griff hatte, schienen ihr nicht so angenehm.
Niedergeschlagen griff sie nach dem Schlüssel in ihrer Jackentasche, als sie bemerkte, dass die schwere Haustür bereits weit offen stand. Sie dachte sich nichts dabei und ließ sie mit einem lauten Knall ins Schloss fallen bevor sie die Treppe nach oben zu ihrer Wohnung lief. Im vierten Stock wohnte sie und auf jeder Etage befanden sich zwei Wohnungen gegenüber.
Marie-Louise hatte nichts mit ihren Nachbarn zu tun, die meisten waren sowieso Rentner, die sie nie zu Gesicht bekam, aber was sollte sie daran schon auszusetzen haben, wenn sie selbst kaum die Wohnung verließ.
Den richtigen Schlüssel suchend stieg sie über die letzten Treppenstufen und richtete ihren Blick erst auf, als sie laute Stimmen aus der Wohnung nebenan hörte.
Die Wohnungstür stand offen und Umzugskisten standen herum.
,,Hey!"

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⏰ Недавно обновлено: May 19, 2021 ⏰

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