Wenn es Nacht wird

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Die Stille auf dem Land ist anders als die in der Stadt. Tiefer und gefährlicher. Man weiß, dass nichts da ist, aber diese Stille klingt, als wäre da etwas.

Ich schlafe schlecht, wenn ich auf dem Land bin. Die Dunkelheit ist satt und fett. Im Mondlicht sieht das Zimmer, in dem ich übernachte, fremd aus. Man darf nicht zu lange auf eine Stelle blicken, denn dann sieht man Gesichter. Und man hört Geräusche. Knistern, Knacken und Schaben.

Meine Mutter sagt, wenn es Nacht wird, setzt sich das Haus. Es atmet tief, streckt und reckt und entspannt sich. Die Holzbalken auf dem Dachboden knarren. Aber es sind nicht nur die Balken. Wenn man aufmerksam lauscht, hört man Schritte und geflüsterte Gespräche. Meine Mutter sagt, es sind nur die Nachbarn, die sich auf ihren Balkonen unterhalten. Ihre Stimmen hallen zwischen den Häusern.


Unser Dachboden hat mehrere Räume. In einem steht eine kaputte Toilette. Gegenüber der Toilette ist das Musikzimmer meines Vaters. Außerdem gibt es ein Gästezimmer, eine Rumpelkammer voller Koffer und eine Nische, in der die Kartons von PCs und Druckern stehen. Hinten in der Nische ist eine Tür mit einem Vorhängeschloss. Die Tür ist schmal und hat diese eklige gelbbraune Farbe, helle Eiche. Was dahinter liegt, weiß ich nicht.


Einmal, als ich ein Kind war, waren die nächtlichen Geräusche laut. Ich holte ein Küchenmesser und eine Taschenlampe und ging in den Keller, um nachzusehen. Aber es waren bloß die Meerschweinchen, die lärmten und quiekten.

Die Meerschweinchen sind schon lange tot. Die Geräusche sind noch da. Im Keller habe ich nachgesehen. Vielleicht ist es Zeit, auf dem Dachboden nachzusehen.

Der Hund hört die Geräusche auch. Manchmal kommt er nachts aus dem Wohnzimmer herauf, hechelt und fiept. Ich streichle sein gesträubtes weißes Fell und sage ihm, es ist nur das Haus, das sich zur Nacht setzt.


In dieser Nacht kommt der Hund und kratzt an meiner Tür. Ich lasse ihn hinein und streichle ihn. Er schnuppert an meiner ausgestreckten Hand und leckt die Handfläche. Er mag das Salz.
"Komm", sage ich, "wir gehen nachsehen."

Ich hole ein Messer und eine Taschenlampe und steige mit dem Hund auf den Dachboden. Die Treppe ganz nach oben ist hölzern und knarrt. Die Krallen des Hundes machen klickklack auf den Stufen. Ich schalte das Flurlicht an, aber die Nische bleibt dunkel. Ich leuchte mit der Taschenlampe hinein. Die schmale Tür steht halb offen, das Vorhängeschloss liegt auf dem Boden. Der Hund sträubt das Fell und knurrt. Es ist ein tiefes, vibrierendes Geräusch. Das Linoleum unter meinen nackten Füßen ist kalt. Ich gehe langsam auf die Tür zu, das Messer im Anschlag. Der Hund folgt mir nicht. Er drückt sich knurrend gegen die Flurwand hinter uns.


Ich öffne die Tür völlig und leuchte in den Raum dahinter. Der Strahl der Taschenlampe wandert über Glaswollplatten an der Dachschräge und splittrige Balken. Staub tanzt im Lichtkegel. In diesem Raum sind nicht einmal Spinnen. In diesem Raum ist etwas. Die Luft schmeckt verbraucht. Die Luft riecht nach Feuerzeuggas und Eiern und Staub. Ein leichter Windzug lässt meinen Schlafanzug flattern. Vorsichtig setze ich einen Fuß über die Schwelle. Der Holzboden dahinter ist wärmer als das Linoleum im Flur.

"Hallo?", sage ich, setze den zweiten Fuß hinüber. Die Tür schlägt hinter mir zu. Der Hund auf der anderen Seite tobt. Er bellt, winselt und kratzt an der Tür. Der Strahl der Taschenlampe trifft Staub, Boden, Glaswolle. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. Die Bohlen unter meinen Füßen pochen. Ich spüre, ich bin nicht allein in diesem Raum.


Meine Mutter sagt, wenn es Nacht wird, setzt sich das Haus.

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⏰ Last updated: Apr 08, 2021 ⏰

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