Kapitel 19 - Vivian

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Vivians PoV:
„Du wolltest dir doch irgendetwas wegen
meinen Träumen und dem verschwundenen Mädchen überlegen", sagte ich zu Karo, während wir gemeinsam die Brötchen aßen.
Karo verzog den Mund und erwiderte zögerlich: „Das habe ich auch. Und zwar habe ich gestern Abend mir vorschnell bei jemandem einen Termin geben lassen für heute. Der Termin ist nun für heute Nachmittag geplant, und da ich den jetzt nicht so dringend, wie ich gestern Abend in meiner Überforderung dachte, brache, habe ich mir überlegt, dass wir den ein wenig anders nutzen können. Das heißt, dass du mit mir dort hingehen wirst. Das einzige Problem ist, dass ich dir im besten Fall vorher etwas offenbaren muss, was ich angesichts der aktuellen Situation eher ungern tun würde."
„Komm doch einfach auf den Punkt verdammt noch mal Karo", dachte ich genervt, sprach es aber nicht laut aus.
Dieses Ganze drum herum drucksen brachte doch nun auch nichts mehr, wenn ich es doch so oder so erfahren musste.
Da ich allerdings wusste, dass Ungeduld bei Karo absolut gar nichts bringen würde, erwiderte ich ruhig und so geduldig wie möglich: „Natürlich will ich wissen, was du mir offenbaren musst, aber so wie ich dich kenne, rückst du damit eh nicht so schnelle raus, also frage ich dich als Erstes: Was für ein Termin ist das?"
Karo biss sich auf die Lippe und antwortete: „Ein Termin bei meiner Psychologin."
Die Worte sprudelten so schnell aus ihr heraus, dass ich beinahe Probleme dabei hatte, sie zu verstehen.

Ich war baff. Das könnte zumindest eine Erklärung für das Verschwinden ihrerseits gewesen sein, aber trotzdem gab es noch zwei große Fragezeichen in meinem Kopf.
„Also erstens: Seit wann gehst du zum Psychologen? Und zweitens: Warum?" , fragte ich sie, um ein wenig Licht ins Dunkle zu bringen.
Anstelle mir zu antworten, aß Karo etwas von ihrem Brötchen. Vermutlich, um ihre Antwort hinauszögern zu können. Während des Kauens wankte sie ein wenig mit dem Kopf hin und her, was für mich so aussah, als würde sie abwägen, was sie mir alles erzählen sollte und was nicht.
„Ähmm...", begann sie zögerlich. „Ich gehe dort noch nicht so lange hin. Erst seit ungefähr einem Monat. Es gab nämlich ein paar Ereignisse ... Gespräche ... ähhm ... Treffen, also Gespräche bei Treffen, die leider wieder dazu geführt hatten, dass ich erneute Flashbacks aus der schlimmen Zeit bei unseren Eltern bekommen habe. Dies hat mich psychisch sehr belastet und ich hatte vor allem Probleme beim Einschlafen, denn immer sobald ich meine Augen geschlossen habe, sah ich sie wieder mit erhobenen Fäusten bereit zum Zuschlagen vor mir stehen."
Sie holte tief Luft. Vermutlich, um sich eine wenig zu beruhigen, und biss erneut in ihr Brötchen.
Ich griff nach ihrer freien Hand und streichelte mit meinem Daumen sanft über ihren Handrücken, um ihr zu signalisieren, dass es okay war, auch mir gegenüber Schwäche zu zeigen. In all den Jahren, die wir zusammenlebten, hatte ich einfach gemerkt, wie schwer es ihr fällt, Schwäche zu zeigen. Ich wusste zwar noch nicht genau, warum, doch allmählich kam ich dahinter, was die Gründe dafür sein könnten. Meine Vermutung war, dass es was mit ihren wirklich unschönen Erlebnissen in der Vergangenheit und unsern Eltern zu tun hätte. Fragen, ob ich damit richtig lag, wollte ich sie dennoch nicht, da ich es ihr damit wahrscheinlich nicht gerade leichter gemacht hätte. Ganz im Gegenteil sogar. Ich hätte vermutlich alles nur noch viel schlimmer gemacht.
„Es ist okay", äußerte ich und drückte ihre Hand noch ein wenig fester. Was Besseres als „Es ist okay", viel mir leider nicht ein, auch wenn ich ihr lieber etwas anderes, mehr motivierender und stärkender gesagt hätte.Sie nickte zwar zustimmend, aber ich merkte, dass es kein ehrliches Nicken war.
Auf die Frage, wann denn der Termin an diesem Nachmittag sei, antwortete sie, dass er gegen 16 Uhr sei.

Nachdem wir mit Frühstück fertig waren, räumten wir gemeinsam den Tisch ab und ich verschwand mit Lucie in mein Zimmer, da ich Karo ein wenig Ruhe und Freiraum geben wollte, anstatt sie weiter mit Fragen zu löchern. Bis 16 Uhr war schließlich noch genug Zeit, um mir das, was sie mir mitzuteilen hatte, mitzuteilen.

Währen ich zeichnete, lag Lucie in meinem Bett und kaute auf den Ohren ihres Spielzeughasen. Da dies einen so schönen Anblick bot, machte ich ein Foto davon und zeichnete diese. Natürlich hätte ich auch Lucie so auch ohne Foto zeichnen können, aber insofern, dass ich mir nicht sicher sein konnte, dass Lucie solange dort liegen bleibe würde, diente das Foto einfach nur als Absicherung. Generell war es sowieso ein schönes Foto, weshalb es auch ruhig in meiner Fotogalerie verweilen konnte.

Gegen frühen Nachmittag klopfte es an meine Tür, woraufhin diese sich mit einem leisen Knatschen öffnete. Ich drehte mich in meinem Stuhl um. Karo, stand im Türrahmen und sagte nichts. Ich schaute sie erwartungsvoll an und wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich eine Augenbraue fragend hochgezogen. Auf diese Geste musste ich einfach verzichten, was nicht schlimm war, denn mein Blick reichte schon aus, um sie zum Sprechen zu bewegen.
„Ich wollte dich nur fragen, ob du lieber Kroketten oder Lasagne zum Mittag möchtest."
Sie log. Sie wollte eigentlich etwas anderes sagen. Das war ihr so deutlich anzumerken, dass das auch jedes kleine Kind begriffen hätte.
Ich sagte ihr, dass ich lieber Kroketten essen wollte und tat so, als hätte ich nicht gemerkt, dass sie mir eigentlich etwas anderes mitteilen wollte.

Während Karo das Essen zubereitete, gesellte ich mich neben Lucie auf mein Bett und scrollte ein wenig durch ein paar Social Media Plattformen. Es war nichts wirklich spannendes dabei, aber ein paar schöne Fotos und lustige Videos gab es schon.

Als das Essen fertig war, aßen wir gemeinsam und ich hoffte, das Karo mir nun endlich sagen würde, was sie mir noch sagen wollte, doch dies geschah leider nicht.
„Du wolltest mir noch etwas mitteilen vor dem Termin, Karo", sprach ich sie zögerlich darauf an, während wir gemeinsam den Tisch abräumten.
Karo biss sich nachdenklich auf die Lippe. Woher diese Angewohnheit von uns kommt, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass wir beide dies immer taten, wenn wir angestrengt über etwas nachdachten oder wir wütend waren und aufpassen mussten, dass uns nichts rausrutscht, dass alles nur noch schlimmer machen würde.
Als sie schließlich fertig mit Nachdenken war, erwiderte sie: „Ich erzähle es dir, wenn wir mit Lucie auf der Hundewiese sind. Dort suchen wir uns eine ruhige Bank und ich erzähl dir das, was du vor dem Termin wissen musst, während Lucie im Gebüsch schnüffelt."
Ich nickte, aber war nicht wirklich begeistert von der Idee. Ich begriff nicht, warum sie es mir nicht einfach sagen konnte.

The Girl in my headWo Geschichten leben. Entdecke jetzt