Er erklärte, dass der Sieger die Position des Alphas erlangen würde, der Verlierer die des Betas, da alle anderen Positionen schon entschieden waren. Dann befahl er ihnen, jeweils fünfzig Schritte rückwärts zu gehen; eine Sicherheitsmaßnahme, um nicht mit in den Kampf verwickelt zu werden. Nachdem sie beide ihre Position eingenommen hatten, eröffnete er den Kampf und zog sich zurück, um nicht in ihrer Reichweite zu stehen

Zum ersten Mal während eines Kampfes war sich Melanie unsicher. Sie hatte mit Zweikämpfen selten ein Problem, konnte auch ältere und vermeintlich stärkere Gegner oft durch ihre Geschwindigkeit und Präzision besiegen. John jedoch hatte deutlich mehr Erfahrung, trotz des geringen Altersunterschieds, und war ihr nicht nur in Stärke und Schnelligkeit überlegen, sondern auch undurchschaubar. Nicht umsonst war sein Vater selbst bei den Pratoren als erfahrenen und kampferprobten Werwölfen gefürchtet.

Er merkte ihre Unsicherheit und täuschte einen frontalen Angriff vor, sobald er auch nur ansatzweise in ihrer Reichweite war. Sie sprang geduckt zur Seite, und versuchte ihn seitlich anzugreifen, um ihm keine Möglichkeit geben, aus dem vorgetäuschten Angriff einen Vorteil zu ziehen. Doch John entzog sich sofort geschickt ihrer Reichweite, so schnell, dass Melanie ihm mit den Augen kaum folgen konnte. Sie hatte noch nie einen so schnellen Gegner erlebt. Bevor sie darauf reagieren konnte, griff er sie schräg von vorne an und erwischte ihre linke Schulter.

Meliorn verfolgte den Kampf besorgt. Er hatte gegen den Unsichtbaren gekämpft, er wusste also, was seine Zwillingsschwester erwartete Sein Blick kreuzte sich mit Lenas. Er las Unentschlossenheit in ihren Augen, die er nicht erwidern, doch verstehen konnte. Er stand fest hinter seiner Schwester, doch für Lena musste es schwer sein, dem Kampf zwischen ihrem Bruder und ihrer besten Freundin zu folgen.

Einige Minuten waren vergangen und Melanie etwas sicherer geworden. Nachdem John ihre linke Schulter erfolgreich attackiert hatte, versuchte er auch ihre rechte Schulter anzugreifen, was zwar nicht zu seinem Kampfstil passte, doch gerade dadurch unerwartet kam. Melanies Schulter war zwar inzwischen übersät von kleinen Kratzern und Bissen, doch eine weitere ernsthafte Verletzung konnte sie bisher abwehren. Er versuchte sie zu ermüden, denn an ihren Schultern konnte er keinen großen Schaden anrichten, vom Blutverlust abgesehen. Aufgrund seiner Schnelligkeit war er oft aus ihrer Reichweite, bevor sie einen Konterangriff starten konnte. John hatte zwar während der Jagd bisher kaum offensiv gekämpft, doch er bewies, dass dies nicht an mangelndem Können lag. Sie wusste, dass er andere, einfachere Techniken beherrschte, doch diese waren nichts, womit er in einem Duell angreifen würde. Sie war in Gedanken nur wenige Sekunden abgeschweift, doch die dadurch entstandene Lücke ihrer Verteidigung war Johns wachsamen Augen nicht entgangen. Sie konzentrierte sich verstärkt auf ihre rechte Schulter, da er sie kontinuierlich attackierte. Ihre linke, verletzte Schulter war hingegen in dem Moment völlig ungeschützt. John nutzte die günstige Gelegenheit. Er täuschte einen weiteren Angriff auf ihre rechte Schulter vor, nur um sich im letzten Augenblick zu ihrer verletzten linken Schulter zu wenden. Er war zwar nicht präzise genug, um sie umzustoßen, doch stark genug, um sie beide ins straucheln zu bringen, wobei sie sich voneinander entfernten. John fing sich schneller, und stürmte wieder auf sie zu. Staub wirbelte auf und umhüllte sie, als sie frontal zusammenstießen. Als der Staub sich legte, schien es, als wären ihre Rollen vertauscht worden. Johns Hals und seine Schulter war dunkelrot gefärbt, seine Haltung nicht mehr so aufrecht, wie zuvor. Melanie ging es jedoch nicht besser. Schwer atmend stand er da, seinen Kiefer hatten sich fest um Melanies Hals geschlossen. Sie hatte ihn zwar empfindlich verletzen können, doch trotzdem verloren, denn wäre es ein Duell gewesen, wäre sie jetzt tot. Erst als die Pratoren einschritten, ließ John sie los. Einer von ihnen begleitete ihn, vermutlich zur Krankenstation um seine Wunde zu nähen. Melanie blieb liegen. Durch die frühe Verletzung an ihrer linken Schulter hatte sie viel Blut verloren, was sich jetzt bemerkbar machte. Zwei Sanitäter kamen und legten sie auf eine provisorische Trage. Sie wurde ebenfalle in Richtung der separaten Notstation fortgebracht. Die anderen wurden auch wieder zurückgeschickt, jedoch nicht ohne die Gewissheit, dass keiner der beiden Rivalen in Lebensgefahr schwebte.

Als sie endlich vorgelassen wurden, konnten sie zunächst nur Melanie besuchen. Sie wusste, dass sie verloren hatte, doch sie schien sich damit abzufinden. Überraschend für ihren Zwillingsbruder, der ihr wildes Temperament kannte.

Die beiden erholten sich schnell von ihren Verletzungen. Bereits nach einer halben Woche wurden sie entlassen, allerdings mit der Empfehlung, sich noch einige Tage von jeglichen Kämpfen fernzuhalten. Sie zogen sich ohne weitere Auseinandersetzungen an ein kleines Areal am Rand des Jagdgebietes zurück. Jene 25, die nicht zum Stammteam gehören, schwärmten in die Umgebung aus, um zu jagen, aber auch, um das Gebiet gegen Eindringlinge zu verteidigen. Die vier waren mehr oder weniger die Anführer, das war klar, doch unter den anderen gab es keine klare Hierarchie. Sie schafften es irgendwie bis zum Ende der Jagd größere Kämpfe zu vermeiden, konnten dadurch jedoch ihr Gefolge nicht wirklich vergrößern. Insgesamt müssten ihnen vierzig Werwölfe folgen, um weiter aufzusteigen, da sie zu viert waren und die zweite Beta-Stufe zehn Untergebene pro Anführer erforderte.


MelanieWhere stories live. Discover now