Kapitel 3 - Die Wahrheit

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Tag 11, Versuch 37, Konfiguration 2.0.

Der Anzug, an dem Jade und Tony arbeiteten nahm immer mehr Form an, aber war trotzdessen noch weit von der Fertigstellung entfernt. Die beiden waren sich nach all den durchgearbeiteten Nächten, den gefühlt endlosen Pizza-Lieferungen und den Anzugs-Flugstunden mit deutlich verringerter Schubkraft immer näher gekommen und fast schon so etwas, wie Freunde. Jade verstand mehr und mehr, warum ihre Eltern Tony so bewundert hatten, doch fand nie den richtigen Moment, um ihm die Wahrheit zu sagen. Stattdessen genoss sie einfach voll und ganz die Zeit mit Tony, die ihr vom Schicksal geschenkt wurde. Immer wieder sagte sie sich still, dass sie ihm bald alles erzählen würde, doch zögerte es dann auf das Neue hinaus. Es lief gerade so gut und sie hatte Angst zu zerstören, was die beiden hatten.

Tony hatte voll und ganz akzeptiert, dass Jade intellektuell ziemlich gut mit ihm mithalten konnte und ihm eine große Hilfe bot, obwohl sie erst 15 war. Hin und wieder konnte er sich seine sarkastischen Sprüche bezüglich ihres jungen Alters nicht verkneifen, doch mit der Zeit entwickelte sich dies immer mehr zu einem liebevoll gemeinten Necken unter Freunden.

Eines Nachts startete Tony einen Flugversuch, bei dem er sich so weit in die Höhe begab, dass die Temperatur drastisch sank, sich eine Eisschicht um seinen Anzug bildete und sogar Jarvis, seine selbst entwickelte künstliche Intelligenz, ausfiel. Jade hatte das ganze beobachtet, allerdings war sie nicht annähernd so hoch geflogen, sondern befand sich nur knapp über den Hochhäusern der Stadt. Als sie aus der Ferne sah, dass Tony auf den Boden zu raste und nicht mehr fliegen konnte, überkam sie Panik. Gerade als sie losstürmen und ihn irgendwie retten wollte, setzten seine Schubdüsen erneut ein und er gewann an Höhe. Beide jubelten lautstark über ihren Erfolg. Der Anzug konnte fliegen! Das war ihr erster gemeinsamer, großer Durchbruch.

Jade hielt dies für den perfekten Zeitpunkt, um Tony das Geschenk zu geben, das sie für ihn vorbereitet hatte. Als sie zurück ins Labor gingen, kramte sie besagtes Geschenk aus ihrer Tasche und überreichte es Tony, der sie verwundert ansah. „Was ist das?", fragte er.

„Mach es einfach auf", drängte Jade und konnte kaum ihre Aufregung verstecken, während sie mit den Füßen auf und ab wippte.

Tony entfernte das Geschenkpapier und legte eine kleine Box aus Glas frei, in der sich die erste Miniaturausgabe des ARK-Reaktors befand, den er seit seiner Geiselnahme in der Brust trug, bis er ihn später auswechselte. Auf dem Gehäuse hatte Jade etwas eingravieren lassen.

„Proof that Tony Stark has a heart".

Tony las den Satz und hielt kurz inne. Dann warf er Jade einen liebevollen Blick zu. „Danke. Das ist... wirklich großartig." Man konnte dem Ton in seiner Stimme entnehmen, dass er dies wirklich ernst meinte. Er schaute erneut zu dem Geschenk, dann legte er es auf den Tisch, drehte sich dem jungen Mädchen neben ihm zu und zog sie in eine feste Umarmung.

Jade war absolut glücklich. Seine Reaktion war viel schöner, als sie es erwartet hatte. Sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal von jemandem umarmt wurde und genoss den Moment sehr.

Als Tony sich von ihr löste, räusperte er sich. „Hör zu, Jade, ich habe recherchiert... und nicht einen einzigen Hinweis darauf gefunden, dass deine Eltern von jemandem ermordet wurden. Vielleicht war es wirklich nur ein Unfall."

„Nein, das kann nicht sein", sagte Jade schnell und drehte Tony den Rücken zu, denn sie wollte nicht, dass er die Tränen in ihren Augen sah. Doch als er tröstend seine Hand auf ihre Schulter legte, wurde ihr bewusst, dass der richtige Zeitpunkt nun gekommen war.

„Ich war 9, als meine Eltern starben", begann sie zu erzählen und wandte sich wieder Tony zu, der ihr aufmerksam zuhörte. „Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl und war mir sicher, dass dort irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Also fing ich an mich zu informieren und eine Spur führte mich in eins deiner Gebäude, Tony. Ich brach dort ein. Wusste nicht, wonach ich suchte, aber dachte, dass es mir klar wird, sobald ich es gefunden habe. Allerdings wurde ich von drei Leuten mit Masken erwischt, die mich packten. Schätze, es waren Mitarbeiter. Habe nie ihre Gesichter gesehen. Sie fesselten mich an einen Laborstuhl und spritzen mir ein Narkosemittel. Ich hatte keine Chance gegen sie. Bevor ich einschlief, hörte ich noch, wie sie über ein Experiment redeten. Aus Menschen Waffen machen oder so. Ich weiß nicht, wie lange ich schlief, doch als ich aufwachte, stand einer dieser Männer neben mir, erzählte etwas von einer geglückten Operation. Ich war noch nicht ganz bei mir und alles, woran ich denken konnte, waren diese schrecklichen Rückenschmerzen. Dann ließ er mich allein und kam erst Stunden später zurück. Die ganze Zeit hatte ich versucht gegen diese Schmerzen anzukämpfen und meine Fesseln zu lösen. Ich hörte einen der Männer darüber reden, dass ich gefährlich sei, aber wusste nicht, was er damit meinte. Sie drohten mir und sagten, wenn ich irgendjemandem davon erzähle, dann würden sie dasselbe mit mir machen, wie mit meinen Eltern. Mich überkam Panik und ich wollte fliehen. Je größer meine Angst wurde, desto mehr Kraft spürte ich in meinem Körper. Ich wusste nicht, woher diese Kraft kam, aber ich schaffte es meine Fesseln zu zerreißen und war frei. Ich sprang von dem Laborstuhl und wollte rennen, doch dann fühlte ich, wie etwas aus meinem Rücken heraustrat und ich verlor den Boden unter den Füßen. Im ersten Moment erschrak ich total, doch dann wurde mir klar, dass ich fliege. Die Männer riefen mir hinterher und versuchten mich aufzuhalten, doch schon einen Moment später, atmete ich frische Luft ein. Ich war aus dem Gebäude entkommen und na ja... bis heute bin ich auf der Flucht vor diesen Menschen."

Unkontrollierte Tränen liefen über Jades Wangen, als sie sich an diesen schrecklichen Tag in ihrem Leben zurück erinnerte und sie senkte beschämt ihren Blick zu Boden. Doch dann griff Tony nach ihren Händen und drückte sie fest. Jade schaute auf und Tony blickte ihr tief in die Augen.

„Wir werden diese Männer finden. Sie werden ihre gerechte Strafe bekommen. Und ich werde nicht zulassen, dass dir jemals wieder irgendetwas zustößt. Hast du verstanden?", fragte er mit Nachdruck in der Stimme.

Jade fing an zu schluchzen und fiel Tony in die Arme, überwältigt davon, dass sie jemandem auf dieser Welt etwas bedeutete. Dass jemand sich für sie einsetzte und sie beschützen wollte. Dieses Gefühl hatte sie seit Jahren nicht mehr verspürt.

Tony strich ihr sanft über die Haare. „Irgendeine Idee, wie wir das Problem mit der Vereisung lösen können?" versuchte er sie von ihrer Trauer abzulenken. Und es funktionierte.

„Wir sollten zuerst die Metalle der Außenhülle neu berechnen", entgegnete sie, als sie sich aus der Umarmung löste. „Wie wäre es mit der Gold-Titanium-Legierung aus dem Seraphin-Aufklärungssatelliten?"

Tony sah Jade an, wie ein stolzer Vater seine Tochter ansah. „Gute Idee. Dann ist der Rumpf stabil bei konstantem Energie-Gewicht-Quotienten. Jarvis? Du hast's gehört, leg los."

Und dann machten sie sich wieder an die Arbeit.

„Hast du Lust auf eine Party?", fragte Tony aus dem Nichts, während sie auf das Ergebnis von Jarvis' Berechnungen warteten.

Jade war verwirrt. „Eine Party? Wovon redest du?"

„Na, eine Party", antwortete Tony, als würde das alles erklären. „Heute findet meine dritte Benefizgala für den Feuerwehr-Familien-Fonds statt. Ich bin zwar nicht eingeladen, aber hey, es ist meine Party", erklärte er achselzuckend.

„Ich habe für so ein Event überhaupt nichts zum Anziehen", erwiderte Jade leise und fühlte sich unwohl dabei, dies zugeben zu müssen.

„Irgendwas passendes wirst du doch sicher Zuhause haben."

„Ich habe ja nicht mal ein Zuhause, Tony", entgegnete Jade und wurde etwas wütend. Nicht wütend auf Tony, lediglich wütend über ihre Situation.

„Entschuldige, ich habe nicht nachgedacht", sagte Tony versöhnlich. „Ich habe dich noch nie gefragt, wo du wohnst. Verwandte? Freunde? Pflegefamilie?"

Jade war es sichtlich unangenehm darüber zu sprechen, doch wenn sie mit jemandem auf dieser Welt offen reden konnte, dann war es Tony. „Ich wohne in dem Waisenhaus die Straße runter. Verwandte habe ich nicht, Freunde auch nicht. Ich war in den letzten 6 Jahren bei drei Pflegefamilien, aber jedes Mal haben sie mich nach kurzer Zeit zurück ins Waisenhaus gebracht, weil sie der Meinung waren ich wäre anders und würde nicht in die Familie passen. Die meiste Zeit haue ich ab und lebe auf der Straße."

„Wieso? Gefällt es dir in dem Waisenhaus nicht?", fragte Tony.

„Nein." Jade stand auf und begann ziellos im Labor hin und her zu laufen. „Die anderen Kinder mögen mich wohl nicht. Sie spielen mir ständig Streiche, beleidigen mich, sagen ich sei anders."

„Weißt du, anders sein ist gut", sagte Tony und es trat ein kurzer Moment der Stille ein. „Ich habe ein Gästezimmer übrig. Ich denke, da schläft man besser, als auf einer Parkbank." Er lächelte Jade väterlich an und eine Welle der Zuneigung überkam sie. „Ich habe ein paar schicke Kleider oben, vielleicht passt dir eins davon."

„Wieso besitzt du Frauenkleider?", fragte Jade überrascht.

„Na ja, weißt du... weil... also ich...", druckste Tony herum.

„Oh mein Gott", unterbrach ihn Jade und rollte mit den Augen. „Du hast wirklich eine Sammlung an Kleidern, die deine One Night Stands hier vergessen haben und willst mir die andrehen?"

„Na ja, also... ja."

Jade überlegte. Sie wollte ungern Kleider irgendwelcher fremden Frauen anziehen. Doch offiziell mit Tony Stark auf eine Party zu gehen, anstatt immer nur in seinem Labor zu sitzen klang sehr verlockend. Sie stellte sich das Gefühl der Zugehörigkeit vor, das sie verspüren würde, wenn sie mit ihm bei diesem öffentlichen Event auftauchte.

„Okay, ich probier sie an."

I. IRON MANWhere stories live. Discover now