34. Kapitel: "Bist immer da für mich, wenn es für mich am schwersten ist."

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Meine Zigarette trete ich am Straßenrand aus, bevor ich meine Tasche auf dem Rücksitz abstelle und zu Vincent in den Wagen klettere. Auf der Beifahrerseite ist die Sitzheizung schon an, denn der April macht wie eh und je was er will. Es schneit.
Mein bester Freund wirkt zwar noch relativ müde, trotzdem lächelt er kurz, als er mich begrüßt. Ich bemerke den Kaffeebecher im Getränkehalter, der zumindest ansatzweise erklärt, weshalb Vincent, der sonst ein echter Morgenmuffel ist, nicht ganz so trist aus der Wäsche guckt, wie ich befürchtet habe.
„Morgen", erwidere ich seinen Gruß, nehme die Mütze ab, klappe den Sichtschutz runter und richte mithilfe des kleinen Spiegels meine Frisur einigermaßen.
„Siehst scheiße aus, gibt nicht viel zu retten", kommentiert Vincent es amüsiert.
„Ich fühl mich noch schlimmer, als ich aussehe", gebe ich offen zu. „Danke fürs Abholen", schiebe ich außerdem hinterher.
„Hab gehört, du zahlst die horrenden Gebühren dafür, dass mein Auto auf dem Parkplatz vom Flughafen übers Wochenende stehenbleiben kann."
„Ist doch besser, so muss uns keiner durch die Gegend kutschieren und wir bleiben vor etwaigen Fans in den Öffentlichen verschont", fasse ich zusammen, was hinter der Entscheidung steckt, dass er gerade hinterm Steuer sitzt und auf die Stadtautobahn rüberzieht.
„Arschloch", murmelt er, als ein Maserati an uns vorbeischießt.
„Drecksack", fluche ich mit ihm, wie es bei uns Tradition hat, und Vincent lacht kopfschüttelnd.
„Mann, Mann, Mann", murmelt er. „Erzähl endlich, Dag. Was machst du denn die ganze Zeit, Alter?", fragt er mich. Wir haben nur telefoniert bisher.
„Frauen vergraulen, mir mein Leben ruinieren", antworte ich und blicke aus dem Fenster. „Mit dir nach Paris fahren, um alles zu vergessen."
„Weiß Pari Bescheid, dass du und ich dort gemeinsam Urlaub machen?", will er wissen.
Das angespannte Telefonat mit ihr in der letzten Woche wird sofort wieder in meinem Kopf abgespult wie von einem alten Kassetten-Rekorder.
„Sie weiß es."

„Seid ihr noch immer in der Situation festgefahren? Ohne irgendeinen Ansatz, was jetzt aus euch wird?"
„Ja, sind wir. Es ist ja auch 'ne beschissene Situation, eine, in der man ruhig festgefahren sein darf, oder nicht?"
„Ihr dreht euch seit sechshundert Jahren im Kreis, Dag. An deiner Stelle hätte ich Zwerg Nase wahrscheinlich vor Ewigkeiten schon aufgegeben."
„Hättest du nicht", widerspreche ich ihm. „Ich liebe Pari wie du Charlotte liebst. Aufgeben ist keine Option. Das große Ganze zählt, es spielt keine Rolle, dass mich die Sache zwischen uns gerade quält –"
„Weil du glaubst, dass das kein Zustand auf Dauer ist", kürzt Vincent die Sache ab.
„Natürlich nicht, über kurz oder lang gleicht sich das aus", demonstriere ich mein neugewonnenes Vertrauen ins Schicksal.
Mein Kumpel schnalzt mit der Zunge.
„Klar, und wenn ihr euch das zweite Mal infolge erfolgreich runter in den Mariannengraben der Scheiß-Gefühle geritten habt, dann wirst du das ganze Glück sicher locker annehmen können, dass das Universum dir in Zukunft so zum Ausgleich schenken möchte. Niemals wärst du für den Rest deines Lebens Frauen gegenüber misstrauisch nach Pari, nein nein", versetzt er ironisch.
„Warum so zynisch?", schieße ich bissig zurück. Vincent trommelt mit den Fingern seiner linken Hand auf dem Lenkrad herum. Er scheint zu überlegen.
„Dag, bitte hör auf, vor mir so zu tun, als wärst du krass hart. Ich kenne dich und ich merke, dass du zurzeit ein emotionales Wrack bist", überrascht er mich mit dem feinfühligen Ton, den er anschlägt. „Ich weiß, ich check's nicht immer direkt, wenn es dir gerade richtig dreckig geht. Aber aktuell siehst du kein Licht am Ende des Tunnels, da durchschaue ja sogar ich alter Gefühlskrüppel dich, Brudi, wenn du sowas Erfundenes behauptest."
„Meinen Optimismus habe ich mir nicht bloß ausgedacht", schmolle ich beleidigt und seufze. „Ja, ich bin ein emotionales Wrack, wenn du's so nennen willst, aber ich bin auch selbst dafür verantwortlich."
„Hey, guck mal, ich kann verstehen, warum du Pari nichts von Alexa sagen wolltest. Du wolltest einfach nicht, dass sie dich als Arschloch abstempelt."
„Und jetzt, wo sie exakt das getan hat, was rätst du mir da?", frage ich ihn, denn ich tappe tatsächlich im Dunkeln.
„Sieh ein, dass du wirklich der Arsch in dieser Geschichte warst und mach's besser", erwidert er und ich mustere ihn von der Seite.
„Worüber denkst du nach?", frage ich, denn es rattert in seinem Kopf, ich höre es so deutlich wie die Sirene des Krankenwagens, der sich von hinten nähert.
„Ich hab nicht immer recht mit allem." Vincent atmet ein und wieder aus, sammelt sich dabei. Sowas hat er noch nie in meiner Anwesenheit gesagt. „Ich tu nur oft so, und ich glaube, irgendwie bin ich mitverantwortlich dafür, dass du dauernd diesen Drang verspürst, dich für alles, was du tust, zu rechtfertigen. Sogar, wenn dich absolut keine Schuld trifft", überlegt er. Ich schweige. „Man hat dir früher oft gesagt, dass du was falsch gemacht hättest, obwohl du vielleicht in einigen Fällen gar nichts Falsches getan hast; deine Eltern, Pari, zu meiner Schande auch ich – wir haben dich alle auf dieselbe Art und Weise schlecht behandelt. Als ich letztens mit Iara über dich gesprochen habe, hat sie mir das ziemlich plausibel erklären können ... Deswegen tappst du ihr zufolge so im Dunkeln, was echte Grenzen anbelangt." Wahrscheinlich stimmt das.
„Ich merke, wenn ich mich falsch verhalte, ich kann nur nicht damit aufhören", sage ich leise.
„Wieso nicht?"
„Weil ich die Aufmerksamkeit brauche", gebe ich schlussendlich zu. Vincent lacht auf.
„Das steckt dahinter?"
„Mann, Vincent, das ist kein Spaß. Ich will mehr, als ich haben kann, ich bin nicht der genügsame Typ und diese verfluchte Opulenz fickt mein Leben."
„Nein, ich wollte mich überhaupt nicht über dich lustig machen", beteuert er, nimmt die Hand vom Lenkrad und legt sie über sein Herz. „Du erzählst mir nur gerade zum ersten Mal was, womit ich tatsächlich was anfangen kann, Alter."
„Mit Aufmerksamkeitsgeilheit, oder was?", frage ich ihn verständnislos. Vincent nickt entschieden.
„Letzten Endes wirst du realisieren müssen, dass du dir die Bestätigung, die du willst, erst einmal selbst geben musst. Die Scheiße nimmt dir keiner ab."
„Wie soll ich das denn alleine gestemmt kriegen?", hake ich nach.
„Alleine? Was laberst du? Du bist nicht allein. Wenn du das mal brauchen solltest, sag ich dir, wie genial ich dich finde. Und jeder, der das nicht erkennt, hat sich einfach nicht lang genug mit dir befasst." Ich muss unwillkürlich lächeln.
„Oh, Mann. Liebesgeständnisse von dir sind gewöhnungsbedürftig."
„Mir egal", lacht er. „Als ob ich mich bei dir noch für irgendwas schäme." Er boxt mich leicht.
„Ohne dich wäre ich so ein Absturz", brumme ich nachdenklich.
„Bist du doch sowieso schon", grinst er.
„Boah, Stein", lache ich. „Wieso nimmst du eigentlich die Dinge nie mehr als drei Sekunden ernst?"
„Weil du davon immer nur melancholisch wirst und dann regst du dich darüber auf, wie ich mit dir rede."
„Weil ich mich jedes Mal wie auf der Schlachtbank fühle, wenn du mal wieder solange bohrst, bis meine ganze Argumentation löchrig klingt."
„Mach's wie ich, bau Kartenhäuser, die halten."
„Siehst du? Genau das ist es. Ich bau keine Kartenhäuser", gebe ich empört zurück. „Du baust Kartenhäuser, Junge."
„Stimmt, aber meine Kartenhäuser fallen nicht direkt um, wenn einer mal dagegen pustet", kontert er.
„Du und deine Hütchenspieler-Mentalität", lache ich.
„Mir geht's gut im Leben, dir so?", feixt er.
Ich zeige ihm den Mittelfinger, aber eigentlich stört mich seine Stichelei schon gar nicht mehr.

Diesmal habe ich mir den Fensterplatz gebucht und es war die richtige Entscheidung. Als das Flugzeug abhebt, sehe ich, wie Berlin unter uns schrumpft. Langsam wird die riesige Stadt kleiner und immer kleiner. Vincent hat sich leicht zu mir rüber gelehnt. Er beobachtet das Spektakel genauso fasziniert wie ich. Unglaublich, dass er und ich zusammen in einem Flieger nach Paris sitzen. Ich spüre, dass er in diesem Augenblick exakt dasselbe denkt wie ich. Früher hätten wir von solchen Reisen nie zu träumen gewagt und heute können wir spontan entscheiden, wegzufahren; weit weg. Das ist genauso irreal wie jede Tournee für mich. Ich lasse es mir nicht oft anmerken, aber natürlich fahre ich mir jedes Mal aufs Neue den gleichen Film wie Vincent, wenn er in seine Konzertparalyse abgleitet. All das, was ich in meinen Texten schreibe, ist in erster Linie für mich bestimmt. Das sind Gefühle, die ich loswerden, die ich verarbeiten will. Erst im zweiten Schritt denke ich an die Leute, die unseren Liedern Gehör schenken; uns für das feiern, was wir machen. Diejenigen, für die wir Konzerte geben. Ich bin dankbar, dass mir das Glück beruflich in die Karten gespielt hat. Im Job, aber eben auch in Sachen Freundschaft. Vincent fordert mich heraus, er hält mich gesund und auf Trab. Ich bin nicht immer leicht zu ertragen und er ist für mich manchmal auch kaum auszuhalten. Aber am Ende verbindet uns das einfach: Wir halten zusammen.

Stunden später im Hotel angekommen fallen wir auf das Bett, auf dem locker vier Leute Platz hätten. Es ist eine andere Suite, logisch. Immer noch mit Blick auf den Eiffelturm, aber nicht dasselbe Zimmer, eindeutig nicht. Das würde mich zu arg runterziehen.
„Dag?"
„Ey, kannst du nicht mal fünf Minuten die Klappe halten, Stein, und die Ruhe genießen?", frage ich ihn scherzhaft und sehe mich nach Vincent um, der gedankenversunken an die Decke über uns starrt.
„Ich will mich bei dir entschuldigen, weil ich dich während dieser Affäre mit Pari allein mit deinen Gefühlen gelassen habe." Ich seufze.
„Macht nichts, Whynee. Du wusstest ja nicht, wie tief die gehen."
„Ich mache mir Vorwürfe."
„Wieso?"
„Ich habe ignoriert, dass du dich zum Negativen verändert hast. Ich hätte dir gründlich den Kopf waschen müssen, Alter. Das ist doch mein Job als dein bester Freund und so."
„Hey, nur weil wir Kollegen sind, heißt das noch lange nicht, dass unsere Freundschaft auch dein Job ist. Verwechsle das nicht, sonst muss ich mich mit dir streiten und daran geht mir so langsam echt die Lust verloren." Er lacht leise.
„Diese ganze Trennung von Charlotte hat mir damals den Boden unter den Füßen weggerissen. Du hast versucht, mich wiederaufzubauen und so viel Energie da reingesteckt, die ich gar nicht gewürdigt habe. Jedenfalls hätte ich dir von Anfang an die gleiche Zeit dafür einräumen sollen, um dir aus deiner Misere rauszuhelfen."
„Steck deine Lobpreisungen wieder ein", stoppe ich ihn sanft. „Ich hatte dich längst aufgegeben, als ich mich auf Pari eingelassen habe, obwohl ich wusste, dass du noch immer nicht richtig über Charlotte hinweg warst; ich dachte, du bist jetzt eben nicht mehr derselbe wie früher, aber das wird schon klargehen."
„Dachte ich auch. Hat mir aber nicht gefallen, die Vorstellung, wieder der zu sein, der ich war, bevor ich Charlotte kennengelernt habe ... Willst du in deinem Leben nochmal der sein, der du warst, unmittelbar bevor du Pari begegnet bist?"
„Ich glaube nicht", antworte ich.
„Du glaubst?"
„Ich weiß nichts mehr, Vincent."
„Ja, ergibt Sinn", murmelt er irgendwann.
„Ich war irre verbittert und man zieht an, was man ausstrahlt. Vielleicht war Pari in der Hinsicht nochmal 'ne andere Hausnummer, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht war sie nur all das, was ich auch war und nie in mir sehen wollte."
„Ihr unterscheidet euch voneinander", hält Vincent dagegen.
„Worin? Ich konnte uns ab irgendeinem Punkt nicht mehr voneinander trennen."
„Du tust nach außen hin, als wären dir andere egal; sie tut so, als würden andere ihr am Herzen liegen", analysiert er.
„Sie tut nicht nur so", widerspreche ich, verteidige Pari.
„Ich weiß. Andere Menschen kümmern sie manchmal sehr wohl, und dir sind andere Menschen wiederum manchmal tatsächlich egal, auch wenn du was anderes behauptest. Ihr seid euch ähnlich, aber gleichzeitig seid ihr auch verschieden. Lass das Schwarz-Weiß-Denken sein, du und sie, ihr seid beide moralisch grau."
„Du wirst mir niemals egal sein", sage ich und Vincent grinst.
„Das will ich schwer für dich hoffen, Dicka, du mir nämlich auch nicht. Also ..." Er erhebt sich vom Bett und streckt sich. „Bar, Club, oder beides?"

Echte Freunde

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