Das erste Kapitel

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Stille - einfach nur Stille. Es fühlte sich merkwürdig an. Diese innere Ruhe, keine Emotionen - gar nichts. Der kalte Frühjahreswind strich über meine Haut. Ich öffnete die Augen. Der graue Himmel teilte meine Stimmung. Alles war leer. Seit Stunden saß ich hier im Gras und fühlte nichts. Die Meereswellen schlugen an die Felswand. Der Wind brachte das Gras zum Tanzen. Der leichte Geruch nach Salz in der Luft. So viel Bewegung und trotzdem fühlte es sich an, als würde die Erde stillstehen.
Mein Lieblingsort - alles war wie immer. Felsen, Steine, Bäume, Strand, Meer, Himmel - alles war an seinen Platz. Und doch. Und doch fühlte es sich nicht so an. Nichts war an seinen Platz. Denn sonst würde nicht Vaters Teller am Esstisch fehlen und nicht sein Lächeln, wenn ich mit Stallgeruch nach Hause kam.
Es war wie, als wäre dies alles nur ein mieser Albtraum. Denn mein Vater - er konnte nicht weg sein. Als ob er im nächsten Moment mich von hinten überraschen könnte, als ob er zur Tür hereinspaziert und mir erzählt zur welcher langweiligen Soiree wir diesmal eingeladen waren. Oh ja, Vater und unsere geliebten Soireen. Eigentlich liebte Vater Gesellschaften, er war gerne unter Leuten, aber oberflächliche Menschen, die überteuertes Essen in sich hineinstopften oder diejenigen, die es einfach stehen ließen wegen ihrer Figur! Das war nicht sein Ding. Stattdessen ging er Abends oft in den Pub und traf seine Freunde. Oder wir machten Picknicks. Und dort waren nicht nur die gehobenen eingeladen - nein. Vater lud alle ein, mit denen er sich gut verstand. Mit Menschen umgeben zu sein, die sich ihren Lebensunterhalt oder ihre Träume hart erkämpften, weil ihnen nicht alles in den Schoß fiel - diese Menschen waren für mich ein Vorbild und ich wollte genau dasselbe tun: Meinen Platz in der Welt finden, meinen Traum finden (obwohl den ich schon immer hatte - meine Pferde) und dies aus eigener Kraft erreichen. Ein Freund meines Vaters - Jones Williams - war ein richtiger Freigeist und er sprach oft mit mir wie mit einem ebenbürtigen Gesprächspartner. In seiner Gegenwart fühlte ich mich reif und zu allem fähig. Leider heiratete er Lady Susan und sie zogen weg aus unserem kleinen Ort. Vater vermisste ihn auch. Und jetzt vermisste ich meinen Vater.
„Entschuldigen Sie my Lady?" Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich war so in Gedanken. Aber was machte hier jemand? Sonst war hier niemand. Vor mir stand ein Mann mittleren Alters - sehr fein gekleidet - und lächelte mich an. Sollte ich diesen Fremden kennen? Hoffentlich nicht einer, der mir wieder sein Beileid ausdrücken möchte. In den letzten zwei Wochen, wurde ich umarmt, getröstet und mit Geschichten von meinem Vater überhäuft. Und noch nie wurden mir meine Hände so viel geschüttelt. Irgendwann fühlten sie sich dermaßen taub an! In einem kleinen Ort können sehr viele Menschen leben...
„Lady Lunetta?", fragte der Fremde. Seine Augen waren dunkelbraun und irgendwie vertrauenswürdig - manchmal war mir jemand sofort sympathisch, einfach, weil seine Augen diesen speziellen Ausdruck hatten. „Ähm ja und Sie sind?" „Verzeihen Sie, mein Name ist John Thompson." John - John Thompson. Nein, da klingelte nichts. Was wollte er wohl hier? Umständlich versuchte ich mich aufzuraffen und netterweise bot mir der fremde Gentlemen seine Hand. „Mr. Thompson was führt Sie hierher?" „Also es geht um Ihren werten Vater - mein herzlichstes Beileid - aber wenn es Ihnen nichts ausmachen würde, würde ich diese Angelegenheit gerne in Ruhe bei Ihnen zuhause besprechen."  Was war mit meinem Vater? Irritiert antwortete ich: „In Ordnung. Wie haben Sie eigentlich hierher gefunden?" Schmunzelnd reichte er mir seinen Arm. „Sir Mike war mir dabei sehr behilflich."
May öffnete uns die Haustür und begleitete uns durch den Flur in den Salon. Als sie leise die Tür hinter sich schloss, räusperte der Mann sich kurz und begann zu erzählen: „Ihr verehrter Vater war ein sehr guter Freund von mir. Ich kann mir nicht mal anmaßend vorstellen was Sie zurzeit durchmachen. Der Grund für meinen Besuch, ist das Testament Ihres Vaters. Er übertrug mir die Verantwortung für Sie, falls ihm etwas zustoßen sollte." Sprachlos starrte ich ihn an. Was bedeutete das für mich? Vor mir stand mein Vormund? Wegen dem ganzen durcheinander der in den letzten zwei Wochen geherrscht hatte, hatte ich mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, wer jetzt die Verantwortung für mich hatte. Von Verwandten wusste ich nichts. Oh und was, wenn er von mir verlangte irgendeinen Mann zu heiraten? Ich müsste alles hier verlassen - meine Pferde, meine Freunde und May. Ich liebte diesen Ort. Nirgendwo wollte ich sonst wohnen als hier. Aber vielleicht ließ Mr. Thompson ja mit sich reden und ich konnte einfach hierbleiben - ich hatte ja May. Ja. Bestimmt würde das irgendwie funktionieren. „Mr. Thompson - ich - heißt das, dass ich Linefield verlassen muss?" „Mir wäre es sehr lieb, wenn Sie mit mir und meiner Familie auf Swanoak Castle wohnen würden." Wie bitte? Na gut, besser als an den nächstbesten verschachert zu werden, aber was? Müsste ich mit diesem Fremden, dann unter einem Dach wohnen? Und Moment, hatte er Swanoak Castle gesagt? Das Swanoak Castle? Oh - mein - Gott. Vor mir stand der Duke of Shrewsbury! Mein Vormund! Und ich stand da, mit Männerhosen und schlammbedeckten Stiefeln. „Sie sind Duke of Shrewsbury?" Schnell machte ich eine Knicks - der mir jedoch mit diesen Schuhen misslang und sehr amüsant aussehen musste. Mit Mühe versuchte der Duke sein Grinsen zu verstecken. „Und was wäre, wenn ich gerne hierbleiben würde, your Grace?", fragte ich. Auch wenn ich die gehobene Gesellschaft nicht bevorzugte, könnte mir natürlich durchaus auch schlimmeres passieren, aber ich würde so viel verlieren! Fahrig fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. „My Lady, ihr Vater hatte keinen Erben, weswegen der gesamte Besitz an den Staat geht." Entgeistert schüttelte ich den Kopf. Nein, nein, nein -  mein zuhause! Wie? Ich hatte soeben meinen Vater verloren, dieser Ort, war das einzige was mich an ihn erinnerte! Ich schüttelte wieder den Kopf. Das konnte und durfte nicht wahr sein! Hörte dieser Albtraum überhaupt jemals auf? Geschockt ließ ich mich auf einen der alten Stühle fallen. Warum konnte ich nicht alles Erben? Konnte das Leben überhaupt so grausam sein? Ich verlor gerade alles, was mir lieb war! Vorsichtig legte der Duke eine Hand auf meine Schulter. „Lady Lunetta, es tut mir aufrichtig leid, aber es ist wahr. Und als Ihr Vormund, hatte ich gehofft, dass Sie bei mir und meiner Familie ein neues Zuhause finden würden." Geistesabwesend blickte ich in seine braunen Augen, die mich traurig anlächelten. In meinen Augen sammelten sich Tränen und schnell senkte ich meinen Blick. Ein dicker Kloß hing mir im Hals und ich versuchte verzweifelt meine Tränen runterzuschlucken. Weinen war das Letzte, was ich jetzt wollte. Tränen gab es in den letzten Wochen genug. Ich hatte endlich nach vorne schauen wollen - irgendwie. Doch jetzt? Stopp! Lou reiß dich zusammen - einmal tief einatmen und wieder ausatmen. Nachdem ich mich einigermaßen gesammelt hatte, stand ich auf. „Wann reisen wir ab?" Der Duke der sich geduldig auf einen der Stühle gesetzt hatte, erhob sich ebenfalls und bedachte mich mit einem sorgenvollen Blick. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. In drei Tagen habe ich einen alljährlichen, wichtigen Termin, der sich leider nicht verschieben lässt und wenn ich danach wiederkommen werde...es ist selbstverständlich Ihre Entscheidung, aber wollen Sie zusehen, wie alles verkauft wird?" Seufzend fuhr er sich übers Gesicht. Nein, dabei zuzusehen, das wollte ich nicht. „Nein, your Grace. Das würde ich in der Tat nicht wollen." Verständnisvoll nickte er. „Bitte, wenn es Ihnen nichts ausmachen würde, dann nennen Sie mich bitte John!" „Gut. John. Dann bin ich für Sie Lou und nicht Lady Lunetta." Er lächelte. Vielleicht würden wir uns ja einigermaßen gut verstehen. „Wir müssten morgen in aller Frühe aufbrechen, Lou. Es tut mir wirklich leid, anders geht es nicht." Morgen. Morgen. Morgen würde ich Linefield für immer verlassen! Zerstreut nickte ich. „Wollen Sie bei" Beinahe hätte ich wirklich bei uns gesagt! „Mir übernachten?" „Danke für das Angebot, aber ich übernachte in einer Gaststätte im Ort. Ich würde dich morgen um 9:00 Uhr mit der Kutsche abholen." „Gut, dann bis morgen!" Zur Verabschiedung versuchte ich wieder einen Knicks. „Bis morgen, Lou! Und ein Knicks ist wirklich nicht nötig! Vor allem nicht in diesen Schuhen!" Ich lachte und beobachtete, wie er eine Verbeugung andeutete, sich umdrehte und hinter der Tür verschwand - mit meinem Lächeln. Vollkommen ermüdet ließ ich mich wieder auf einen Stuhl fallen. Morgen früh. Morgen früh würde ich alles hinter mir lassen. Der Gedanke machte mir Angst, dennoch war da noch etwas anderes, Erleichterung über einen Neuanfang. Doch diesen Gedanken wollte ich erst gar nicht denken und verbannte ihn in meinen hintersten Gehirnzellen. Ich seufzte und versuchte mir alles genau einzuprägen, denn mein Zuhause möchte ich niemals vergessen. Dunkle, alte, schön verzierte Möbel, eine grün gemusterte Tapete, ein Porträt meiner Mutter und meines Vaters, der goldene Kronleuchter und die bodenlangen, weinroten Vorhänge. Durch eine Fenstertür kam man auf die Terrasse, wo wir oft gefrühstückt hatten. Die Türgriffe quietschten immer ein bisschen. Vorsichtig öffnete ich sie und trat auf den hübschen Balkon. Meine Hände legten sich auf das kalte Steingeländer. Von hier aus konnte man die Wiesen und Felder betrachten. Ich liebte es hier zu frühstücken und meinen geliebten Pferden zuzusehen. Den Winter mochte ich nie besonders, schließlich mussten wir dann immer drinnen essen. Seufzend versuchte ich ein Lächeln. Dies war mein Ort gewesen - mein Ort der mich glücklich machte. Ein kalter Wind fuhr mir über die Haut und ich schlang die Arme um mich. Ich atmete einmal tief ein und schloss die Augen, wie um diesen Moment für immer festzuhalten. Ein Gedanke drängelte sich nach vorne: Abschied. Dies war mein Abschied.
Nachdem ich in jedes einzelne Zimmer gegangen war, mir alles eingeprägt hatte und mich innerlich verabschiedet hatte, ging ich nach oben in mein Zimmer. May hatte bereits begonnen meine Sachen zu packen. Dankbar lächelte ich sie an und als sie sich zu mir umdrehte, sah ich Tränen in ihren Augen glitzern. „Oh May!", flüsterte ich und schlang die Arme um sie. Wie sehr würde ich sie vermissen! Sie löste sich wieder von mir und gab ein schniefendes Lachen von sich. „May wo willst du jetzt hin?", fragte ich sie. Ein warmes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie ergriff meine Hände. „Lou mach dir keine Sorgen um mich, ich werde was Neues finden oder besuche meine Familie. Alles wird gut Liebes!" Ich versuchte ihr Lächeln zu erwidern. Dann wandte sie sich wieder meinen Koffern zu. Viel war es nicht. Zwei Koffer. Ich hatte wirklich nicht viel. Die Sachen von Mutter und Vater, von denen ich mich nicht trennen wollte, wird eine Postkutsche hinterher senden. May packte gerade das nächste Kleid in meinen Koffer, aber nicht mein Kleid - Mutters Kleid. Verwundert beäugte ich den bereits vorhandenen Inhalt im Koffer. Kleider, Strümpfe, Absatzschuhe, Handschuhe, ein Hut, Tücher und oh nein ein Korsett. Ich verzog das Gesicht und schaute May bittend an. Doch sie schüttelte grinsend den Kopf. „Nein meine Liebe, auf Swanoak Castle rennst du mir garantiert nicht in Hosen und ohne Korsett rum!" Missmutig schnappte ich mir das nächste paar Handschuhe und stopfte es unachtsam in die Tasche. May tätschelte mir aufmunternd die Schulter und ich war kurz davor meine Strümpfe nach ihr zu werfen. Dann würden wohl nicht Mutters Klamotten mir nach Swanoak Castle folgen, sondern meine geliebten Hosen. Auf der Treppe kam mir James entgegen, mein zukünftiger, ehemaliger Butler. „James könntest du mir vielleicht dabei behilflich sein, alle meine Dinge, die ich gerne behalten würde, in den Salon zu tragen?" „Wie Sie wünschen Mylady!"

Swanoak - LunettaWhere stories live. Discover now