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Was war nur los mit mir?

Ich hatte auf die letzte Stichelei von Kyle nicht reagiert und auch als er mich spät am Abend anrief und mich mit einem 'Na, Hexe' begrüßte, war ich nicht imstande etwas zu Kontern. Oder mich wenigstens zu beschweren. Ich war nämlich keine Hexe.

"Bist du noch dran?", ertönte Kyles Stimme durch das Telefon. Ich lag auf meinem Bett und schaute angestrengt in meine Englischbuch. Wir schrieben morgen die erste Abschlussprüfung und ich wollte sicher gehen, dass ich mit mindestens 90% bestand.

"Ja", ich blätterte gestresst zur nächsten Seite des dicken Buches, "Wieso rufst du überhaupt an? Ist was passiert? Oder willst du mich nur beim lernen stören, du Idiot?"

Von der anderen Seite der Leitung vernahm ich ein nervöses Räuspern, "Was? Wieso lernst du um diese Uhrzeit?"
Kyles Stimme klang ungewöhnlich unruhig und es gefiel mir ganz und gar nicht. Das machte mich wohl genauso nervös wie er es bereits war. Ich hörte viel lieber seine eher tiefe, beruhigende aber auch etwas einschüchternde Stimme.

"Wir haben morgen unsere Abschlussprüfung in English. Ich will mit mindestens 90% bestehen", sagte ich also unsicher ins Telefon und blätterte erneut eine Seite weiter.

Kyle schnappte nach Luft und flüsterte erleichtert ins Telefon, "Ich dachte schon ich habe eine zweite Prüfung morgen vergessen"
Er holte tief Luft und seine Stimme beruhigte sich ebenfalls, "Dann kann ich ja beruhigt schlafen"

Das Rascheln einer weiteren umgeblätterten Seite des Buches.
"Und du solltest auch schlafen gehen, Mae. So wenig Schlaf tut dir nicht gut. Pack das dumme Buch weg und leg dich hin. Es ist fast schon halb eins!", sagte er mahnend und ich spürte förmlich den Blick den er dabei auf seinem Gesicht trug.

"Aber ich brauche mindestens 90% morgen, du verstehst das nicht, Kyle. Wenn ich keine Best Noten bei den Prüfungen bekomme dann wird mein Vater mich-", ich unterbrach meine panische Stimme selbst, in Mitten des Satzes. Es war ausgeschlossen jemals irgendwem davon zu erzählen, was unter diesem Dach vor sich ging. Selbst Kyle war keine Ausnahme.

Ich schwieg wohl etwas zu lange und auffällig das Handy an, denn das nächste was Kyle fragte war, Was passieren würde wenn ich keine Top Leistungen vorlegen konnte. Doch ich wollte und ich durfte einfach nicht ehrlich antworten.

Schnell musste ich mir eine Lösung überlegen. Vielleicht eine Notlüge? Oder lieber eine Halb-Wahrheit? Beides fühlte sich in dem Moment richtig aber auch unglaublich falsch an.

"Ich", stammelte ich drauf los, "ich weiß nicht. Er wird vermutlich gar nichts tun. Ich Interessiere ihn ja sowieso kaum"
Der zweite Satz war nichtmal gelogen.

Seufzend schloss ich meine Augen und klappte das Englisch Buch zusammen. Nun brachte mir das lernen wirklich nicht mehr viel, auch wenn ich im allgemeinen keine schlechte Schülerin war. Aber um mindestens 90% zu erlangen, musste ich mich wirklich bemühen.

"Mae. Das glaubst du doch selbst nicht. Er wird sicherlich stolz sein wenn du gute Noten schreibst", meinte Kyle ruhig und ich strich mir müde über die Haare.

Innerlich musste ich etwas lachen. Mein Vater wollte zwar, dass ich einen sehr guten Abschluss erzielte, doch stolz? Nein, er war nur wirklich selten stolz auf mich.
Aber vielleicht sollte ich wirklich lieber schlafen, als vor meinem Buch zu hocken und sowieso nichts fertig zu lernen. Das brachte ja doch nichts.

"Hm", grummelt ich leise, "du hast recht. Ich sollte schlafen gehen. Holst du mich morgen ab?"
Ich wusste nicht warum ich das gefragt hatte und haute mir augenblicklich, mit dem Handballen, selbst gegen die Stirn.
Wie doof war ich eigentlich?
Damit erhöhte ich nur das Risiko, dass sich mehr positive Gefühle für Kyle Everstone entwickeln könnten.

MaeWhere stories live. Discover now