Zittrig schwebte mein Zeigefinger über der Klingel. Jetzt hieß es alles oder nichts. Entweder sie waren da oder sie waren es nicht. Das konnte ich nur herausfinden, indem ich klingelte. Einmal kurz schellte es. Abgesehen vom Rauschen des Meeres und Wehen des Windes war das das einzige Geräusch weit und breit. Plötzlich kam Bewegung in die alten Mauern. Ich vernahm das leise und hektische Geräusch von mehreren Paar Füßen, die über knarzende Dielen huschten. Ein Fluchen ertönte.
Innerhalb des Hauses wurde sich schnell organisiert. Und das war der Augenblick, in dem ich mir beinahe sicher war, dass sich die andere Hälfte unserer Gruppe tatsächlich dort drin befand. Schnelle und entschlossene Schritte kamen zur Tür. Die restlichen Personen innerhalb des Gebäudes verhielten sich nun still. Mucksmäuschenstill. Mein Klingeln hatte sie nicht nur überrascht, sondern auch in Alarmbereitschaft versetzt.
Langsam und vorsichtig wurde die Haustür geöffnet. Mit einem leisen Knarzen wurde mir der Blick auf einen dunklen Flur eröffnet. Die Person, die im Türrahmen stand, hielt die Tür noch immer halb verschlossen. Außerdem stellte sie sich genau in den geöffneten Bereich der Tür, sodass niemand einfach hinein gelangen konnte, ohne sie nicht vorher zur Seite zu stoßen. Vor mir stand Audra Harris. Sie sah erschreckend anders aus, als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte. Ihr eigentlich glänzendes und liebevoll gepflegtes rotes Haar hing matt und kraftlos herunter. Ihr Gesicht wirkte bleich und unter ihren sonst strahlend blauen Augen lagen tiefe Schatten, die vomSchlafmangel zeugten. Audra Harris sah vollkommen fertig aus. Ihr ganzer Körper erschien kraftlos und ein wenig in sich zusammengesunken. Sie glich mehr einem Zombie als der vor Leben sprühenden Audra. Der wunderschönen Frau, die so viele Leute aus dem Fernsehen kannten. So energielos hatte sie noch nicht einmal gewirkt, als wir sie aus dem Gefängnis befreit hatten.
Es entsetzte mich, sie so zu sehen. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?", sagte Audra ruppig. Auch ihre Stimme klang ganz kraftlos und ernst. „Haben Sie mal auf die Uhr gesehen? Verschwinden Sie! Sofort!" In Audras leblosen Augen funkelte etwas, das mich leicht beunruhigte. Das war nicht mehr die lebensfrohe, überaus positive Frau, die ich kannte. Es war erschreckend.
Wie viel Zeit war vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte? Monate? Oder bloß Tage? Ich konnte es tatsächlich nicht sagen. Mir jedenfalls kam es wie eine Ewigkeit vor. Und diese kleine Ewigkeit hatte es in sich.
„Verschwinden Sie sofort!", zischte Audra und ich konnte ihr ansehen, wie sie sich anspannte. Aber verwunderlich war es nicht. Immerhin stand ich hier vollständig vermummt vor ihr und es war mitten in der Nacht. Zumindest vermutete ich das.
„Hallo Audra.", brachte ich es leise zustande. Meine Stimme klang seltsam belegt. „Ich bin's." Einen Augenblick kniff Audra leicht die Augen zusammen und sie sah so aus, als würde sie mir auf der Stelle die Tür vor der Nase zuschlagen, doch dann hielt sie inne. Es brauchte einen Moment, ehe sich ihre ernste und müde Miene ein bisschen erhellte.
„Freya?", fragte sie ungläubig, wobei ihr eine große Last von den Schultern zu fallen schien. Fassungslos schlug sie sich die Hände vor den Mund, ihre Augen füllten sich mit Tränen, ehe sie auf keuchte und mich heftig in ihre Arme riss. Überrumpelt hing ich in ihrer stürmischen Umarmung. Ein Zittern ging durch Audras Körper und sie weinte hemmungslos. Halt suchend klammerte sie sich an mich, wobei sich ihre Finger achtlos in meine Haut bohren wollten, was glücklicher Weise nicht funktionierte.
Etwas unbeholfen legte ich meine Arme um sie und presste mein Gesicht in ihr schlaffes Haar. Ohne groß weitere Worte zu verschwenden, weinte Audra all ihre Gefühle heraus. Wobei sie nicht daran dachte, mich auch nur irgendwann je wieder loszulassen. Es war, als wäre in Audra ein Damm gebrochen. Und alles, was der bisher zurückgehalten hatte, strömte nun ohne Hindernis heraus.
Audra schluchzte immer lauter und presste mich nur noch fester an sich. „Ich dachte, sie hätten dich getötet!", schluchzte sie kaum verständlich. „Ich dachte, sie hätten dich mir nun auch noch genommen!" Natürlich. Sie wusste mittlerweile, dass Aldric tot war. Liam hatte es ihr erzählt. Meine Lippen wurden zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er hatte es ihr nicht verschweigen können. Wie auch? Darum war sie so fertig. Sie trauerte um ihren Ehemann, der viel zu früh aus ihrem Leben gerissen worden war. Und brutal noch dazu. Und sie hatte das noch nicht einmal gemerkt, weil sie bereits in das Gefängnis gebracht worden war, bevor sie etwas davon mitbekommen konnte. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, war Audra nun eine Flüchtige ohne ein Zuhause und ich, eines der Kinder, die sie aufgenommen hatte, war auch noch entführt worden. Kein Wunder, dass ihr all das so dermaßen zusetzte.
„Ich lebe.", murmelte ich in ihr rotes Haar, während ich Audra sanft weiter an mich drückte.
„Und das ist wunderbar!", schluchzte diese. Sie schien mich nie wieder loslassen zu wollen. Leise schniefte sie. Mittlerweile war meine Kapuze von ihren Tränen ganz nass. „Komm rein!" Langsam und widerstrebend ließ sie mich los, zog mich jedoch sogleich an der Hand durch die Tür. Erst dann, als sie die anderen Gestalten hinter mir entdeckte, bemerkte sie, dass ich gar nicht allein gekommen war. Ein überraschter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
Mein Bruder war der Erste, der herantrat. „Du bist Lucius.", stellte Audra fest. „Du warst dabei, als ihr mich aus dem Gefängnisbefreit habt." Lucius nickte knapp. Als Audra die anderen musterte, wirkte sie verwirrt. „Und wer seid ihr?"
Ernst trat Harlan vor. „Mein Name ist Harlan Scott und das hier sind meine Frau Michelle und unsere Kinder Sophia und Felix.", stellte er sich und seine Familie vor. „Freya, Lucius und wir sind ein Stück zusammen gereist."
Audra nickte leicht, während sie ihn musterte. „Audra Harris.", stellte sie sich kurz vor. „Kommt herein." Sie trat zur Seite und ließ alle eintreten. Im Gegensatz zu draußen war es im Haus widerlich warm. Dennoch verzog ich keine Miene. Sobald alle eingetreten waren, blickte Audra kurz aufmerksam nach draußen, als sie jedoch nichts Ungewöhnliches vorfand, schloss sie die Tür. Erst jetzt nahm ich den Flur genauer in Augenschein. Es war offensichtlich, dass das Cottage nur als Ferienhaus diente. Keine persönlichen Bilder hingen an den Wänden. Bloß irgendwelche gekauften Bilder, die wohl irgendwo hier in der Umgebung aufgenommen worden waren. Sie zeigten die Klippen und das Meer, aber auch die umliegenden Felder und Bauernhöfe. Ansonsten stand nur ein einzelnes schmales Schränkchen an der rechten Seite der Wand, auf dem zur Deko eine nichtssagende, billige Vase abgestellt worden war.
Wortlos, aber mit einem Lächeln auf den Lippen ging Audra voran. Dabei ließ sie meine Hand kein einziges Mal los. Es war, als fürchtete sie, dass ich bloß eine Illusion sei, die verloren ginge, sobald sie sie losließ. Sie öffnete die Tür, die am Ende des Flures gegenüber der Haustür lag. Sogleich durchflutete warmes Licht den zuvor finsteren Flur. Vor uns lag ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer mit einer großen Fensterfront, die jedoch von Rollläden verschlossen blieb.
Das Wohnzimmer war nicht sonderlich groß. Zwei hellgraue Sofas passten hinein, die in einer L-Form um den dunkelbraunen kleinen Tisch aufgestellt worden waren. Rechts daneben gab es eine Essecke mit Esstisch und den dazugehörigen Stühlen. Daneben stand eine moderne Holzvitrine, die mit Büchern zur Umgebung gefüllt war. Ansonsten gab es noch einen Fernsehtisch und einen Fernseher, genau gegenüber der Sofaecke.
Sieben Personen saßen bereits auf den Sofas. Sie alle wirkten angespannt und blickten uns angriffsbereit entgegen. Als sie jedoch bemerkten, dass Audra keine Geisel war, entspannten sie sich ein wenig.
Keiner von ihnen sah aus, als wäre er ernsthaft verletzt. Das beruhigte mich. Sie alle wirkten wohlauf und vollkommen kampffähig. Ein unerwünschter Besucher hätte das jetzt wohl zu spüren bekommen. Doch Audras strahlendes Lächeln – es kam zumindest ein wenig an ihr altes Lächeln heran – ließ sie alle innehalten.
Dann fielen die Blicke auf meine vermummte Gestalt. Misstrauisch wurde ich beäugt, ehe Liam bemerkte, dass Audra meine Hand fest umklammert hielt. Irritiert runzelte er die Stirn. Ich konnte gar nicht sagen, wie erleichtert ich war, dass es Liam gut ging. Ein Stein schien mir vom Herzen zu fallen. Auch, wenn ich ihn für sein unüberlegtes Handeln während des Gefängnisausbruchs am liebsten eine reinhauen wollte.
„Wer...?", fragte Liam misstrauisch, ehe er innehielt. Die Jäger hielten sich im Hintergrund. Ihre Blicke waren mehr als präsent und ihre Haltung sagte bereits aus, dass ich mit meinen Handlungen vorsichtig sein sollte. Bloß Kieran war noch angsteinschüchternder. Er war nur halb zu sehen. Seine Farben hatte er der Umgebung angepasst. Bloß seine dunklen Augen blitzten mir bedrohlich entgegen. Fast schon hatte ich vergessen, wie gefährlich er wirken konnte. Alles an ihm wirkte bedrohlich. Beinahe schon wie ein Raubtier, das seine Beute ins Visier genommen hatte. Es war unheimlich.
Schließlich kniff Liam leicht die rubinroten Augen zusammen. „Freya?", fragte er zögerlich. Als ich bestätigend nickte, war alle Anspannung auf einmal verschwunden. Fassungslos riss er seine Augen auf. „Unglaublich!", rief er aus und ehe ich mich versah, stand er bei mir und hatte mich Audra auch schon entrissen. Ein Seufzen der Erleichterung entschlüpfte ihm, als er mich fest an sich drückte.