🌊Der Stern des Meeres🌊*Watt...

By Thyrala

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1601: "Die See ist nichts für Feiglinge!" - Lorena bekommt nichts geschenkt, aber das macht sie stark. Sie be... More

Personenverzeichnis
Vorwort
Schiffbruch
Gestrandet
Ein neues Leben
Gefährliche Wattwelt
Das Gold der Uthlande
Der Blanke Hans
Schicksal
Der Gast
Eilien
Unterricht
Matt
Der Luftgeist
Absturz
Zehn Tage
Die Strafe
Aussprache / Amrum
Freunde
Strandjer
Pläne
Ein Geheimnis
Abschied
Sehnsucht
Bleiben oder gehen
Hindernisse
Abfahrt
Leinen los!
Von Bilge und Back
Der Quartiermeister
Von Gesangbuch und Knoten
Hoch hinaus
Gegenwind
Der Teufel an Bord
Die schwarze Liste
Durchhalten
Der Geist
Kräftemessen
Waffenstillstand
Atempause
Rivalen
In geheimer Mission
Von Kanonen und Schwarzpulver I
Von Kanonen und Schwarzpulver II
Mann gegen Mann
Gerrit
Drill und Seepest
Türkisblau
Hitze
Vorzeichen
Im Auge des Sturms I
Im Auge des Sturms II
Der neue Navigator
Konfrontation
Nichts als die Wahrheit
Feuer und Rauch

Der Schwur

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By Thyrala

Am nächsten Mittag versah Lorena wie gewöhnlich den Backsdienst. Sie half Rix in der Kombüse und füllte Graupensuppe in die Schüsseln.

Unversehens wurde die Tür aufgerissen. Der Backsmeister steckte den Kopf herein und brüllte: „Habt ihr Seetang in den Ohren? Habt ihr nichts mitgekriegt? Alle Mann an Deck!"

Vor Schreck hätte Lorena einiges verschüttet; Rix hatte weniger Glück. Er war heftig zusammengezuckt, während er einen Stapel Teller balancierte. Der oberste geriet ins Rutschen, sauste hinunter und zerschellte auf dem Boden in Einzelteile. „Godverdomme!", fluchte er. Vorsichtig stellte er den Stapel zurück ins Regal und wandte sich zu Joris um, hochrot im Gesicht. „Das hab' ich schon, aber nicht den genauen Wortlaut. Hab' die Kombüse aufgeklart, verstehste?"

Joris kniff ein Auge zu. „Willst du mich verarsch..."

„Ich hab auch nichts mitbekommen!", erwiderte Lorena schnell. Das war nicht gelogen. Rix hatte dermaßen gründlich aufgeräumt, dass ihr die Ohren von dem Geklapper und Geklirr geklungen hatten. „Was ist denn so dringend?", fragte sie weiter. „Der Passat segelt das Schiff doch von allein, da gibt nicht viel zu tun?"

Joris zuckte die Achseln und erwiderte nun freundlicher: „Keine Ahnung, was los ist. Das werden wir gleich wissen. Also hopp mit euch!" Er stapfte hinaus.

Rix schaufelte mit beiden Händen Asche ins Herdfeuer, das zischend verrauchte, Lorena fegte rasch die Scherben in die Ecke, dann folgten sie dem Backsmeister.

Als Erstes fiel ihr eine Hünengestalt ins Auge. Inmitten der Matrosen ragte sie auf wie ein Leuchtturm - Thorsson! Er hatte sogar das Achterdeck verlassen. Die Mannschaft war noch nicht vollzählig versammelt, der Ausguck und die Toppgasten enterten nieder. Ihre Freunde hatten sich bereits eingefunden; sie lief zu ihnen und stellte sich neben Janko. „Weißt du etwas?", fragte sie ihn.

„Nein, nichts", versetzte er. „Nur, dass wir uns vor dem Großmast aufstellen sollen."

„Hm." Sie suchte mit den Blicken den Himmel ab. „Es sieht nicht nach einem Sturm aus, weit und breit ist kein Schiff in Sicht. Vielleicht ist der Schipper krank?"

„Möglich, ja - das könnte der Grund sein. Daran hab' ich noch gar nicht gedacht."

„Darauf könnte ich fast wetten", bemerkte sie mit leiser Ironie und beließ es dabei. Ihre Meinung über Bakker behielt sie lieber für sich. Sollte doch Thorsson das Kommando übernehmen! Zu ihm hatte sie Vertrauen.

Der Navigator schien die Ruhe selbst zu sein. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und wartete, bis auch der Letzte eingetroffen war. Dann aber bekam sein Blick etwas Raubvogelartiges. Er sah die Männer einer nach dem anderen so durchdringend an, als ständen sie allesamt auf der Schwarzen Liste.

Auch Lorena zuckte unter seinem unheimlichen Blick zusammen. Sie fühlte sich mindestens so schuldig, als hätte sie das Trinkwasser vergiftet ... das kostbare Trinkwasser, das mittlerweile brackig schmeckte und zu stinken begann. Niemand wagte es, den Mund aufzumachen. Nur im Rauschen der See schienen geisterhafte Stimmen zu flüstern.

Endlich gab sich Thorsson einen Ruck und rief: „Hört zu, Männer! Ihr alle kennt den Zweck unserer Reise: Wir wollen eine gute Fahrt machen und mit einer ordentlichen Ladung Tabak, Baumwolle und Perlen heimkehren. Doch genau das wird zu einem Wagnis: Zum einen häufen sich die Überfälle durch Piraten in der Hoffnung auf eine gute Prise, zum andern scheuen auch England und Frankreich keine Gewalt mehr und schicken Kaperfahrer gegen fremde Handelsschiffe. Erinnert ihr euch an den Eid, den ihr vor der Abfahrt geschworen habt? Nämlich ‚unbedingte Treue und das Versprechen, das Schiff nicht zu verlassen, solange Kiel, Mast und Wand noch steh'n'?"

„Jawohl!"- „Ja!", riefen alle im Chor.

Er nickte zufrieden. „Sehr gut. Es gibt aber noch einen anderen Eid, den scharfen Eid, den die Seefahrer der VOC neuerdings schwören müssen, und der da lautet: ‚sich niemals im Falle einer Kaperung zu ergeben -"

Unruhe kam auf ... ein Gemurre, das langsam anschwoll wie eine Flut ...

Er hob die Stimme: „... ‚eher soll die Pulverkammer geöffnet und brennende Lunten hineingeworfen werden, damit beide Schiffe, auch das feindliche, in die Luft fliegen müssten'!"

Jetzt wagten einige lauten Protest.

Lorena erschauerte. Das bedeutete, bei einem Angriff war der Tod gewiss, ohne jede Aussicht auf Gnade.

Thorsson grinste fast diabolisch. „Beruhigt euch, Leute! Auf diesen Eid haben wir verzichtet. Wir gehen einen anderen Weg, denn wir haben vorgesorgt. Nach außen hin sind wir friedliche Kauffahrer, aber wer uns angreifen will, hat schlechte Karten. Ein paar Änderungen noch, und die Zeelandia kann es mit einem Kriegsschiff aufnehmen."

Daraufhin folgte ein erstauntes „Ah" und „Oh" von Seiten der Matrosen.

Mit einer knappen Handbewegung brachte er sie zum Schweigen. „Seid ihr überrascht? Hat man es euch nicht erzählt? Gut so, einigen von euch habe ich nämlich Redeverbot erteilt, anscheinend haben sie sich daran gehalten. Tretet vor, Leute!"

Einzelne Matrosen folgten seinem Wink und stellten sich nebeneinander auf. Am Ende waren es zwanzig.

Thorsson nickte ihnen mit einem leisen Lächeln zu und fuhr fort: „Noch besitzt die VOC zu wenig Schiffe, um eine ganze Kauffahrteiflotte loszuschicken. Wir sind allein auf uns gestellt. Die meisten Handelsschiffe schippern mit aufgemalten Kanonenluken über die Meere und täuschen so Wehrhaftigkeit vor - wir nicht. Wir täuschen höchstens Schwäche vor. Da wir uns im Krieg mit Spanien und Portugal befinden, und sich überall Spione herumtreiben, ist zusätzliche Vorsicht geboten, die Anzahl der mitgeführten Kanonen muss möglichst lange geheim bleiben. Aber lasst euch gesagt sein, wir haben genügend an Bord. Einige hielten wir versteckt, meine Leute und ich haben alles vorbereitet. Das Zwischendeck wird in ein Batteriedeck umgestaltet, dann haben wir zwei davon. Dort stellen wir die übrigen Kanonen auf."

Er machte eine Redepause und blickte in die Runde, wie um die Wirkung seiner Worte einzuschätzen.

Lorenas Gedanken überschlugen sich. Zwischendeck ... dort stehen lange, schmale Kisten an den Wänden ... dienen sie in Wirklichkeit als Attrappen für die Kanonen?

„In früheren Zeiten", begann Thorsson von neuem, „fuhren Seesoldaten mit, die nichts anderes zu tun hatten, als Waffenübungen abzuhalten und für das Gefecht bereitzustehen. Doch für Männer, die vom Segeln keine Ahnung haben, haben wir keinen Platz an Bord. Ferner kann es geschehen, dass unsere Kanoniere ausfallen, und dann? Wir dürfen kein Risiko eingehen, und das bedeutet: jeder von euch muss in der Lage sein, um sich und das Schiff verteidigen zu können - jeder!"

Er stemmte die Arme in die Seiten. „Ab heute werdet ihr lernen, wie man die Kanonen bedient. Sämtliche Abläufe vom Laden bis zum Schießen müssen euch in Fleisch und Blut übergehen. Betrachtet euch nicht mehr nur als Seeleute, sondern auch als Seesoldaten. Dieselben Männer, die mit mir alles vorbereitet haben, besitzen Erfahrung sowohl als Kanoniere als auch im Gefecht und werden euch einweisen. Nur zu, Leute ... mit Mut und Gottvertrauen schafft ihr das, ich vertraue Euch! Möge der Wind und das Glück mit uns sein."

Alle, von den Schiffsjungen bis zu den Toppgasten, schienen von der neuen Herausforderung angetan zu sein und schrien Hurra.

Thorsson lächelte zufrieden, setzte wieder zum Sprechen an ...

„Wohl gesprochen, Obersteuermann", ließ sich von achtern eine dünne Stimme vernehmen. „Überlasst nun mir das Weitere."

Überrascht drehten sich alle zu dem Sprecher herum und reckten die Hälse. Thorsson aber schien den Zwischenruf erwartet zu haben und tippte ein stummes Aye! an die Stirn.

Auf der Kommandobrücke stand Bakker. Er musste schon vor einer geraumen Weile seine Kajüte verlassen haben. Krank sah er nicht aus. Seine Körperhaltung war aufrecht wie immer, die Gesichtsfarbe frisch und die Augen blickten hellwach.

Er räusperte sich kurz und begann: „Folgendes ... ich will, dass ihr euch darüber im Klaren seid, wie ernst die Lage ist. Es geht nicht nur um Tabak, Baumwolle oder Perlen, sondern um mehr - viel mehr! Die Zeelandia gehört zu den ersten Schiffen der VOC, die in Westindien unterwegs sind. Wir sind nicht nur Kauffahrer, sondern auch Kundschafter. Wir haben eine Mission! Wir suchen nach neuen Transportwegen, nach Stützpunkten zur Proviantversorgung und nach Siedlungsraum für unsere Kolonisten. Dabei stehen wir im Wettbewerb mit England, sie haben schon ein Jahr früher ihre Schiffe losgeschickt."

Dann hob er die Stimme: „Wir müssen große Hindernisse überwinden! Bisher konnten wir nur ohnmächtig zusehen, dass die Spanier uns von den Meeren verdrängen, dass sie uns demütigen und schaden, wo sie nur können; mehr als fünfhundert unserer Schiffe haben sie beschlagnahmt, und was vor der Küste Venezuelas geschehen ist ..." Seine Stimme brach, er schluckte, redete weiter: „... das spottet jeder Menschlichkeit! Sie haben unsere Kapitäne gehängt wie gemeine Verbrecher, und die Besatzung, alles brave, gestandene Seeleute, zu einem qualvollen Dahinsiechen auf die Galeeren verbannt - und das alles nur deswegen, weil sie die karibische See als alleiniges Hoheitsgebiet beanspruchen, als ‚Mare clausum, geschlossenes Meer'. Wer diese Grenze überschreitet, wird als Kaperer betrachtet und ohne Vorwarnung angegriffen."

Anklagend stieß er den Zeigefinger in die Luft. „Aber wir wollen und werden uns wehren! Wir brauchen den ungehinderten Zugang zur Neuen Welt, wenn wir als Nation überleben wollen. Spanien und Portugal haben die Häfen für unsere Handelsschiffe gesperrt, uns droht der Ruin. Unsere einzige Rettung ist das weiße Gold der Karibik - es ist das Salz, das auf einigen karibischen Inseln reichlich vorhanden ist, das Salz, das so wichtig zur Haltbarmachung ist. Ohne das können wir keinen einzigen Hering exportieren ... das heißt: kein Salz, kein Handelsgeschäft, keine Gewinne! Wir verlieren den Krieg, weil uns die Gelder fehlen." Er warf den holländischen Matrosen einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ihr wisst, was auf dem Spiel steht."

„Aye, aye!", brüllten sie zurück und reckten die Fäuste in die Luft.

Das weiße Gold der Karibik! Zuerst widerwillig - was konnte nach Thorssons kriegerischer Eröffnung noch Wichtiges kommen? - dann aber mehr und mehr in den Bann gezogen, hatte Lorena seiner leidenschaftlichen Rede gelauscht. Besonders die Schlussworte hatten es ihr angetan. Wieder einmal ging es um Salz ... damals wie heute. Das Friesensalz hatte die Uthlande reich und unabhängig gemacht, vielleicht bot sich den Holländern dieselbe glückliche Gelegenheit.
Hier wie dort.

Bakker schwieg einen Moment, ließ den Blick über die Mannschaft gleiten und rief: „Einige von euch stammen aus Schwaben, Bayern, Hessen, sogar aus Polen. Was meint denn ihr dazu? Ich weiß, unser Freiheitskrieg ist nicht euer Krieg."

„Doch! Er ist auch mein Krieg", meldete da einer zu Wort. „Ich bin Westfale!" Er war ein mittelgroßer, stämmiger Mann mit einem offenen, einnehmenden Gesicht, das sich jetzt zu einer Maske der Wut verzerrte.

„Sprich weiter", forderte Bakker ihn auf.

„Mendoza!", schnaubte der Westfale. „Dieser teuflische General zog mit seinen zwanzigtausend Mann plündernd und mordend durch das Land und besetzte das westfälische Gebiet. Dabei nahmen die Spanier unseren wichtigsten protestantischen Führer am Niederrhein, Graf Wirich, gefangen; das konnten sie auch nur, weil sie ihm freien Abzug versprochen hatten. Aber kaum lag er in Ketten, brachten sie ihn um! Daran seht ihr, was von ihren Versprechungen zu halten ist - glaubt ihnen niemals, selbst wenn sie bei Maria und allen ihren verfluchten Heiligen schwören. Aber es geht noch weiter ... ein Mord reichte diesen Teufeln nicht, sie töteten sämtliche Burgleute sowie deren Frauen und Kinder, das waren über zweihundert Menschen, Blutzoll für die katholische Kirche! Mein Bruder diente dort als Stallknecht ... er wurde ebenfalls abgestochen wie ein Schwein. Das war im Winter vor sechs Jahren." Er spuckte aus. Dann redete er weiter: „Meine Eltern entschlossen sich zur Flucht. Unterwegs kamen wir durchs Gelderland - überall standen die Höfe leer. Eine unheimliche Gegend, wo nur noch Füchse und Krähen hausten. Wie wir von den Überlebenden vernahmen, hatte die spanische Soldateska auch dort furchtbar gewütet, Zehntausende wurden massakriert, weil sie nicht zum katholischen Glauben übertreten wollten. Ich sag's euch, wir waren verdammt froh, als wir endlich die Grenze passierten! Dann ... in Amsterdam, hat man uns freundlich aufgenommen. Bei meiner Arbeit im Hafen lernte ich ehemalige Wassergeusen kennen; ich bewundere diese tapferen Widerstandskämpfer, will ihnen nacheifern. Deshalb habe ich bei euch angeheuert, und nicht, weil mich die See lockte. Ich will mehr tun, als Schiffsladungen zu löschen!"

Bakker zeigte sich von seinem Bericht tief beeindruckt und nickte. „Ja, das kannst du - hilf uns, die Fackel des Krieges zu löschen! Was Mendoza betrifft, so kann ich dir Erfreuliches berichten: Vor vier Jahren wurde er von unserem glorreichen Statthalter und Prinzen Moritz von Oranien endgültig besiegt. Und so muss und wird es weitergehen, wir dürfen nicht zurückweichen. Viele Verfolgte, besitzlos, entrechtet, verwundet, gefoltert, suchen in den Niederlanden Zuflucht und Schutz. Sie alle finden bei uns eine neue Heimat, gleich welchen Glaubens sie sind. Nun weißt du, warum unser Freiheitskrieg auch euer Krieg ist, sein muss. Spaniens Arm reicht weit. Deshalb müssen auch wir expandieren. Je mehr Einfluss unsere Compagnie, die VOC, gewinnt, desto stärker können wir Spaniens Macht erschüttern. Wir wollen sie ins Mark treffen! - Darum, Männer, kämpft für uns, die Generalstaaten, auch wenn das nicht in eurem Heuervertrag steht. Unsere Freiheit ist auch eure Freiheit! Kämpft mit uns für ein freies Meer!", rief er so flammend, dass selbst seine Stimme ungewohnt hart und schneidend klang.

„... für ein freies Meer ...", wiederholten einige Männer wie träumend.

Bakker nickte ihnen lebhaft zu. „Ja. Ein freies Meer für alle! Auch für euch! Falls ihr vorhabt, auszuwandern, dann unterstützt unsere Mission, seid unsere Verbündete. Mit etwas Glück könnt ihr eine neue Heimat finden und sogar wohlhabend werden. Wir erlauben euch, den Heuervertrag vorzeitig zu lösen, sobald unsere Lagerräume gefüllt sind - vorausgesetzt natürlich, dass wir noch ausreichend Seeleute für die Heimfahrt zur Verfügung haben." Er grinste breit.

Die Mannschaft brach in Gelächter aus.

Bakker wartete, bis sich die allgemeine Heiterkeit gelegt hatte und hob die Faust. „Nur eines noch: Wir suchen keinen Krieg, keine direkte Konfrontation mit spanischen Schiffen. Aber sie wird unausweichlich sein, wenn sie unseren Löwen am Bugspriet sehen. Das ist ein Sinnbild für uns, Männer, denn das sind wir: LÖWEN DER SEE!"

Es ging wie eine Woge durch die Reihen ... ein kurzes Luftholen ... dann ...
„Wir sind die Löwen der See!", skandierten die Männer im Chor. „Die Löwen, die Löwen ...!"

„Verteidigen wir unsere Freiheit!"

„Joho, wir verteidigen unsere Freiheit!", jubelten sie und rissen die Fäuste hoch.

„Gut, ihr habt verstanden. Jetzt wisst ihr, worauf wir gefasst sein müssen. Für Spanien sind wir ein Rebellenstaat. Übt euch während der Freiwache im Zweikampf und an den Kanonen, statt zu schwätzen, der Wind treibt uns schnell nach Westindien. Trödelt nicht, nutzt die Zeit, die uns noch bleibt."

„Das werden wir!", donnerten sie zurück und trampelten vor Begeisterung.

Damit hatte er die Mannschaft der Zeelandia aufeinander eingeschworen. Der einstige Bund der Wassergeusen schien wieder neu aufzuleben.

Auch Lorena hatte leidenschaftlich mitgebrüllt. Die Rufe „Freiheit-Freiheit-Freiheit" hallten in ihr nach wie ein Echo. Die Freiheit verteidigen, das klang gut, das kannte sie, schließlich war sie unter freien Friesen aufgewachsen. Eyla eyla Fresena war mit der Zeit tief in ihr eingesickert und kreiste in ihrem Blut. Anscheinend dachten die Niederländer ähnlich wie die Friesen und wollten sich nicht unter ein fremdes Joch zwingen lassen. Bakker hatte geklungen, als ob er vor den Spaniern keinen Fußbreit zurückweichen wollte. Er erschien ihr gar nicht mehr so schwächlich; vielleicht wohnte in diesem schmächtigen Körper ein starker Geist. Nun, das würde sich sicher bald zeigen. Die VOC war anscheinend viel mehr als ein Bündnis von Krämerseelen und Pfeffersäcken.

Sie, Lorena, fühlte sich auf dem Schiff durchaus frei. Sich unter einem strengen Kommando auf Gedeih und Verderb in die Mannschaft einzufügen, war eine Notwendigkeit, um auf dem Ozean zu überleben. Mehr und mehr wuchsen sie zu einer Familie zusammen, das war eine ganz neue, wunderbare Erfahrung. Auf der Zeelandia war sie nicht mehr „Die Fremde", sie gehörte dazu. Ich will nie wieder einsam sein. Und vielleicht ein Löwe der See werden, warum nicht?

An jenem Morgen, als sie mit ihren Seesäcken auf den Schultern den Kai hinuntergegangen waren, war sie beim Anblick der Galionsfigur unwillkürlich zusammengezuckt. Der Schnitzer hatte sie furchterregend lebendig gestaltet - den Kopf mit der goldfarbenen Mähne wachsam hochgereckt, die Zähne gefletscht, die krallenbewehrten Pranken erhoben, stand der rote Löwe der Generalstaaten an der Spitze des Bugspriets, bereit zum Sprung übers Meer. Er war ihr wie ein Symbol erschienen. Spring' ins kalte Wasser, spring'!
Sie war dem Ruf gefolgt. Bis jetzt hatte sie es eigentlich nicht bereut.

Bakker hob erneut die Hand ... sogleich herrschte eine beinahe andächtige Stille. Selbst das unaufhörliche Rauschen des Meeres schien einen Moment lang auszusetzen.
„Ich bestimme Thorsson zum Kanoniermeister, solange, bis ich einen geeigneten Nachfolger wähle", sagte er. „Cornelis Veen bleibt nach wie vor Vormann. Und nun hopp, Männer, unsere Feinde schlafen nicht! Ihr mögt tapfer sein und könnt gewiss auch ordentliche Prügel austeilen, aber gegen die Spanier reicht das nicht, ihr wäret hoffnungslos unterlegen. Darum braucht ihr außerdem noch Unterricht im allgemeinen Waffengebrauch, zum Üben benutzt ihr Hölzer. Der Zimmermann gibt euch das Benötigte heraus."

WAFFEN.
Damit gab es für sie ein neues Problem. Inzwischen taugte sie zu einem ordentlichen Seemann, aber was konnte sie gegen rohe Gewalt ausrichten? Mit der Kanone zwischen sich und dem Feind traute sie sich zu, ein Gefecht zu überstehen, nicht aber den Kampf Mann gegen Mann. Einmal hatte ihre gewaltige Wut ausgereicht, einen großen und schweren Mann wie Hauke zu bezwingen, aber darauf allein durfte sie sich nicht verlassen. Hauke hatte nicht mit ihrer erbitterten Gegenwehr gerechnet; der heranstürmende Feind aber würde vorbereitet sein und mit aller Härte angreifen. Spätestens dann würde auffallen, wer oder was sie in Wirklichkeit war. Dann war sie verloren.
Es gab nur eine Lösung.
Ove.
Er stand direkt hinter ihr. Sie wandte sich an ihn: „Ich habe bestimmt das Raufen verlernt. Weißt du noch, auf Amrum ...? Kannst du es mir wieder beibringen?"
Er legte seine Pranke auf ihre Schulter und brummte: „Joh. Wir werden üben. Wie früher."
Sie lächelte ihn an. Er hatte sie sofort verstanden. Mit solchen Freunden konnte nichts schiefgehen. Als ehemalige Strandjer kannten sie sich aus.

Sjard neigte sich zu ihr und raunte: „Dass der Freiheitskrieg nun auch auf den Meeren fortgeführt wird, damit hab ich nicht gerechnet. Die Niederländer verfolgen eine andere Strategie; Bakker wird von den Bewindhebbers besondere Vollmachten bekommen haben. Normalerweise fährt ein sogenannter Unterkaufmann mit, der das eigentliche Sagen an Bord hat, dieser jedoch fehlt hier. Das hätte mir gleich auffallen müssen!"

Es klang wie eine Entschuldigung. Dass sie ihr den verrückten Plan, mit ihnen zur See zu fahren, nicht ausgeredet hatten.
„Du kannst nichts dafür, Sjard", entgegnete sie. „Ich wollte ja unbedingt mitkommen und meine Familie suchen."

„Hm ja, deine Familie ... das war gar nicht so verkehrt gedacht. Sie kann sich tatsächlich irgendwo in den westindischen Kolonien niedergelassen haben. Vielleicht gab es einen Grund zur Flucht."
„Etwas Ähnliches hatte Janko auch schon gesagt."
„Siehst du."

Sie seufzte. „Ich weiß nicht warum, aber mein Gefühl sagt mir, ich bin auf der richtigen Spur. Es gibt nur ein Hindernis - Spanien."

„Ha, da kommt mir ein Gedanke - vielleicht ist es gar nur eine Handelsfahrt zum Schein?"

„Gut möglich. ‚Wir sind Kundschafter', hat Bakker gesagt. Vielleicht sind wir der Vorstoß, der Auftakt zu mehr. Eine Vorhut sozusagen."

„Das glaube ich auch. Dazu passt, dass Thorsson wie nebenbei erwähnte, dass wir höchstens Schwäche vortäuschen", folgerte Sjard.
„Deshalb diese Geheimniskrämerei mit dem zweiten Batteriedeck."
„Genau."
Sie sprachen nicht weiter, es war alles gesagt. Janko hatte ihnen still zugehört, zuletzt mit finsterer Miene.

Wenn sich ihre Vermutungen bestätigten, stand ihnen einiges bevor.

Mare clausum.

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