Symmetrie der Herzen

By Thekurwa

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*** WATTY-GEWINNER 2021 IN DER KATEGORIE "ROMANCE" *** Was ist gut? Alkohol oder Drogen? Eigentlich keines vo... More

Vorwort
01 - Der Neue
02 - Zwei Gesichter
03 - Ein Magnet für Idioten
04 - Der attraktive Arsch
05 - Hormone zum Mitnehmen
06 - Risse in der Fassade
07 - Facettenreich
08 - Schokolade & Musik
09 - Kein Verständnis
10 - Glasklare Geheimnisse
11 - Die rosarote Brille
12 - Wir sind irgendwie besonders
13 - Warum bist du so, wie du bist?
14 - Verbundenheit & Ferne
15 - Vertrauen
16 - Eis kann schön sein
17 - Gebeichtet
18 - Das erste indirekte Date
19 - Er ist es
20 - Kein Vergessen
21- Du hast sie nicht verdient
22 - Anker im Sturm
23 - Loslassen und akzeptieren
25 - Vergebung
26 - Sein Engel
27 - Kontakte
28 - Ein schmerzvoller Segen
29 - Verkehrte Welt
30 - Die guten alten Zeiten
31 - Zwischen Fluch und Segen
32 - Es geht nicht mehr
33 - Niemand ist allein
34 - Karten neu mischen
35 - Nur mit dir
36 - Zwei Menschen, eine Seele
Epilog
Nachwort

24 - Schwebende Wolken mit Gewitterpotenzial

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By Thekurwa

„Wann willst du eigentlich nach Hause?", fragt Vincent mich, nachdem ich das Telefonat mit Daniel beendet habe. Ich lasse das Handy sinken. „Hat deine Begleitung, dessen Name ich leider vergessen habe, dir gerade eine Zeit genannt?" Es verschwindet in der Hosentasche. Mittlerweile ist es nach drei Uhr. Viertel vier, würde ich sagen. Ich habe gerade nicht auf die Zeit geachtet. Die Müdigkeit macht sich allmählich bemerkbar. Ich gähne häufiger.

„Elise hat mich nicht angerufen. Das war Daniel." Ich erwidere seinen munteren Blick. Der Fünfundzwanzigjährige sitzt nach wie vor auf der Kante des Kofferraums, die Arme ausgestreckt neben sich. „Er will in einer halben Stunde los. Er meinte, dass er eine alte Bekanntschaft von früher getroffen hätte und sich noch kurz mit ihr unterhalten will." Ich blicke zum Haus. Allerhöchstens knappe dreißig Leute sind noch anwesend. Zwischendurch ist sogar die Polizei gekommen – zwei Streifenwagen. Es geht das Gerücht herum, dass Victor sich übel geprügelt haben soll. Die Auseinandersetzung stimmt – die Beamten haben, unter Einberufung von Verstärkung, drei Personen mitgenommen. Eine hat sich extremst widersetzt, sodass man ihn mit Gewalt hat abführen müssen. Vincent hat es spöttisch kommentiert und gemeint, als ich ihn scherzhaft darauf angesprochen habe, es sei nicht sein Job – er habe Feierabend und habe morgen Spätschicht. „Länger als vier will ich nicht hierbleiben. Das weiß er auch. Ansonsten kann er zusehen, dass er allein zurückkommt." Ich lächele verlegen, als ich seinen Blick wahrgenommen habe. „Was ist? Hab' ich 'was im Gesicht oder warum guckst du mich wie ein Fernseher an?"

Vincent lacht leise.

„Nee, keine Sorge. Da ist nichts." Es ist wiedergekehrt, dieses aufrichtige Lächeln. „Du siehst nur hübsch aus. Das ist alles." Er hält inne, als Martin auftaucht. Ich hebe überrascht meine Augenbrauen, als ich erkenne, wie er Mikołaj in seinen Armen trägt. „Du musst deine Prinzessin wachküssen, sonst passt die Story nicht." Ich lasse mich neben Vincent nieder und beobachte den Sechsundzwanzigjährigen, wie er den Polen herunterlässt und den Arm um seine Taille legt, damit er nicht umkippt.

„Vince, halt' einfach dein Maul", murrt Martin sichtbar genervt. „Ohne Scheiß: Das ist echt nicht mehr lustig. Ich hab' keine Geduld mehr. Der Typ macht mich fertig." Mikołaj regt sich kaum, was ihn allerdings nicht davon abhält, sinnlosen Mist von sich zu geben. „Mikołaj, halt' die Schnauze. Du laberst nur Scheiße. Mann, kapierst du das nicht?"

„Erst wenn-ich ... besoff'n bin, siehs' du gut ausss." Völlig neben der Spur, total benebelt im Kopf. Ohne Martin könnte er nicht einmal richtig stehen. „Ich muss mich dich schöntrinken." Er zischt vor Schmerz los, als Martin ihm einen festen Schlag auf den Kopf verpasst. „Fick dich!"

„Die Frage ist: Wie soll er nach Hause kommen?" Vincent starrt zu der Straße. Der Parkplatz hier ist mittlerweile kaum noch besetzt. Mit Vincents BMW parken hier vier Autos. „Den brauchst du nicht mehr mit 'nem Taxi losschicken. Der kippt dir entweder weg oder kotzt alles voll." Blaue Lichter zeichnen sich in der Schwärze ab, die rasch und stetig an Größe gewinnen. „Schon wieder? Die waren doch eben erst hier. Gibt's schon wieder eine Prügelei?"

„Ich bring' ihn nach Hause", beschließt Martin mürrisch und verdreht Mikołajs Arm, als er zu einem Schlag ausgeholt hat. „Willst du die Knochen knacken hören? Dann kannst du gerne ein Lied schreien." Der Pole schüttelt hastig den Kopf. „Reiß' dich zusammen."

„Du bis' so scheiße, ey ... Wass los mit dir? Will weitermachen ..." Mikołaj kneift die Augen zusammen. „Boah, mach' dasss Licht aus." Er fällt fast hin und hätte Martin mitgerissen. „Die Welt is' so schnell. Sieht wie ... breitgewischt aus." Ich halte mich aus dieser abstrusen Lage heraus. Beobachte nur und entwickle für Mikołaj pure Fremdscham. „Huppsala." Und jetzt liegt er auf dem Boden. „Ich will schlaf'n." Martin knurrt hörbar und rafft den Neunzehnjährigen auf. „Mir is' übel ... Kopf schmerzt." Er lässt den Kopf hängen. „Alles ... scheiße."

„Vincent, Martin. Ihr seid auch hier?" Die Stimme kommt mir ziemlich bekannt vor. „Warum habt ihr euch nicht bei der letzten Besatzung gemeldet? Ihr hättet uns 'ne Menge Arbeit erspart." Und ehe ich mich versehe, ist Oliver erschienen. Gekleidet in Uniform, bewaffnet und auf Alarmbereitschaft. Als er seinen Halbbruder erkennt, verändert sich der Gesichtsausdruck jäh. „Och, bitte nicht."

„Warum sollen wir uns melden?", schaltet sich Vincent ein und grüßt die Frau knapp. „Wir sind nicht im Dienst. Haben immerhin Feierabend." Er erhebt sich. „Du siehst ja überhaupt nicht begeistert aus. Glaub' mir: Der Typ ist die Definition des Dreidreiundzwanzigers A in Person. Kriegt nichts mehr mit, kann nicht mehr ohne Martins Hilfe stehen." Er singt lallend und wankt gefährlich umher. „Warum seid ihr wieder hier?"

„Als Beamter solltest du eigentlich ... Okay, vergiss es." Vincent hat mir verraten, dass er bereits einen Dienstgrad über Oliver ist. „Sehe ich. Das Traurige ist, dass ich es nicht anders von ihm kenne." Er erwidert meinen Blick. „Uns wurde 'ne Ruhestörung gemeldet. Schon wieder. Da hat wohl jemand die Musik wieder lauter gemacht." Aber ganz schön. Dauerbeschallung durch und durch. „Sag' mir bitte nicht, dass er der Verantwortliche ist."

„Doch. Mikołaj hat die Party organisiert." Ich händige ihm meinen Ausweis aus. Oliver erklärt mir kurz, was nun anstünde. Ich schätze, dass das eine Art Belehrung sein soll. Ich habe davon so oder so keine Ahnung. Also nicke ich gelegentlich. „Er wollte eine Art Willkommensfeier veranstalten. Ich denke 'mal, dass er beabsichtigt hat, dass man weiß, dass er nun da ist. Na ja ... Es ist ein bisschen zu sehr eskaliert. Angefangen mit der Prügelei zwischen ihm und Victor." Oliver zieht eine Augenbraue hoch. Die Frau neben ihm, seine Kollegin, stellt das Notieren kurz ein. Ich werde mit Fragen konfrontiert. Sowohl von ihm als auch von seiner Kollegin. „Keine Ahnung. Weiß ich nicht so genau. Müsste gegen ... Zwölf, halb zwölf gewesen sein. Victor Rüschmann ist sein vollständiger Name. Geht in meine Klasse. So wie Mikołaj."

„Der is' schwul!", brüllt Mikołaj dazwischen. „Ha's verdient ... Auf die Fresse!" Er stützt sich unbeholfen an Martin ab. „Auf die Fressssse ..." Er hickst laut. „Immer weiter un' weiter ..."

„War er zu dem Zeitpunkt genauso alkoholisiert wie jetzt?", nimmt Oliver den Gesprächsfaden erneut auf. Mehr an sich selbst gewandt, fügt er hinzu: „Der ist doch eine Enttäuschung für sich."

„Ihr seid doch save die Partybullen!", ruft Mikołaj lallend dazwischen. „Wo is' die Party? Ich will Party!"

Vincent findet es lustig, Martin eher nicht.

„Nein. Deutlich nüchterner, wenn man das so nennen kann", schildere ich besorgt. „Aber da hat es angefangen. Es ist immer schlimmer geworden, was den Alkoholkonsum angeht." Ich höre zu, was die Kollegin mich fragt. „Eine ganze Flasche Wodka, Tequila, fast einen ganzen Pfefferminzlikör. Bier ... Also viel zu viel."

„Tja, da steht wohl der Verdacht einer Körperverletzung im Raum." Oliver seufzt. „Gibt es sonst noch etwas, das man wissen sollte?"

Ich blinzele langsam.

„Was Mikołaj betrifft, nein", antworte ich leise und sehe meine Beine an.

„Anja, könntest du Martin ein paar Fragen bezüglich Mikołaj stellen?" Er will mit mir allein reden, stelle ich soeben fest. Das wird ein Gespräch werden, welches sich über seinem Beruf stellt.

„Ich kann euch gerne einen Roman präsentieren", brummt Martin und zerrt Mikołaj grob mit sich. „Los, ab jetzt, du Pisser. Sieh zu, dass du gehst."

„Ich piss' dich ... gleich an", faucht Mikołaj zurück und beschwert sich lauthals, denn Martin weist ihn harsch zurecht.

Oliver wartet einige Sekunden, ehe er sich an mich wendet. Immer, wenn ich die schwarze Waffe im Holster ansehe, muss ich automatisch an meinen Vater denken. Seine eigene ist silbern. Eine von zu vielen.

„Das hier, was ich dich gleich fragen werde, wird sich nicht im Rahmen meiner Pflichten abspielen. Es geht ins Familiäre." Vincent hält sich augenblicklich zurück. „Ich will ihn nämlich nicht in weitere Schwierigkeiten bringen. Es ist schon schlimm genug, dass er jetzt eine Anzeige wegen Körperverletzung am Hals hat." Ein sorgenumwobener Funke schimmert in den grünen Augen.

„Um was geht es denn?"

Oliver hadert ein wenig mit sich.

„Hast du ... irgendwie mitbekommen, wie er Drogen genommen hat? Gras oder anderes?" Ich weiß, dass bunte Pillen die Runde gemacht haben. Sogar Plättchen, die man sich auf die Zunge legen muss, damit sie sich auflösen. Vincent hat mir ein paar gezeigt, nachdem er die Toiletten aufgesucht hat. Der Dealer hat sie ihm einfach in die Hand gedrückt. Er hat sie entsorgt.

„Ich weiß es nicht", gebe ich wahrheitsgemäß zu. „Das habe ich nicht mitbekommen. Ich weiß nur, dass ein paar Pillen die Runde gemacht haben." Oliver hakt nach. „Schätze, dass es sich um Happy Pills handelt. Na ja, es ist kein Geheimnis, dass bei uns Drogen verkauft oder verschenkt werden."

„Das stimmt allerdings." Oliver späht zu Mikołaj. „Wer schon von sich aus mehrere Tüten bei sich versteckt, interessiert es nicht, was die Runde macht." Er weiß es also auch. Wie es Mikołaj einfach nicht kümmert, immerhin ist sein Halbbruder bei der Polizei tätig. „Danke, Jess."

„Nicht dafür. Ich weiß, wie sehr du dir Sorgen um ihn machst." Ich bin mir sicher, dass Mikołaj abrutschen wird. Er wird einen ähnlichen Weg gehen wie sein Vater. „Du weißt, wer der Dealer ist?" Seine Kollegin ist erschienen. Oliver klinkt sich für einen Augenblick aus unserem Gespräch. Er wendet sich an Vincent. Will wissen, ob er sich kurzweilig in den Dienst versetzen könnte, um ihr zu helfen. Der Fünfundzwanzigjährige zuckt mit den Schultern, bewegt sich dennoch zum Aufraffen. Er lächelt mich flüchtig an, als er Anja folgt. Immerhin sind sie und Oliver nicht zu uns gestoßen, um mit uns über Mikołaj zu reden. Das hat sich ergeben.

„Soweit ich weiß, haben wir seine Personalien schon in den Systemen."

„Fabian Blur?", bohre ich nach.

„Kennst du ihn?"

„Er geht in meiner Parallelklasse." Ich höre Mikołaj frustriert brüllen. „Ist kein Geheimnis, dass er Drogen an unserer Schule verkauft." Mein Vater weiß natürlich um ihn. Da habe ich nichts sagen müssen.

„Ah, danke für die Info." Er schreibt sich den Namen auf. „Wieder eine Person, die man drankriegen kann." Oliver wird schweigsam. Es erstreckt sich auf einige Sekunden. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass er früher oder später auf die falsche Bahn geraten wird. Es fehlt nicht mehr viel." Die Musik ist endlich aus. Niemand protestiert mehr.

„Schön, dass man mit dieser Sorge nicht allein ist."

„Gras ist nicht umsonst eine Einstiegsdroge. Von Alkohol brauchen wir erst gar nicht zu reden." Vincent und Anja schreiten zu uns. Ich sehe, dass der Blonde etwas mit sich trägt. „Pass' auf dich auf, Jess. Du bist du gut für diese Welt." Eine Anspielung auf Mikołaj. „Wieso habt ihr die Anlage mitgenommen?"

„Das is' ein Mischpult, du Genie", korrigiert Vincent ihn. „Das ist beschlagnahmt. Die Arschlöcher haben nicht eingesehen, dass die Musik uns und die Nachbarschaft abfuckt. Wer nicht hört, muss eben fühlen." Er geht Anja nach. Der Kofferraum des Streifenwagens wird geöffnet. „Viel Spaß mit dem Papierkram, Olli. Ich kümmer' mich nicht um den Scheiß. Ist nämlich nicht mein Einsatz."

„Alter, du kannst den Scheißbericht schreiben", murrt Oliver.

„Seh' ich danach aus? Am Arsch. Du kannst das machen. Bis heute Nachmittag hab' ich den Scheiß wieder vergessen. Nee, Kollege. Das kannst schön du machen. Ist nicht mein Fall." Vincent grinst frech. „Immerhin bin ich der Oberkommissar von uns beiden." Er lacht herzhaft, als Oliver ihm den Mittelfinger zeigt. „Steck' den da hin, wo ich ihn nicht sehen kann."

„Wir werden sehen, Vince. Noch hast du keine drei Sterne."

„Dafür einen mehr als du." Sie führen sich wie zwei kleine Kinder auf. Ich grinse amüsiert. „Nicht traurig sein, Schmolli." Er sieht Oliver belustigt an. „Smollliver passt sogar eher."

„Könnten sich die werten Herren wieder auf ihre Arbeit konzentrieren?", funkt Martin dazwischen. Wo ist denn Mikołaj hin? „Mikołaj ist bewusstlos. Liegt in seinem Wagen. Ich bring' ihn ins Krankenhaus. Das geht so nicht mehr weiter. Wir sehen uns morgen, Vince. Olli, war schön, dich zu sehen. Wünsch' euch 'was. Macht nicht zu doll." Er umarmt mich. „Bis zum nächsten Mal beim Training."

Er hat das Bewusstsein verloren. Es ist nur noch eine Frage der Zeit gewesen, was ihm Ähnliches widerfährt wie Ivan oder dem Rest, der von den Rettungskräften abgeholt worden ist.

„Ja, bis bald", murmele ich und sehe ihm nach. Der Braunhaarige eilt förmlich zum schwarzen Panther, dessen glühende Augen die Dunkelheit verdrängen. Er wird also dieses geschwindigkeitshungrige Tier über die Straße jagen und dabei die Zügel straff in den Händen halten. Da wird Mikołaj sicherlich nicht begeistert sein.

„Super, der Nächste mit einer potenziellen Alkoholvergiftung. Oh, Mann, da freuen sich aber die Ärzte." Oliver schüttelt den Kopf. „Ist ja nicht mein Problem." Das kleine Notizbuch taucht in einer der Taschen seiner Weste ab. „Um den Scheiß hier kann er sich morgen selbst kümmern. Wie dem auch sei." Oliver vollführt eine abwehrende Handbewegung, als seine Kollegin nach ihm ruft. „Tja, das war's dann. Pass' auf dich auf, Jess. Komm' gut nach Hause." Ein gutgemeintes Lächeln, und er sucht den Wagen auf. Ich sehe ihm schweigend nach. Nach einigen Minuten sind sie davongefahren. Dieses Mal langsamer und ohne Blaulicht.

„Deine Freunde sind da", reißt Vincents Stimme mich aus den Gedanken, und ich zucke erschrocken zusammen. „Huch, entschuldige. Das wollte ich nicht." Er lächelt ein wenig. Ich blinzele langsam und schaue zu ihm. Neben ihm Daniel und Elise. Zu meiner großen Erleichterung hat Daniel sich an sein Versprechen gehalten; er sieht keineswegs danach aus, als hätte er viel getrunken. Selbst Elise macht einen stabilen Eindruck. Von dem aufgedrehten Mädchen keine Spur.

„Wo ist der Grimmige hin?", will Elise wissen, nachdem sie zu mir gegangen ist. Sie lallt nicht einmal mehr. „Oder Mikołaj? Wurde er eben mitgenommen?"

„Das hört Martin gern", meint Vincent grinsend. „Martin heißt er. Ist vor ein paar Minuten mit ihm losgefahren. Verdacht auf Alkoholvergiftung. Also nach der Nummer, die er da wegesoffen hat, hat's mich nicht mehr überrascht. Früher oder später muss es passieren."

„Verdient. Ganz einfach." Elise will von mir wissen, wo das Auto stünde und ob ich es zwischenzeitlich umgeparkt hätte. „Schade. Hätte ja sein können. Jetzt ist es so schön leer." Sie gähnt hinter vorgehaltener Hand. „Wollen wir so langsam nach Hause? Ich kann kaum noch stehen, weil ich so fertig bin."

„Du hast zudem ein gutes Stückchen Fahrt vor dir", ergänzt Daniel ein wenig ernst.

„Wollte ich auch. Ich habe keine Lust mehr." Ich suche Vincents Blick. „Weißt du, es war echt schön, dich wiederzusehen. Schade, dass die Party so einen Ausgang genommen hat. Hätte besser sein können." Ich lasse mich in seine Arme ziehen. „Bis Sonntag. Vorausgesetzt, du kannst wegen der Arbeit."

„Man findet noch einen Tag, an dem man sich treffen kann." Der Fünfundzwanzigjährige nimmt die Arme von mir. „Ich melde mich noch 'mal in der Gruppe, sollte sich der Plan kurzfristig ändern. Bei meiner Dienstgruppe ist es eh kein Wunder." Ein heller Funke blitzt in den Augen auf. „Fahr' vorsichtig."

„Werde ich." Wir verabschieden uns. Daniel und Elise lassen mich zwischen ihnen gehen. Hinter mir kann ich hören, wie Vincent den Kofferraum schließt und einsteigt. „Mikołaj ist die Katastrophe für sich. Hast du bestimmt mitbekommen, oder?"

„Was? Dass er sich endgültig abgeschossen hat? Das habe ich sogar beobachten können." Die wilden Locken sind aus ihren Haaren verschwunden. Einige braune Strähnen kleben ihr im Gesicht. „Eine ganze Flasche Wodka und Likör. Ein Viertel dieses Polengesöffs – verdünnt oder nicht, weiß ich nicht. Vom Tequila, Bier und Jägermeister braucht man nicht anfangen zu reden. Ehrlich: Warum macht er so etwas? Will er damit irgendetwas beweisen?"

„Aufregen brauchst du dich nicht darüber", wirft Daniel stirnrunzelnd ein. „Ist sein Bier, dass er nun so ist. Ich bin ehrlich: Er hat's verdient." Hier spenden keine Laternen warmes Licht. Wir haben unsere Handys hervorgeholt und die Taschenlampen angeschaltet. Hinter den Bäumen, in der Schwärze, raschelt es manchmal. Hier und da flitzen kleine Tiere über die schmale Straße. Ich bin noch nie ein Freund von solchen Spaziergängen gewesen. „Was wollte eigentlich die Polizei von dir?"

„Kennst du ihn?", fügt Elise hinzu. „Ihr wirkt vertraut miteinander."

„Der mit mir gesprochen hat, ja. Ihn kenne ich. Er ist der Halbbruder von Mikołaj." Elise hebt erstaunt die Augenbrauen. „Ja, so habe ich auch geguckt, als er sich mir vorgestellt hat. Du solltest wissen, dass Mikołaj Gras bei sich hat, und Oliver – das ist sein Name – weiß davon."

„Der Typ ist eindeutig lost." Daniel muss wohl die Flaschen losgeworden sein, denn kein Glas stößt aneinander und stimmt die eintönige Melodie an.

„Kommt noch besser." Eine bittere Note ummantelt den Ton meiner Stimme. „Mikołaj hat wegen der Prügelei mit Victor eine Anzeige wegen Körperverletzung an der Backe."

„Stimmt, die habe ich auch gesehen. Da warst du kurz weg, Wasser holen", wendet Elise sich mehr an Daniel. „Es ging wohl um eine Sache auf dem Parkplatz. Mikołaj soll ihn da ziemlich zur Schnecke gemacht haben." Ich denke nach. Bilder leuchten in meinem Kopf auf. Das ist der Tag gewesen, als ich zum ersten Mal zu ihm gefahren bin. Musik. Klara. „Du hast nicht erwähnt, dass Mikołaj beim zweiten Mal mit einem Aschenbecher auf ihn eingedroschen hat? Vic hat 'ne ziemlich üble Platzwunde über dem linken Auge. Die Ironie der Sache ist ja, dass er unter denjenigen gewesen ist, die von den Polizisten mitgenommen worden sind. Mikołaj hat echt großes Glück gehabt."

„Er hat ihn mit einem scheiß Aschenbecher verprügelt?!", hake ich geschockt nach. „Er hat sich doch schon 'mal mit ihm geprügelt. Da war ich sogar dabei. Martin und Vince haben ihn von Vic geholt."

„Und das ziemlich böse." Es ist kühl geworden. „Wenn er Pech hat, gibt's eine wegen gefährlicher Körperverletzung. Mit der ist echt nicht zu spaßen." Sein Vater wird sich freuen. „Fassen wir also zusammen: Die Party hat gut angefangen und hat den Rahmen komplett gesprengt."

„Wie viele wurden abgeholt? Sieben, acht, zwölf? Schon viele." Daniel sieht nach links. „Mann, ich hab' gerade echt gedacht, da springt gleich 'was aus'm Busch. Fuchs oder 'n Schwein." Er schüttelt den Kopf. „Wenn ich eine Sache zum Tod nicht ausstehen kann, dann das hier. Mitten in der Scheißnacht durch den Kackwald gehen, nur um das Auto zu suchen."

„Suchen müssen wir es nicht. Das steht weiter vorne bei der Straße", sage ich gelassen. „Ach, wir machen das Beste draus. Wenigstens sind wir nicht allein. Dann hätte ich auch den absoluten Nervenkrampf bekommen."

„Sag' mal: Sind die beiden eigentlich Polizisten? Martin und Vincent?", wendet Elise sich interessiert an mich.

„Sind sie." Ich lächele etwas. „Aber sind nicht für den Bund tätig, sondern für Brandenburg."

„Gehobener Dienst?"

„Jepp. Vince ist sogar schon Oberkommissar." Ich lache leise in mich hinein. „Willst du etwas von ihm oder von ihnen wissen?"

„Nee, passt schon. Hab' mich nur gewundert, weil die ziemlich professionell mit der Lage umgegangen sind." Wir müssten den Wagen gleich erreicht haben. „Finde ich spannend. So ähnlich stelle ich mir die Arbeit auf der Straße vor. Was freue ich mich schon darauf." Ich frage mich gerade, wie Daniel damit umgehen wird. Ob er Elise zuliebe umziehen wird oder ob sie sich damit arrangieren können, eine Fernbeziehung zu führen. Das wird keine leichte Sache werden. „Daniel, willst du bei mir übernachten oder tust du dir den Weg nach Hause an?"

„Du kannst nachher Platz für mich machen. Ich fahre heute nirgendwo mehr hin. Ist schon schlimm genug, dass ich in drei Stunden arbeiten muss." Stimmt. Da war ja noch etwas. Heute ist erst Samstag. „Ich glaube, ich werde mir nachher drei Kannen schwarzen Kaffee mitnehmen." Daniel murrt angefressen. „Schon schlimm genug, dass wir nachher die großen Aufträge erledigen müssen. Warum müssen die alle Samstag kommen? Ist ja nicht so, dass unter Woche nichts ansteht."

Ich spiele mit dem Autoschlüssel herum. Beschließe, in meine eigene Welt zu verschwinden. Heute Abend soll ich Jakub wiedersehen. Ich halte ein wenig inne, aber so, dass meine beiden Begleiter nichts mitschneiden. Ohne mich. Das habe ich für mich entschieden. Ich will mit Mikołaj nichts mehr zu tun haben. Er hat bei mir die letzte Karte gezogen. Auf gut Deutsch gesagt: Die Arschkarte. Es ist schade um Jakub, ja. Das gebe ich gerne zu. Ich habe von ihm ein anderes Bild gewonnen. Ob es sich genau schnell ändert wird wie bei Mikołaj? Verdammte Zweifel. Ein tonloser Seufzer weicht von meinen Lippen. Ich sollte aufhören, so gutgläubig zu sein.

In Ordnung. Es ist zwar mittlerweile fünf Uhr, aber ich bin wohlbehalten nach Hause gekommen. Ich bin stellenweise vierzig durch den Wald gefahren. Mit so einem Rudel Rehe sollte man zwischenzeitlich rechnen. Aber dass die einfach stehen bleiben ... Ich kann mich glücklich schätzen, dass Elise und Daniel während der Fahrt geschlafen haben. Daniel haben wir fast nicht wecken können. Wie versprochen habe ich mich bei Elise gemeldet und ihr mitgeteilt, dass ich ohne Zwischenfälle angekommen bin. Unter dem Carport parkt der mattgraue Audi, der Wagen meines Vaters ist also in der Garage untergebracht worden. Ich rolle meinen eigenen Flitzer neben dem Fahrzeug. Normalerweise ist der Carport für zwei Autos ausgelegt – wenn aber mein Vater sein monströses Ungetüm dort zu stehen hat, steht der Audi für gewöhnlich in der Garage, meiner ein Stück weiter vorne. Zu groß sind die Befürchtungen, Kratzer in den Lack zu hauen.

Ich steige aus. Lasse meine Habseligkeiten im Auto. Mir fällt gerade auf, dass Elise ihre Jacke vergessen hat. Dann werde ich sie ihr heute Abend vorbeibringen. Oder am Montag. Ein wenig in Gedanken versunken, suche ich die Haustür auf. Nirgendwo schimmert Licht. Sämtliche Räume liegen in der Stille da. Die Uhr tickt leise. Manchmal flattern Fledermäuse umher. Beim Teich, habe ich gerade gesehen, trippelt ein Igel umher. Das Schloss schnappt leise zu, und ich schäle mich aus der Jacke. Hänge sie weg, ebenso die Schlüssel. Wenn es jetzt fünf Uhr ist, wird es nicht mehr lange dauern, bis mein Vater aufsteht. Vielleicht ist er sogar schon wach. Es würde mich nicht wundern.

Meine Finger tasten nach dem Handy, während ich die Treppe hochgehe. Ich brauche kein Licht, um nach oben zu finden – sämtliche Möglichkeiten, sich zu verletzen, habe ich längst herausgefunden und ausprobiert. Den Zeh anstoßen, mit dem Fuß umknicken, stolpern oder gänzlich langlegen; ich habe alles durch. Na ja, okay. Ich bin bisher nicht heruntergefallen.

Er hat mich angerufen. Ziemlich oft. Einfache Nachrichten über SMS ebenfalls. Ich zucke mit keiner Wimper, als ich das gesamte Protokoll lösche und die Nachrichten hinterher. Keine Chance. Ich bleibe bei meiner Entscheidung. Sie fällt mir nicht leicht – wie schade, dass man Gefühle nicht löschen kann. Das würde mir eine Menge ersparen. Ich werfe einen Blick zum Schlafzimmer meiner Eltern. Die Tür ist geschlossen, und keine Lichtstrahlen zwängen sich hervor. Also schläft er noch. Ein winziges Lächeln erscheint, und ich betrete mein Zimmer. Mir ist irgendwie nach Schlafen nicht zumute. Da geistern mir zu viele Eindrücke im Kopf umher, zu viele Bilder. Wie eine Art Film. Ich setze mich auf die Bettkante, nachdem ich das Nachtlicht angeschaltet habe. Das Handy liegt neben mir. Die Hände gefaltet im Schoß. Mein Blick geht irgendwo auf dem Fußboden verloren.

Natürlich hat er Drogen genommen. Er ist nicht so einer, der sie ablehnt. Mikołaj meint ja, überall dazugehören zu müssen. Ein ungutes Gefühl durchkämmt mich und mischt sich unter die Gedanken. Alkohol und dazu illegale Drogen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er auf die schiefe Bahn gerät. Was wohl Jakub dazu sagen wird? Ich kann es mir schlecht vorstellen. Komisch. Jetzt denke ich gerade an Vincent und Martin. Es ist interessant zu sehen, wie sehr Martin sich um ihn kümmert. Er hat ihn praktisch aufwachsen sehen. Heißt das, er kennt Jakub? Möglich wäre es. Vincent ist mir ein sehr lieber Kerl. Bei ihm weiß ich, dass diese Freundlichkeit und Empathie nicht gespielt sind. Vielleicht bilde ich es mir wegen des inneren Chaos nur ein, aber er zeigt mir gegenüber Interesse.

Echtes Interesse.

„Jess? Kann ich 'reinkommen?" Was habe ich gesagt? Es dauert nicht mehr lange.

Ich sehe zu der Tür. „Ja, klar." Als würde er irgendwohin aufbrechen wollen. Ein weißer Pullover, eine blaue Jeans. Will er noch irgendwo hin? „Willst du weg?" Ich rutsche ein wenig zur Seite, damit er sich neben mich setzen kann. Dann schmiege ich mich an ihn, als würde ich Schutz und Trost suchen. Wobei das Letztere tatsächlich stimmt.

„Nein. Heute nicht mehr. Ich kann nur nicht mehr schlafen." Er wirkt putzmunter und wach. Wie schafft er das? „Drei Stunden reichen aus." Ein kurzes Grinsen, und ich schüttele verständnislos den Kopf. „Ist aber nicht nachahmungswert." Er legt einen Arm um mich. „Und? Wie war die Party? Hab' von Elise gehört, dass sich sehr viele von euch abgeschossen haben? Und dass Prügeleien stattgefunden haben?"

„Lustig. Zumindest am Anfang. Wurde immer ... schräger." Ich schweige für ein paar Sekunden. „Da kamen Typen an, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Na ja, zumindest habe ich eine Menge interessanter Dinge beobachten können. Daniel hat auf Elise aufgepasst, ich war bei Vincent und Martin. Sind zwei vom Sport. Wir haben uns nett unterhalten." Seine Finger zeichnen willkürliche Formen auf meinen Arm. „Ich habe zwölf gezählt, die vom Krankenwagen abgeholt worden sind. Insgesamt fünf wurden von der Polizei mitgenommen. Die kamen zweimal zu uns. Wegen der Ruhestörung und ... wegen der Prügeleien." Der Ton wird belegt. „Mikołaj hat sich insgesamt zweimal geprügelt. Immer mit Victor. Beim ersten Mal haben Martin und Vincent ihn vor Schlimmeres bewahren können. Tja, er hat zu viel getrunken und ist ein zweites Mal auf ihn losgegangen. Elise hat gesehen, wie Mikołaj mit einem Aschenbecher auf Victor eingeschlagen hat."

„Haben Drogen bei euch die Runde gemacht?"

„Die Stimmungsmacher und die Plättchen. Vincent hat erzählt, dass man die ohne Probleme auf den Toiletten bekommen hat."

„Würde mich nicht wundern, wenn er selbst welche genommen hat. Alkohol allein macht nicht unbedingt aggressiv. Es sei denn, man ist es nicht so gewöhnt." Er schnaubt leise. „Zweimal sogar. Ist er unter den gewesen, die mitgenommen worden sind?"

„Wenn ich ehrlich sein soll, denke ich das sogar auch. Mikołaj lässt sich sehr leicht dazu verleiten. Nicht zuletzt wegen seines Graskonsums." Ich schließe halb die Augen. „Nein, Martin hat ihn ins Krankenhaus gefahren. Verdacht auf Alkoholvergiftung, weil er plötzlich bewusstlos geworden ist."

„Na, da wird Jakub sich sehr freuen, wenn er das zu hören bekommt", meint er verächtlich. Der Ton wird liebevoller, als mein Vater ergänzt: „Wie geht es dir?"

„Hm", meine ich nur.

„Hm? Ein bisschen ausführlicher wäre nicht schlecht, Kleines."

„Blöd", murmele ich etwas undeutlich. „Du weißt, wieso."

„Es lässt dir wohl keine Ruhe?"

„Nicht, wenn ich die ganze Zeit daran denken muss. Ich habe schon die Anrufe und Nachrichten gelöscht ... Wären da nicht die eigenen Gedanken." Ich kuschele mich an ihn. „Er hat womöglich eine Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung am Hals. Wegen des Aschenbechers."

„Das soll nicht dein Problem sein." Er seufzt. „Ja, was soll man dazu sagen? Man kann es leider nicht mehr rückgängig machen." Mein Vater streicht mir über den Rücken. „Er wird daraus lernen oder nicht."

„Ich bezweifle, dass er das tun wird."

„Er erinnert mich immer mehr an Jakub", wirft mein Vater plötzlich ein. „Seine erste Person schlug er zusammen, als er unter dem Einfluss seiner Drogen stand. Ging ziemlich übel für den Typen aus."

„Und ... wie alt war er da?"

„Tatsächlich vierzehn. Als er geradewegs in die Gang gekommen ist." Ich kann mich nicht besser fühlen. „Gut, bei ihm fing es mit PCP an, bei Mikołaj nicht ..." Ich unterbreche ihn.

„Kriegt man diesen Mist eigentlich ohne Probleme?"

„Wenn man jemanden erwischt, der sie von einem meiner Verbindungsmänner bezieht, dann schon, ja. Man muss aber recht gute Kontakte in der Szene haben – ich habe dafür gesorgt, dass man PCP nun deutlich schwerer erhält als früher. Früher musste man einfach jemanden ansprechen, der in einem der Umschlagsorte handelt, und du hast sie bekommen. Die Qualität ließ logischerweise mächtig zu wünschen übrig."

„Und ... wo kann man die beziehen?"

„Warum genau willst du das wissen?", entgegnet er forschend.

„Weil ich so langsam denke, dass Mikołaj früher oder später genauso sein wird wie Jakub." Ich gähne leise. Jetzt macht sich die Müdigkeit bemerkbar. „Irgendwann wird er bei PCP landen."

„Mit der Annahme bist du nicht allein." Er lässt mich vorsichtig los. „Du schläfst mir ja gleich weg. Mach' dich bettfertig und husch' in die Falle." Mein Vater lacht verhalten, als ich grummele. „Nicht beschweren, sondern machen. Je länger du es hinauszögerst, desto weniger Lust hast du." Er steht auf. „Wir reden im Laufe des Nachmittags wieder miteinander. Bis dahin will ich, dass du ausschläfst." Seine respekteinflößende Gestalt nähert sich der Tür. „Gute Nacht, Kleines."

„Hmmm." Ich erwidere seinen amüsierten Blick. Er ist nach draußen gegangen, die Tür hinter sich geschlossen. Die Laune hat sich in den Keller verzogen. Das Handy findet seinen Platz auf dem Nachttisch. Ich brauche den Schlaf, aber ob der sich so leicht finden lässt, bezweifele ich.

-

Im Verlauf des heutigen Tages habe ich von Oliver erfahren, dass Mikołaj die nächsten zwei Tage im Krankenhaus verbringen wird. Die Alkoholvergiftung – bei ihm ist eine nachgewiesen worden – ist schlimmer ausgefallen, als man zunächst angenommen hat. Zur Überwachung seiner Werte soll er eben dort verweilen, bis die Ärzte das Okay für die Entlassung geben. Martin hat verhindern können, dass sie extremer ausufert. Fühle ich mich blöd? Nicht wirklich. Er hat es verdient; ich meine, was trinkt er so viel? Aber das ist nicht das, was mich unruhig gestimmt hat. Es ist die zweite Nachricht (Anscheinend muss Oliver meine Nummer von Mikołaj bekommen haben.). Jakub will mich trotzdem sehen. Oliver hat daraus kein Geheimnis gemacht, daher ist er nicht überrascht gewesen, als er es mir mitgeteilt hat. Er besteht unbedingt darauf. Na super. Ich hebe ein wenig die Augenbrauen. Ablehnen kann ich also nicht mehr.

Ich bin gegen fünfzehn Uhr aufgestanden. Ich fühle mich erfrischt und ausgeschlafen. Statt Frühstück habe ich mir irgendeine tiefgefrorene Speise warmgemacht. Wenn Mutter eins gut kann, dann sind es sämtliche Speisen mit Pute und frischem Gemüse. Ich überlege seit der Nachricht, ob ich meinem Vater davon erzählen soll. Er weiß immerhin, dass ich mich mit Jakub schon einmal getroffen habe. Was soll ich erwarten? Eigentlich kann ich mit allem rechnen.

Die Zeit rast. Ich habe außer ausgiebigem Sport nichts Produktives getan. Ich sitze seit dreiviertel fünf hinten im Garten und versuche, mich mit einem Buch abzulenken. Meine Mutter kümmert sich um ihre prächtigen Blumen und Bäume. Wir haben hier zwei Apfelbäume, einen Kirschbaum und einen mit Pflaumen. Eine Zeitlang hat hier ein Birnenbaum seine Wurzeln geschlagen – der ist dank meines Vaters eingegangen. Ganz hinten, in der rechten Ecke, beim Komposthaufen, sprießen Wildblumen und -kräuter. Meine Mutter hat sie erst entfernen wollen, aber auf ständigen Bitten von mir hat sie davon abgesehen. Beim Geräteschuppen, der sich in unmittelbarer Nähe befindet, haben Bienen ihr Nest errichtet. Immerhin keine Wespen.

Mein Vater döst auf dem stilvollen Sofa, welches sich rechts von mir befindet. Den Sonnenhut aus dem Österreichurlaub hat er sich auf das schmale Gesicht gelegt. Ich spähe zu ihm. Lächele etwas. Wenigstens meine Eltern sind entspannt und sorgenfrei. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht gedacht, dass mein Vater nach all der fragwürdigen Arbeit fähig ist, so herunterzufahren.

„Was haltet ihr von der Idee, hier draußen zu essen? Es ist nicht zu warm, und die Mücken gehen einem gerade nicht auf den Geist." Meine Mutter ist erschienen. Sie platziert einen Blumentopf mit hübschen rot-weißen Pflanzen auf den Glastisch.

Ich sehe von meinem Buch auf. Zucke mit den Schultern.

„Hört sich gut an." Meine Augen werden groß. „Wir können doch grillen. Haben wir lange nicht mehr getan. Und Papa will ja heute nirgendwo mehr hin." Ich greife nach Kissen, welches ich an meinen Rücken gelegt habe. „Du pennst nicht." Ich lache los, als es ihn trifft. „Hast du mir nicht erzählt, dass drei Stunden Schlaf ausreichen?" Er wirft mir einen vernichtenden Blick zu, ich erwidere ihn frech grinsend.

„Merk' ich mir", brummt er und beugt sich zur Seite, um den Hut vom Boden zu nehmen. „Ich habe auch nicht geschlafen, sondern gedöst. Da besteht ein kleiner, aber feiner Unterschied." Er richtet sich ein wenig auf. „Ist mir egal. Können wir aber gerne machen." Er gähnt herzhaft. „Haben wir denn noch genug? Sonst fährst du los und holst 'was. Und nein, du brauchst nicht so zu gucken, immerhin hast du das mit dem Grillen vorgeschlagen. Ich komme definitiv nicht mit."

„Weil du faul bist", beginne ich, ihn ein wenig zu ärgern.

„Wir haben noch ausreichend in den Tiefkühlern. Hab' vorhin nachgeguckt." Meine Mutter lächelt amüsiert. „Jess, lass' deinen Vater in Ruhe. Auch solche Tage müssen sein." Sie geht zu ihm und nimmt seinen Kuss entgegen. „Aber ich weiß, was du machen kannst: Du kannst nachher das Gemüse kleinschneiden."

„Das kann Jess machen", wälzt mein Vater diskret die Bitte auf mich ab.

„Nö. Ich esse es gleich weg."

„Ach, ich nicht, oder was?"

„Du bist ja auch 'n Vielfraß." Ich fange lachend das Kissen auf, als er versucht, mich damit abzuwerfen. „Ich dachte, du seist so gut im Zielen? Was ist los? Schwächelst du?"

„Dieses Kind treibt mich noch in den Wahnsinn", meint mein Vater seufzend. Ich grinse triumphierend. „Jaja, ich mach's. Bloß nicht zu viel bewegen."

„Quatsch, das bildest du dir nur ein." Meine Mutter streicht ihm flüchtig durch die Haare, ehe sie sich den Topf nimmt. „Wenn ich mit der Gartenarbeit fertig bin, können wir es vorbereiten."

„Du bist nie fertig mit dem Garten", ruft mein Vater ihr hinterher. „Ich liebe dich auch, mein Schatz!", ergänzt er lachend, als sie ihm den Mittelfinger gezeigt hat. „Wäre das geklärt. Jetzt lasst mich wieder in Ruhe." Anstelle der ursprünglichen Position, holt er das Glas Wasser zu sich.

„Paps? Ich muss dir 'was relativ Wichtiges beichten." Ich werde es ihm sagen. Das Buch bleibt auf meinen Beinen liegen, und ich schiebe mich etwas höher.

„Dann raus mit der Sprache."

„Mikołaj liegt mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus. Oliver – falls du es bis dato noch nicht gewusst hast: Er ist sein Halbbruder – hat mir mitgeteilt, dass er bis übermorgen dort bleiben wird. Die zweite Sache ist die: Jakub will mich sehen." Ich schlucke leise. Mein Vater zieht keine Miene. „Beim letzten Mal hat er gemeint, dass er uns wiedersehen wolle."

„Kommt nicht infrage. Du bleibst hier." Sein Ton duldet keine Widerrede. „Ich will nicht, dass du Kontakt mit ihm aufbaust. Es ist schon schlimm genug, dass du etwas mit Mikołaj zu schaffen hast." Das Glas steht wieder auf dem Tisch. „Jakub ist ein ganz anderes Kaliber als Mikołaj."

Soll ich diesen Schritt wagen?

„Aber beim letzten Mal hat er nichts ... Okay, okay. Ich werde nicht zu ihm fahren." Sein Blick macht mir schlichtweg Angst.

„Thema ist beendet." Er legt sich wieder hin.

„Du glaubst nicht daran, dass Jakub sich verändert hat, oder? Trotz des Fakts, dass er nun eine Familie hat und von den Drogen weggekommen ist?"

„Hast du mir eigentlich zugehört? Das Thema ist beendet."

„Ich verstehe nur eine Sache nicht: Beim letzten Mal haben wir auch darüber gesprochen. Da hat es doch komischerweise nicht gestört."

„Ja, dann eben jetzt."

„Warum lässt du die Vergangenheit nicht endlich hinter dir und verzeihst ihm? Jakub hat es geschafft." Ich mache mich klein und starre den Tisch an. „Ich weiß, dass ich dich nerve. Das ist beabsichtigt."

„An deiner Stelle würde ich aufpassen. Du bewegst dich gerade auf ganz dünnem Eis." Er erwidert meinen Blick frostiger als sicherlich beabsichtigt.

„Auf einmal?" Ich bin mir bewusst, dass ich ihn nicht besser weiter reizen sollte.

„Was genau versuchst du zu beabsichtigen? Lass' doch das Thema einfach sein. Es ist geklärt."

„Na ja." Ich lege das Buch beiseite und nehme stattdessen das Handy zur Hand. „Früher wart ihr sehr gute Freunde und jetzt hasst ihr euch bis aufs Blut. Gibt's da keinen ... Rest in dir, der trotzdem irgendwie an Jakub hängt?"

„Lass' mich mit dem Thema in Ruhe", knurrt er warnend. „Ich will darüber nichts mehr hören." Mein Vater fegt sämtlichen Ärger fort, als meine Mutter erneut zu uns geht. „Na? Fertig geworden?" Ein wahrer Meister im Verstecken von Emotionen. Ich steuere keinen weiteren Kommentar bei und klinke mich aus dem folgenden Gespräch aus. Dafür konzentriere ich mich auf mein Handy. Oliver hat mich vor einigen Minuten gefragt, ob ich damit einverstanden wäre, dass er meine Telefonnummer weitergeben könnte. An Jakub.

Ach du Scheiße.

Ich linse aus einem schmalen Seitenblick zu meinen Eltern. Jetzt sieht er wieder so glücklich und unbekümmert aus. Das Lächeln so echt, dass es nicht falsch sein kann. Sie reden über das Abendessen. Ich höre nicht weiter hin. Ich brauche nicht lange zu überlegen. Lasse ihm mein Einverständnis zukommen. Oliver reagiert ziemlich schnell. Ein knappes in Ordnung von ihm. Mein Herz schlägt im Augenblick viel schneller als sonst. Aufregung, Angst – zu viele Emotionen in einem kochenden Topf, der droht, überzulaufen. Ich lehne mich wieder zurück, rutsche ein wenig herunter. Versuche, ganz locker zu wirken.

Da. Eine Nachricht von einer unbekannten Nummer. Ich frage mich gerade, in was für eine Scheiße ich mich da gewickelt habe. Das wird niemals gut ausgehen. Tiefer kann ich nicht mehr sinken. Na ja, wobei ... Bei mir ist alles möglich. Womöglich werde ich erleben, wie mein Vater jegliche Nerven verliert.

Er würde sich seit heute Morgen bei Mikołaj aufhalten. Er hätte von ihm keine Antworten bekommen. Von Oliver selbst nicht, weil er nur oberflächlich geantwortet hätte. Er will von mir erfahren, ob ich mehr wisse. Etwas, das Oliver bisher nicht aufgenommen hätte. Ich schlucke leise. Ich will nicht wissen, wie groß das Ausmaß seiner Wut sein wird. Also tippe ich zögerlich, langsam:

Ich weiß es selbst nur aus zweiter Hand. Von einer guten Freundin. Sie meinte, beobachtet zu haben, wie er völlig betrunken und aggressiv auf jemanden aus unserer Klasse mit einem Aschenbecher eingedroschen haben soll. Victor und er können sich nicht wirklich ausstehen, nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass sie sich während der Schulzeit schon 'mal in die Haare gekriegt haben. Victor soll eine Platzwunde bekommen haben. An einer Schläfe. Falls du es wissen willst und/oder es noch nicht gehört hast: Mikołaj hat laut Martin eine ganze Flasche Wodka und Pfefferminzlikör getrunken. Zwischendurch viel Tequila, Martinis, Bier, Jägermeister und diesen Polenwodka. Da weiß ich nicht, ob er ihn auch unverdünnt getrunken hat.

Und abgeschickt. Ich speichere die Nummer ein. Nutze einige Sekunden, um mir das Foto anzuschauen und den Status durchzulesen. Wie zu erwarten, kann ich mit keinem Wort etwas anfangen, obwohl mir die meisten Wörter sehr bekannt vorkommen. Das Foto ist ein anderes. Dieses Mal steht er allein da – ein ansehnliches Portrait, und im Hintergrund sein eindrucksvoller Sportwagen. Jakub sieht danach aus, als würde er den Betrachter zu einem Rennen auffordern.

Er hat sie gelesen.

Jakub: Schaffst du es, heute Abend um halb zehn wieder auf dem Parkplatz zu sein? Falls du irgendwie Angst haben solltest: Die brauchst du nicht zu haben. Ich werde dir nichts tun, das habe ich dir beim letzten Mal hoffentlich zu verstehen gegeben.

Ich: Ich habe keine Angst vor dir, auch wenn du denkst, dass es danach ausgehen hätte. Ich weiß nämlich, dass du dich zum Positiven verändert hast. Ich würde gern, nur mein Vater ist dagegen. Er ist überhaupt nicht begeistert über die Tatsache, dass ich jetzt in Kontakt mit dir stehe.

Jakub: Das freut mich sehr zu hören. Es hätte mich sehr gewundert, wäre dies anders. Denkst du, du könntest es trotzdem versuchen/schaffen?

Ich: Er wird mich umbringen.

Jakub: Du könntest auch versuchen, ihn herzubringen.

Ich: Du willst mich auf den Arm nehmen.

Jakub: Nein. Das ist mein völliger Ernst. Er soll sich ein eigenes Bild von mir machen. Weißt du, ich glaube nach wie vor daran, dass er irgendwann bereit sein wird, mir zu verzeihen. Die Momente, die wir vor ungefähr siebenundzwanzig Jahren erlebten, wird und kann er nicht vergessen.

Ich: Mein Vater hat mir erzählt, dass er dich bewusst vergessen hat. Damals.

Jakub: Das verstehe ich jetzt nicht.

Ich: Da war er gut auf dich anzusprechen. Er hat dich bewusst vergessen, weil er Angst hatte, dich zu verlieren. Zitat: „Lieb gewordene Menschen können eine sehr gefährliche Waffe sein." Dein möglicher Verlust hätte ihn ins Schlechte verändert. So wie ich ihn verstanden habe, hat er dich also ignoriert, um sich und dich zu schützen.

Jakub: Okay.

Ich: Ja.

Jakub: Das ändert eine Menge Dinge.

Ich: Kann ich mir gut vorstellen.

Jakub: Versuch', ihn heute Abend mitzubringen. Es wird Zeit, dass wir uns dringend unterhalten und die Scheiße von damals endgültig vergessen.

Ich: Ich kann dir weder etwas versprechen noch garantieren.

Jakub: Das verlange ich nicht.

Ich atme tonlos aus und sehe auf. Wie soll ich das bitte schön anstellen? Soll ich unweigerlich mit der Tür ins Haus fallen? Mein Vater bringt mich um. Ich schüttele sehr sachte den Kopf. Super. Was für einen Vorwand könnte man nutzen? Mir fällt höchstens Elises Jacke ein, die auf dem Beifahrersitz liegt.

„Ich müsste nachher kurz weg", beginne ich sicheren Tones und suche den Blick meines Vaters. Er ist gerade aufgestanden. Die ohnehin schon braune Haut eine Nuance dunkler. Familienbedingt liegen seine Wurzeln irgendwo in den südlichen amerikanischen Staaten. Das habe ich nebenbei bei einem Weihnachtstag erfahren.

„Ah ja. Und wohin?", hakt er misstrauisch nach und zupft das weiße Shirt zurecht.

„Elise hat ihre Jacke in meinem Auto vergessen. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du gern nachsehen." Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Ich habe sie gefragt, ob sie eventuell etwas vergessen hätte. Ich bin so nett und werde sie ihr vorbeibringen."

Er verengt sehr leicht die Augen. Ich halte dem furchteinflößendem Blick Stand.

„Wenn du meinst." Mehr kommt nicht. Mein Vater lässt mich allein, während er ins Haus geht. Ich hoffe inständig, dass er Verdacht geschöpft hat. Meine Aussage hat immerhin eine sehr große Angriffsfläche geboten.

Er muss darauf anspringen. Verdächtiger kann es nicht mehr sein. Ich streiche manchmal über den Display. Es wird Zeit zu lernen, mit der Vergangenheit abzuschließen. Man kann ihr nicht das ganze Leben über nachtrauern. Er muss es einfach lernen. Und wenn ich dafür ins kalte Eis einbrechen muss: Mir wird es wert sein.

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