Hinter der Mauer Part I

By DisneyDreamWorks13

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|π™·πš’πšŒπšŒπšœπšπš›πš’πš/π™·πšƒπšƒπšˆπ™³ π™°πš„ π™΅πšŠπš—πšπš’πšŒπšπš’πš˜πš—| Gefangen hinter einer StΓ€dte weiten Mauer und ohne... More

Vorwort
Prolog
1 - Am Anfang war die Apokalypse
3 - Die Dateien einer Mutter
Cover Art

2 - Notlager

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By DisneyDreamWorks13

Er stellte sich vor Max und mich, legte mir den Kompass in die Hand und zog ein langes Messer aus der Halterung an seinem Gürtel. »Ihr beiden bleibt hier, während ich herausfinde, wer sie sind. Wenn ihr mich rufen hört, rennt ihr dort lang, verstanden?« Er zeigte in die Richtung, die wir angestrebt haben, bevor wir von den Geräuschen abgelenkt wurden. Wahrscheinlich lag nicht weit von hier das Notlager.

»Verstanden«, antwortete ich und er setzte sich in Bewegung. Nach ein paar Schritten war er zwischen den Bäumen verschwunden und mein Bruder und ich blieben allein zurück.

Max umklammerte meine Hand, jederzeit bereit mit mir loszurennen, auch wenn er wusste, dass er nicht so gut Schritt halten konnte. Er sah sich immer wieder ängstlich um, doch ich starrte weiter geradeaus, wo unser Vater hingegangen war. Ich konnte keine Gespräche, Schritte oder Geraschel mehr hören, es war aber auch nicht totenstill. In einem der Bäume war ein Vogelnest, aus dem man Küken leise nach Futter rufen hören konnte, ein Eichhörnchen lief an uns vorbei, was Max' Aufmerksamkeit kurz auf sich zog, und irgendwo fiepste eine Maus.

Die Zeit verging ohne ein Zeichen. Hatte unser Vater sie weggelockt? Waren sie gefährlich? Oder angesteckt mit was auch immer die Testperson in sich trug? Wieso hatte er noch nicht gerufen? Was sollten wir machen? Hier bleiben? Rennen? Für was sollte ich mich entscheiden? Mein Herz klopfte gegen meine Rippen. Es konnte unser Leben bedeuten, ob wir warteten oder gingen. Ich musste für uns handeln. Mein Blick wanderte in die Richtung, in die unser Vater gezeigt hatte. Wie weit war das Lager entfernt? War es noch sicher? Waren überhaupt Leute vor Ort? Aber es war unser einziger Anhaltspunkt, wir mussten dorthin für unsere eigene Sicherheit. Ich würde Max nicht hier draußen sterben lassen.

Gerade als ich ihm meine Entscheidung mitteilen wollte, hörte ich Schritte. Schwere und laute, was mir verriet, dass ich sie hören sollte, denn unser Vater hatte beim Militär gelernt leichtfüßig zu gehen. Es folgte ein Pfeifton, der tief begann und hoch endete. Das hatte er uns ebenfalls beigebracht: ein Entwarnungszeichen. Somit wusste ich, dass alles in Ordnung war, was mich erleichtert ausatmen ließ.

Er war nicht allein, als er zwischen den Bäumen hervorkam. Neben ihm lief ein mittelgroßer, dunkelblonder Mann, der ein Holzfällerhemd mit einer dunkelblauen Weste darüber, eine helle Jeans und schwarze Stiefel trug. Die Falten in seinem Gesicht deuteten darauf hin, dass er mindestens schon in seinen Vierzigern war. Sein Kinn war glattrasiert und ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Sie blieben vor uns stehen.

»Das ist Alex«, stellte Papà ihn vor. »Er leitet das Notlager, zu dem wir unterwegs sind.«

»Wir haben es also gefunden?«, sagte Max mit einem hoffnungsvollen Glanz in den Augen.

Alex sah ihn warm an. »Allerdings, kleiner Mann. Du brauchst keine Angst mehr zu haben, ihr seid jetzt in Sicherheit.«

»Fürs Erste«, sagte ich, immerhin waren wir noch mitten in der Gefahrenzone.

Er schaute mir ins Gesicht, wodurch ich erkennen konnte, dass seine Augen genauso blau wie meine waren. »Bis das Militär uns abholen kommt, ja. Das erkläre ich euch aber alles im Lager in der großen Runde, wenn es euch recht ist. Wir sollten uns nicht lange im Wald aufhalten.«

Alex schritt voran, wir drei hinterher. So konnte ich erkennen, dass er eine Pistole in der hinteren Hosentasche stecken hatte. Ich trat näher an meinen Vater heran, Max' Hand weiterhin in meiner. »Wo ist der andere? Da waren zwei Stimmen vorhin«, flüsterte ich ihm zu.

»Er ist weiter in den Wald hineingelaufen, um nach anderen Überlebenden zu suchen. Das ist der Grund, weshalb die beiden überhaupt hier draußen sind.« Ich nickte und folgte Alex stumm weiter.

Nach ein paar Minuten des Marsches, kamen einige Blockhütten in Sicht. Sie standen im gleichen Abstand nebeneinander, verliefen weit nach rechts und waren durch Gestrüpp vom Rest des Waldes abgegrenzt. Alex bog ein wenig nach links und führte uns zu einem breiten Schotterweg, der den Eingang des Lagers bildete. Wir liefen auf den Platz, der sich durch die Aufreihung der Hütten zwischen ihnen gebildet hat, wo sich einige Menschen befanden und miteinander sprachen. Manche von ihnen schauten auf, als sie uns bemerkten, beachteten uns aber nach einem kurzen Blick nicht weiter. Wahrscheinlich hofften sie auf vertraute Gesichter, was ich nur zu gut verstand. Ich erkannte niemanden hier.

Als ich mich umsah, dachte ich mir, dass das alles vor längerer Zeit gebaut worden sein musste. Es kam mir vor wie ein kleines abgegrenztes Siedlerdorf, vor allem, weil der Boden gepflastert und keine plattgetretene Erde war. So etwas errichtete man nicht in ein paar Tagen. Wie lange hat meine Mutter das schon geplant? Seit wie vielen Jahren log sie uns an? Denn ich war mir sicher, dass sie nicht nur für das entlaufene Experiment verantwortlich war.

Wir blieben stehen und Alex drehte sich zu uns um. »Willkommen im dreizehnten Notlager. Der kleine Trampelpfad dort drüben führt zu den Wasch- und Toilettenhäuschen, die durchgehend beleuchtet sind. In den Hütten befinden sich jeweils zwanzig Hochbetten, es könnte also etwas enger werden. Die Einteilung findet hier vorne im Haupthaus statt, dort bekommt ihr auch Frühstück und Mittagessen. Ein Gong sagt euch Bescheid, wenn es soweit ist. Der Schotterweg hier ist mit der nächsten Hauptstraße verbunden und soll in erster Linie dem Militär dienen, uns zu finden. Wir selbst bleiben im Lager, bis wir neue Anweisungen erhalten. Habt ihr noch Fragen?«

Ich schaute vom Weg zu ihm. »Wie lange wusstest du schon, dass du eines Tages hier der Leiter sein wirst?«

Er sah mich für eine Sekunde blinzelnd an. »Ich verstehe nicht ganz ...«

Entweder hatte er wirklich keine Ahnung worauf ich hinauswollte, oder er war ein sehr guter Schauspieler. Ich tippte auf Letzteres, denn woher hätte er von letzter Nacht wissen sollen? Woher hätte er von diesem Lager und all den Regeln und seiner Aufgabe hier wissen sollen, wenn nicht von meiner Mutter direkt beauftragt? Und das nicht erst gestern.

Nachdem keiner von uns mehr etwas sagte, lächelte er vorsichtig. »Wenn das alles ist, würde ich euch nun allein lassen. Es gibt da ein paar Dinge, die ich erledigen muss. Olivia wird euch im Haupthaus einer Hütte zuweisen.« Damit ließ er uns hier stehen und lief zum anderen Ende des Lagers.

Ich drehte mich zu meinem Vater. »Du hast verstanden, was ich meine, oder?«

Er sah mich an und nickte. »Es ist kein Zufall, dass diese Notlager bereit standen. Alex weiß definitiv mehr, als er Preis geben will.«

Ich schaute in die Richtung, in die er verschwunden war. Der Platz füllte sich langsam mit den Menschen, die in der Nacht angekommen waren. Kinder und Erwachsene jeder Altersklasse, einige Schwangere waren dabei, Kleinfamilien, die sich zusammentaten. Was sie wohl erlebt hatten? Waren sie durch die Stadt gegangen? Haben sie das Unheil mit eigenen Augen gesehen?

»Was meinst du, wie lange sie schon an all dem gearbeitet hat?«, fragte ich leise meinen Vater.

Er seufzte, was mich zu ihm schauen ließ. »Ich weiß es nicht, Astrid. Sehr lange, wahrscheinlich. Aber mit allem, was in unseren Leben passiert ist, ist es kein Wunder, dass niemand etwas gemerkt hat.« Er rieb sich mit einer Hand durchs Gesicht. »Ich kannte sie nicht so gut, wie ich dachte. Zumindest nicht mehr in den letzten Jahren.«

Darauf antwortete ich dieses Mal nicht mit einem sarkastischen oder beißenden Kommentar. Diese Erkenntnis lag ihm schwer auf dem Herzen, was mir seine glanzlosen Augen und heruntergezogenen Mundwinkel verriet. Ich fühlte mich auf einmal schlecht, weil ich ihn gestern Nacht dafür angegangen war. Wie hatte ich meine Wut auf ihn konzentrieren können? Schließlich hat er kurz vorher erfahren, dass seine Ehefrau, die er über alles liebte, an etwas gearbeitet hat, was die uns bekannte Zivilisation in den Untergang führen könnte.

Deshalb entschuldigte ich mich bei ihm, woraufhin er mich erst überrascht ansah, dann aber lächelte. »Ist schon gut. Ich kenne dich immerhin, mia stellina.« Den Spitznamen nutzte er bereits seit meiner Geburt für mich, weil ich sein unerwarteter Stern war. Man würde denken, er meinte Schatz, aber nein, ich war ein leuchtender Stern für ihn, dessen Licht in seinen Augen niemals erlöschen würde. Es war eines der schönsten Dinge, die mir jemals jemand gesagt hat.

Er nahm Max' Hand in seine. »Kommt, wir müssen noch zugewiesen werden.«

✵ ✵ ✵

Es wurde Hütte Nummer acht, in der uns eine Mutter mit drei Kindern empfing. Sie stellte sich als Charlotte vor und erklärte uns, dass noch sieben weitere Personen, drei Teenager, eine Frau in ihren Zwanzigern und eine Kleinfamilie, in der Hütte wohnten, die wohl allesamt im Lager unterwegs waren. Sie zeigte uns, welche Hochbetten leer waren, von denen Max und ich uns eins teilen würden. Unser Vater schlief unter einem der Teenager, weil das Bett gegenüber von unserem stand.

»Und hier sind die Schränke, in denen ihr Schlafanziehsachen und Hygieneartikel findet«, sagte Charlotte zum Schluss. Es waren insgesamt fünf Stück, alle nebeneinander als Wanderweiterung eingebaut. In jedem befanden sich zehn Versorgungspakete. Wir suchten uns den ganz rechts aus, legten aber nichts hinein und holten auch nichts heraus.

Charlotte lud uns noch ein, beim Essen bei ihr zu sitzen, bevor sie sich ihre drei jungen Kinder schnappte und die Hütte verließ. Sie sprach es zwar nicht aus, aber ich wusste, dass sie das tat, um uns Ruhe zu geben. Ich sah ihr hinterher und fragte mich, wie sie es überhaupt mit den Kindern hierher geschafft hat. Ihre Nacht musste schlimm gewesen sein.

Max setzte sich auf unser Bett, Papà und ich taten es ihm gleich. Für eine Weile starrten wir nur Löcher in die Luft und sprachen nicht. Wir fingen an zu verstehen, dass das hier die Realität war, wir waren wirklich hier. Unser Zuhause verlassen, die Straßen leer, unzählige Menschen tot und die komplette Stadt lahmgelegt. Wäre ich nicht von einem Soldaten erzogen worden, hätte mich die Situation mehr emotional mitgenommen, als sie es derzeitig tat. Die Schreie von letzter Nacht waren mir ins Mark gekrochen und würden mich in meinen Albträumen heimsuchen, aber ich spürte keine Panik oder Furcht. Ich wusste, was ich zu tun und wie ich mich zu verhalten hatte. Die schlimmen Emotionen und Realisationen konnte ich zulassen, sobald wir in Sicherheit waren. Bis dahin musste ich mich zusammenreißen, vor allem auch, damit Max keine Panik bekam.

Ich sah zu ihm, wie er seinen Kopf an die Leiter lehnte, die zum oberen Bett führte. Äußerlich schien es ihm gut zu gehen, aber mir war klar, dass er dieselben Gedanken wie ich hatte. Was war passiert? Geschah das hier wirklich? Wie ging es Mamma? Mein Herz wurde schwer bei dem Gedanken, dass er erst sieben Jahre alt war und bereits mit so etwas klarkommen musste. Dass er diese schrecklichen Schreie gehört hat und mit uns durch den Wald gerannt ist, wobei er wahrscheinlich mehr Angst gespürt hatte als in seinem bisherigen Leben zusammen.

Jemand klopfte kräftig an der Tür. Unser Vater war sofort auf den Beinen und öffnete demjenigen, der sich als Alex herausstellte. Er lächelte zwar, aber ich konnte erkennen, dass es nur zur Zierde war. Seine angespannte Körperhaltung verriet ihn. Irgendetwas stimmte nicht. »Leonardo, genau zu dir wollte ich. Könntest du einmal mitkommen, bitte? Ich bräuchte deine Hilfe.«

Papà nickte und drehte sich zu uns um. »Ruht euch ein wenig aus, versucht zu schlafen. Ich bin bald zurück.«

Ich nickte ihm zu und er verschwand mit Alex. Max zog sich bereits die Schuhe und Jacke aus, kletterte aber nicht die Leiter hinauf zu seinem Bett, sondern legte sich unten in meins. Ich tat es ihm gleich, deckte uns mit der Wolldecke zu und küsste ihn auf den Kopf. Es dauerte nicht lange, da war er vor Erschöpfung eingeschlafen und ich folgte ihm.

✵ ✵ ✵

Jemand rüttelte sanft an meiner Schulter, was mich meine Augen aufschlagen ließ. Mein Vater stand am Bett und zeigte mir, ihm zu folgen. Ich wickelte mich vorsichtig von Max ab, um ihn nicht zu wecken, zog Schuhe und Jacke an und lief nach draußen auf die Veranda, wo er stehen blieb. Er sah sich um, als wollte er sich versichern, dass uns niemand hören konnte.

»Was ist los?«, fragte ich leise.

Er drehte sich mit einem letzten Blick zum Haupthaus zu mir. »Der Kontakt zu den anderen Lagern ist abgebrochen. Der Funk geht nicht durch.«

Scheiße, schoss es mir sofort durch den Kopf. »Was machen wir jetzt?«

»Alex schickt in diesem Moment ein paar Leute los, um die Strommasten und Leitungen zu überprüfen. Wir glauben, dass sie unterbrochen wurden oder jemand das Hauptstromzentrum abgeschaltet hat. Bis wir Näheres wissen, sollen wir es niemandem erzählen. Alex will keine Massenpanik auslösen.«

Ich nickte. »Okay.«

Er sah mich kurz überlegend an. »Du hast dein Handy mitgenommen, oder?«

»Ja«, sagte ich und holte es dabei aus der Jackentasche heraus. Bereits auf dem Sperrbildschirm konnte ich sehen, dass es kein Signal empfing. Es wurden auch keine Nachrichten oder verpasste Anrufe angezeigt. Entweder war nichts durchgegangen oder niemand vermisste mich. Letzteres konnte ich mir nur schwer vorstellen, sie lebten immerhin nicht in der Stadt und sollten mittlerweile von dem Ausbruch erfahren haben. Oder sie waren ebenfalls betroffen.

»Papà.« Seine Augen wanderten vom Schotterweg zu mir. »In der Nachricht letzte Nacht stand, ›Greensburgh und die umliegenden Städte‹. Was ist, wenn das Experiment schneller war als die Vorkehrungen? Denkst du ...?«

Er verstand, was ich meinte, woraufhin sein Gesicht einen traurigen Ausdruck annahm. »Ich weiß es nicht, Astrid. Wir können nur hoffen, dass es nicht so weit gekommen ist und sie alle in Sicherheit sind.« Er legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie.

Ich sah hinunter zu meinem nutzlosen Handy, erinnerte mich aber an etwas, als ich mein Hintergrundbild sah. »Wieso sollte ich eigentlich meinen Laptop mitnehmen?«

Das schien ihn ebenfalls zu erinnern, denn seine Augen weiteten sich. »Deine Mutter. Sie hat mir am Telefon gesagt, dass wir darauf alle Informationen finden werden, die wir brauchen.«

Wir gingen zurück in die Hütte, wodurch Max wach wurde. Seine Lider flatterten kurz, bevor er seine Augen öffnete und ausgiebig gähnte. Ich holte meine Tasche unter dem Bett hervor und kramte den Laptop heraus. Mein Bildschirm leuchtete auf, zeigte mir vier lächelnde Gesichter an Halloween des letzten Jahres, und verlangte mein Passwort.

»Wo würde Mamma die Dokumente verstecken?«, fragte ich, während mein Laptop lud.

Mein Vater seufzte und schien zu überlegen. »Irgendwo, wo du nicht oft nachschaust. Wo es nicht offensichtlich ist und du es nicht sofort finden würdest. Vielleicht bei alten Fotos oder unter Dokumente.«

Bei Dokumente war ich richtig, dort fand ich nämlich einen Ordner, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Darin befand sich ein weiterer Ordner, der mit ›Erst im Notfall öffnen‹ betitelt war. Ich klickte darauf, woraufhin sich nach kurzem Laden eine PDF öffnete, deren erste Seite dunkelblau war. In der Mitte stand Virus B7 in silbernen Druckbuchstaben. Ich drehte den Bildschirm zu meinem Vater.

»Wenigstens wissen wir jetzt, um was es sich handelt«, sagte er mit gerunzelter Stirn.

»Was ist ein Virus?«, meldete sich Max, der mittlerweile neben mir saß und ebenfalls den Laptop ansah.

»Das ist etwas, was in deinen Körper gelangt und dich krank macht«, erklärte ich. »Wie bei der Grippe.«

»Haben die Menschen deshalb so viel geschrien?«, fragte er. »Weil sie gemerkt haben, wie das in sie gegangen ist?«

Da blieb mir die Luft im Hals stecken. Natürlich waren diese Erinnerungen genauso in seinem Kopf eingebrannt, wie in meinem. Bisher hatte ich noch nicht genau darüber nachgedacht, auch wenn es mir unterbewusst klar war. Die Schreie, die Sirenen, die Flucht, die Unwissenheit über unsere Mutter. Ich wollte nicht, dass er sich darüber Sorgen machen musste, aber ich konnte ihm diese Last nicht wegnehmen, er steckte mittendrin, wie wir anderen auch. Er war zu jung für all das hier, er sollte nicht so kaputt sein, wie ich es bereits war.

»Ja«, antwortete unser Vater, da ich keine Antwort bilden konnte. »Aber mach dir keine Sorgen um sie.«

Denn sie sind sehr wahrscheinlich tot, beendete ich den Satz in meinen Gedanken.

Ich zwang mich meinen Bildschirm anzuschauen und scrollte ein wenig durch die Datei, um mir einen Überblick von der Menge zu verschaffen. Es war auf jeden Fall nicht wenig.

»Ihr solltet schlafen«, sagte ich schlussendlich und schaute auf. »Es wird eine Weile dauern, bis ich mich hier durchgelesen habe.«

Papà nickte und öffnete seine Schnürsenkel. Max gab ich einen Kuss auf den Kopf, bevor er sich wieder hinlegte. Als ich mit meinem Laptop vor die Tür ging, war Max schon wieder eingeschlafen und unser Vater hatte sich hingelegt, starrte aber noch die Matratze über sich an. Seine Füße ragten ein wenig über das Ende des Bettes hinweg; sie waren eben nicht für eins fünfundneunzig große Männer geschnitten. Ich machte es mir an dem Picknicktisch auf der Veranda gemütlich und las mir alles durch, was meine Mutter über ihr verrücktes Experiment gewusst hatte.

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