An genau diese Tür klopften wir an, als wir uns durch den Dschungel an Kinderspielzeug geschlängelt hatten, das herumlag. Von drinnen ertönte ein „Herein" und ich steckte meinen Kopf ins Zimmer. Am anderen Ende des kleinen Raums saß Dean an seinem Schreibtisch, sprang aber gleich auf, als er mich erkannte.
„Nora! Wie bist du denn hierhereingekommen?", fragte er etwas undeutlich durch meine Haare, da ich ihn fest umarmte. Ich hatte ihn vermisst.
„Deine Mutter hat uns geöffnet", erklärte Eva hinter mir. „Werde ich heute auch noch begrüßt? Oder wollt ihr euch weiter totknutschen?"
Sie wurde. Dean und ich trennten uns etwas widerstrebend voneinander. Nachdem auch Eva für ihr Empfinden ausreichend begrüßt worden war, stellten wir unsere Rucksäcke ab. Wir würden zu dritt im Zimmer schlafen, wobei uns Dean freundlicherweise sein Bett überließ und auf einer Luftmatratze daneben nächtigen würde.
Seine restlichen drei Geschwister waren gerade noch mit seinem Stiefvater unterwegs, würden aber bald zurückkehren. Und am Abend würden wir alle gemeinsam Silvester feiern, wobei uns Dean immer noch nicht verraten wollte, wie das ablaufen würde.
Dafür erzählte er uns allerdings, dass Seamus ebenfalls kommen würde. Sein bester Freund kam heute noch mit seinen Eltern nach London gereist, weil sein Vater als Muggel die Silvesterfeier nicht verpassen wollte. In der Hauptstadt wurde wohl etwas größer gefeiert als in Irland.
Zum Glück wollten sie nicht auch noch bei Dean übernachten, das wäre in seinem kleinen Zimmer auch gar nicht gegangen. Das Bett, der Schreibtisch, eine kleine Kommode und ein Bücherregal hatten gerade so Platz darin gefunden. Die eine Luftmatratze stellte schon eine logistische Herausforderung dar.
Sonst fand ich sein Zimmer aber sehr schön und durch die Größe auch äußerst gemütlich. Die Wände waren über und über mit Postern seiner Lieblingsfußballmannschaft bepflastert, was wohl die Muggelentsprechung von Quidditch war. Sie bewegten sich nicht, weshalb ich es etwas unsinnig fand, sie überhaupt aufzuhängen. Dann kannte man ja bald jedes Detail daran und es wäre langweilig.
Das sahen Dean und seine Familie aber wohl etwas anders. Im ganzen Haus hingen unbewegliche Fotografien von ihm und seinen Halbgeschwistern in den verschiedensten Stufen ihrer Entwicklung.
Als wir die Treppe hinunterstiegen, weil Deans Stiefvater mit dem Rest der Familie zurückgekehrt war, bemerkte ich ein Foto von meinem Freund, wie er vielleicht zwei Jahre alt war und mit ebenso vielen Zähnen in die Kamera grinste. Ich musste schmunzeln. Er war so süß gewesen, wobei ich nach einem Blick über die Schulter sagen konnte, dass er mir auch jetzt sehr gut gefiel.
Unten im Wohnzimmer war mit der Rückkehr seiner Halbgeschwister auch deutlich mehr Leben eingekehrt. Annie hatte mittlerweile ihren Brei verspeist und spielte nun in einer Ecke mit Bauklötzchen. Dass sich direkt neben ihr einer ihrer Brüder mit ihrer Schwester stritt, schien sie gar nicht mitzubekommen, so vertieft war sie.
Deans anderer Bruder war in eine Diskussion mit seinem Vater Simon vertieft. Es schien um die Feier heute Abend zu gehen und dass er lieber zu einem Freund wollte.
Kurz gesagt: es herrschte absolutes Chaos. Trotzdem fand Deans Mutter Zeit und begrüßte uns noch einmal, ohne dass ihr ein Breiunfall dazwischenkam. Sie stellte sich als Jasmine vor und fragte uns augenzwinkernd, ob wir nicht ein bisschen mit Magie Ordnung schaffen könnten.
Das durften wir zwar nicht, da sie ja als Muggel galten und das Zaubereiministerium bestimmt etwas dagegen hatte, trotzdem kehrte Ruhe ein, als man Eva und mich entdeckte. Drei Paar identischer brauner Augen und ein etwas helleres Paar betrachteten uns. Simon ergriff als erster das Wort und begrüßte uns mit einem Handschütteln. „Schön, dass wir uns endlich einmal kennenlernen", sagte er und sah mich dabei an. „Dean hat schon sehr viel über dich erzählt." Ich blickte mit hochgezogener Augenbraue zu Dean, konnte aber ein leichtes Kräuseln der Mundwinkel nicht verhindern. Er lächelte mich nur warm an.
Je mehr der Tag in die Nacht überging, desto ungeduldiger wurden Deans kleine Geschwister. Nach meinem Freund war wohl Lewis der älteste, allerdings mit einigen Jahren Altersunterschied. Dann kamen Jason und Zoe mit nur einem Jahr Abstand zueinander, sodass ich sie anfangs für Zwillinge gehalten hatte. Die jüngste war die kleine Annie, die das Breimassaker veranstaltet hatte.
Dass Seamus irgendwann mit einem seltsamen Apparat namens Telefon Bescheid gab, dass er mit seinen Eltern bereits an der Themse stand und Plätze für uns reservierte, kam als willkommener Startschuss. Überall wurden nun Jacken angezogen und Schuhe zugemacht. Klein Annie wurde in einen Wagen gesteckt, weil sie „noch nicht so lange laufen kann", wie mir Simon erklärte. Eva und ich kamen uns etwas deplatziert in dem eingespielten Chaos vor, zwängten uns aber auch in unsere Wintermäntel und schlüpften in ein zweites Paar Socken.
So ausstaffiert marschierten wir los. Dean erklärte: „Wir könnten auch mit der Tube fahren, die wird aber brechend voll sein. Und so weit ist es auch gar nicht."
Da uns nur Muggel entgegenkamen und auch die in der kalten, dunklen Nachtluft nicht auf uns achteten, hielten Dean und ich Händchen. Ich machte mir erst noch Sorgen, wie das bei seinen Eltern ankommen würde, aber die hatten schon genug mit den anderen Kindern zu tun.
Zoe hatte nach einigen hundert Metern festgestellt, dass sie sich die Feier lieber vom Fernseher aus ansehen wollte und musste nun mit übriggebliebenen Weihnachtsplätzchen vom Gegenteil überzeugt werden. Die Methode hatte Erfolg.
Fröhlich am Keks knabbernd lief sie mit Eva, Dean und mir vorneweg und taute immer mehr auf. Sie wusste ebenso wie die restliche Familie über Hogwarts und unsere Identität als Hexen Bescheid und hatte viele Fragen. Auch nach gefühlt hunderten fiel ihr noch eine neue ein.
„Sind deine Mum und Dad auch nach Hogwarts gegangen?", wollte sie schließlich wissen und sah mich aus ihren großen braunen Augen an.
Die Frage erwischte mich eiskalt. Ich blieb stehen und blickte zu ihrem Bruder. Er ruckte leicht mit dem Kopf, um mir zu signalisieren, dass ich ihr gegenüber besser nichts von meinem toten Vater oder meiner untergetauchten Mutter erwähnte.
„Mein Vater auf jeden Fall", antwortete ich deshalb. „Er war allerdings in einem anderen Haus als ich."
„Er ist bestimmt trotzdem stolz auf dich", sagte Zoe leichthin und hopste die paar Meter weiter nach hinten zu ihren Eltern.
Erst, als Dean mir sachte über die Wange streichelte, merkte ich, dass meine Augen sich mit Tränen gefüllt hatten. Dieses kleine Mädchen, das eigentlich weder meine Eltern, noch mich kannte, hatte exakt das gesagt, was ich schon so lange hatte hören wollen. Dass jemand stolz auf mich war.
Mit verschwommenen Blick lächelte ich Dean an und verpasste ihm einen Kuss. Er schaute etwas überrascht. „Danke, dass du mir das schönste Silvester meines Lebens schenkst."
Und ich hatte ja noch nicht einmal alles gesehen. Entlang der Themse hatten sie unzählige Menschen versammelt. Wir drängten uns durch die Menge und versuchten als neunköpfige Gruppe zusammenzubleiben, was sich leichter anhört, als es war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit und einigen leichten Knuffen meinerseits, um einen Weg für Annies Kinderwagen zu bahnen, fanden wir Seamus. Er stand zwischen einer großgewachsenen Frau mit Seamus rotblonder Haarfarbe und einem Mann, von dem Seamus wohl seine Gesichtszüge geerbt hatte.
Sein Gesicht begann zu strahlen, als er uns entdeckte. „Da seid ihr ja endlich! Mum hat langsam schon Zaubern müssen, um den Platz freizuhalten!"
Tatsächlich war um die dreiköpfige Familie deutlich mehr Platz frei, als es wegen der hohen Menschendichte eigentlich logisch sein sollte. Vor allem dank des herausragenden Blicks auf den Palace of Westminster und den dunklen Fluss.
Mrs Finnigan hatte nicht nur die Stelle magisch freigehalten, sonderte zog jetzt auch noch mehrere Thermoskannen und elf Becher aus ihrer Tasche. So viel Platz hätte darin eigentlich gar nicht sein sollen, weshalb sie wohl auf irgendeine Weise magisch vergrößert worden war.
Die Erwachsenen bekamen einen anderen Punsch eingeschenkt als wir Kinder, doch schmeckte er wunderbar fruchtig und wärmte bis in die letzte Zehe. Auch hier musste Seamus Mutter einen Zauber benutzt haben, denn so effektiv wärmte kein Muggelgetränk.
Dean blickte auf seine Uhr. „Bald Mitternacht. Wir sollten besser schon mal in die richtige Richtung blicken."
So kam es, dass er, Eva, Seamus und ich uns zum Palace wandten und über die langsam fließende Themse spähten. Auf dem Wasser dümpelten Boote, die jedoch durch die fehlende Beleuchtung kaum zu erkennen waren.
Langsam begann sich ein Raunen in der Menge zu erheben. „Los, wir zählen die verbleibenden Sekunden bis zum nächsten Jahr", wisperte Dean mir ins Ohr und stellte sich dicht hinter mich, sodass ich mich leicht an ihn lehnen konnte.
„Sechzehn, fünfzehn, vierzehn"
Ich drehte mich zu ihm herum und wollte unbedingt etwas loswerden, was ich schon länger hatte sagen wollen. „Dean, ich muss dir etwas sagen", begann ich und musste gegen das lauter werdende Zählen ankämpfen. Eva und Seamus waren mit den Rücken zu uns gewandt und bekamen nichts von uns mit. Wahrscheinlich gingen sie von heftigen Küssen aus.
„Zwölf, elf, zehn"
„Dean, ich ... ich liebe dich!", rief ich gegen den Lärm an und spürte Nervosität in mir aufwallen. Was, wenn er meine Gefühle nicht erwiderte? Er sah mich nur fragend an. „Was?!"
Ich schrie noch etwas lauter. „Ich LIEBE dich!"
Auf seinem Gesicht breitete sich ein Ausdruck des Verstehens aus. Gefolgt von einem schiefen Grinsen.
„Acht, sieben, sechs"
„Ist das wahr?", wollte er laut rufend wissen.
Ich nickte heftig und lächelte. „JA!" Ich wusste nicht, ob er es gehört hatte, aber sein strahlendes Lächeln zeigte, dass er es trotzdem verstanden hatte.
„Vier, drei, zwei"
Und dann beugte er sich zu mir hinunter und küsste er mich mit ungeahnter Leidenschaft, die meinen gesamten Körper zum Kribbeln brachte. Wir standen einfach da und küssten uns, während hinter uns das Feuerwerk losging und die dunkle Nacht zum Leuchten brachte.