Ein begehbarer Weg

By kaethe_thompson

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Ein begehbarer Weg

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By kaethe_thompson


»Hm«, taucht die lilafarbene Sprechblase im Chat auf. Dein Blick wandert zum Profilbild deines Gesprächspartners, auf welchem dir eine Frau mittleren Alters mit langen, braunen Haaren zulächelt. Darunter steht ihr Benutzername: ›Medium Safina‹.

»Hm?«, schreibst du schließlich zurück. Du bezahlst dieser angeblichen Hellseherin keine 6 Euro pro Minute, um von ihr ausgeschriebene Verzögerungslaute zu erhalten, wenn du sie nach einer Vorhersage fragst.

»Ich sehe eine Brücke in Ihrer Zukunft«, fährt sie fort.

Aha, denkst du du dir, wirst du unter einer Brücke enden, oder dich womöglich von einer stürzen? Du wartest zunächst ab, denn Safina lässt sich bereits ohne Nachfragen deinerseits genügend Zeit.

»Sie wissen ja, was man über Brücken sagt.«

»Natürlich«, erwiderst du. Natürlich hast du keinen blassen Schimmer, was Brücken in der Welt der Esoterik symbolisieren können oder sollen. Du schaust auf deine Smartwatch, um die Menüleiste zu aktivieren, dann verweilt dein Blick zwei Sekunden lang auf dem X-Symbol, und das Fenster schließt sich. Du bist um 36 Euro ärmer, ohne an neues Wissen bezüglich deiner Zukunft reicher zu sein.

Als du, so wie jeden Tag, die Fußgängerbrücke überquerst, die in die Neuburger Innenstadt führt, bist du dir nicht sicher, worauf du warten sollst. Ein lebensveränderndes Ereignis, eine Epiphanie, oder dein plötzliches Ableben? Es ist untypisch für dich, eine Wahrsagerin zu kontaktieren und im Nachhinein bist du dir nicht sicher, was dich dazu geritten hat. Du begegnest deiner Zukunft eigentlich mit bewusster Gleichgültigkeit. Es gibt Menschen, die in der Zukunft leben – Erfinder, Wissenschaftler, Philosophen und andere große Denker. Du allerdings gehörst zu einer anderen Gattung, nämlich den Zweiflern, den ›Overthinkern‹. Personen, die sich den Kopf über die Zukunft zerbrechen und gleichzeitig verpassten Chancen in der Vergangenheit nachtrauern, sodass sie es verpassen, im Hier und Jetzt zu leben.

Eine eisige Windböe weht dir die Haare aus dem Gesicht, und du bleibst stehen, um den Reißverschluss deiner Jacke zu schließen. Das Herbstwetter macht sich bemerkbar, und bald wird es zu kalt sein, um jeden Tag zu Fuß zu gehen. Das Monatsticket wird dich einen nicht unwesentlichen Teil deines Lohns kosten. Öffentliche Verkehrsmittel waren nie günstig, doch seitdem in der Stadt nur noch autonome E-Busse fahren, sind die Preise noch mehr angestiegen. Du fragst dich, wann die benzinbetriebenen Busse abgeschafft wurden, und kannst dich, wenn du ehrlich sein willst, nicht erinnern. Wann hast du das letzte Mal einen Busfahrer gesehen? Ist es mehr als 5 Jahre her? Nicht einmal das kannst du sicher beantworten. Dein Gedächtnis war auch schon mal besser, denkst du dir. Du könntest schwören, du wärst sogar mal intelligent gewesen, zumindest hatten das deine Lehrer immer zu dir und deinen Eltern gesagt. Jedoch war das, bevor du an die Uni kamst und dich die Erkenntnis, dass du bestenfalls durchschnittlich bist, komplett aus der Bahn geworfen hat. Es ist lange her, dass dein Bildungsweg ein jähes Ende gefunden hat, und seitdem hältst du dich mit einem Nebenjob über Wasser.

Deine Smartwatch piept, und über deine In Ear-Kopfhörer informiert MILA dich, dass du jetzt losgehen musst, wenn du es pünktlich zu besagter Arbeitsstelle schaffen möchtest. Du setzt dich in Bewegung und denkst weiter an nichts Besonderes. Dein Arbeitstag geht recht ereignislos vorüber. Du unterhältst dich mit deinen Kollegen und einigen Kunden, doch als du abends zu Hause bist, stellst du fest, dass nichts hängen geblieben ist.

Am nächsten Tag hast du nichts vor, also lässt MILA dich etwas länger schlafen. Obwohl MILA dich nie in einer Tiefschlafphase weckt, fühlst du dich beim Aufstehen erschöpft. Du meinst, gestern einen Gedanken gehabt zu haben, den du weiterführen wolltest, doch er will dir nicht einfallen. MILA hat Kaffee gekocht, und während du diesen trinkst, erzählt sie dir, wie das heutige Wetter aussehen wird, und dass du – natürlich – keine anstehenden Termine hast. Du hast allerdings zwei Nachrichten, eine von einem Bekannten, die du seit zwei Tagen ignorierst, und eine gerade erst empfangene von Dr. Spielseher bezüglich deines nächsten Termins bei ihm. Er ist dein Psychiater, und er ist einer der wenigen praktizierenden Mediziner, der tatsächlich ein Mensch ist. Ärzte, die du für physische Probleme aufsuchst, sind mittlerweile fast ausnahmslos Roboter. Diese haben sich als weitaus effizienter, genauer und verlässlicher bei der Diagnose und dem Verschreiben von Medikamenten und Therapie erwiesen und sich in den letzten Jahren mehr und mehr durchgesetzt. Den sozialen Aspekt des Berufs haben sie bis jetzt jedoch nicht ersetzen können. Du triffst dich nicht persönlich mit Dr. Spielseher, sondern unterhältst dich per Chat mit ihm, was du immens bevorzugst. Dir fällt es allerdings noch leichter, deine Probleme MILA in einem nächtlichen Anfall von Gesprächigkeit mitzuteilen, als dich ›face-to-face‹ mit einem Therapeuten zu unterhalten und dessen prüfenden Blick auf dir zu spüren. Du fühlst dich nicht verurteilt, wenn MILA dir in ihrer roboterhaften Stimme mitteilt, dass du mehrere Symptome für irgendeine depressive Störung zeigst, und sie dich fragt, ob sie Kontakt zu einem Psychologen in der Nähe aufnehmen soll. Obwohl du dies stets verneint hast, hat die elende Maschine eure Gespräche trotzdem an Dr. Spielseher weitergeleitet. Vertraue niemals einer künstlichen Intelligenz.

Als du einige Tage später auf der Fußgängerbrücke stehst und die seichten Wellen betrachtest, fällt dir plötzlich ein, dass du an deine Zeit an der Uni gedacht hattest. Oder, genauer gesagt, die Zeit nach der Uni, als du dein Belletristik-Studium hingeschmissen hast, zu deinen Eltern zurückgekehrt bist und dass du seitdem keinen einzigen Satz verfasst hast. Es muss im Frühling gewesen sein, meinst du, denn es war kurz nach deinem Geburtstag, doch du kannst dich nicht mehr an das genaue Jahr erinnern. Irgendwann in diesem Zeitraum ist dir bewusst geworden, dass dein Zuhause keines mehr ist.

Im darauffolgenden Sommer hast du jemanden kennengelernt. Es war ganz altmodisch, über einen gemeinsamen Freund. Ihr habt euch über euer gemeinsames Interesse am Schreiben unterhalten, und du hast sofort eine Bindung gespürt. So etwas war dir vorher noch nie passiert, und insgeheim hast du dem Ganzen eine höhere Bedeutung zugesprochen – mit Sicherheit hattest du deinen Seelenverwandten gefunden, und alles nach diesem Ereignis würde endlich Sinn ergeben. Du konntest eine gemeinsame Zukunft vor dir sehen, wie du anderen von der Geschichte eures Kennenlernens erzählen würdest. Es wäre eine lustige, aber auch romantische Geschichte, die einige vielleicht sogar neidisch machen würde. Tatsächlich würde die Beziehung auf unspektakuläre Weise einfach im Sande verlaufen, aber das wusstest du selbstverständlich noch nicht. Es war, als hätte sich ein Schalter in dir umgelegt. Im einen Moment warst du erfüllt von Zuversicht und Hoffnung, und auf einmal war es unerträglich, jemandem so nahe zu sein. Zu lieben und geliebt zu werden war eine Forderung, die dir alles abverlangte, eine Verantwortung, der du nicht gewachsen warst. Du hast dich nicht mehr gemeldet, und niemand hat nach dir gefragt.

Was war im Herbst danach geschehen? Und im Winter? Du kannst dich an keine besonderen Ereignisse erinnern. Ein halbes Jahr, einfach so dahin, ohne irgendwelche Eindrücke zu hinterlassen. Plötzlich erfüllt dich ein überwältigendes Gefühl der Traurigkeit, das dir den Hals zuschnürt. Du suchst Halt am Geländer vor dir und versuchst, dich auf das kühle Metall unter deinen Fingern zu konzentrieren. Deine Knöchel treten weiß hervor. Der Kloß in deinem Hals scheint sich auszubreiten, bis sich deine Brust so eng anfühlt, dass dir das Atmen schwer fällt, doch so schnell die Emotionen gekommen sind, ebben es auch wieder ab. Als du dich vom Geländer abstößt und auf den Weg Richtung Innenstadt machst, will der Eindruck, dass etwas an der Realität falsch ist, nicht verschwinden. Deine Bewegungen wirken unnatürlich und angestrengt, als wärst du am Grund der Weser, umhüllt von trübem Wasser, und würdest dort unten versuchen, zu laufen.

Am Abend gehst du auf den Dachboden und holst eine Box hervor, gefüllt mit Dingen, die du nie wieder sehen wolltest, aber nie entsorgt hast. Ganz oben in der Kiste liegen Bücher und Mappen aus deiner Schulzeit. Deine Schule war eine der letzten, die allen Schülern Tablets zur Verfügung stellte, es hatte schon ewig gedauert, bis alle Klassenräume mit Smartboards ausgestattet wurden. Du schaust dir die Zettel an, die du mit Zeichnungen und Worten gefüllt hast, während du ignoriertest, was die Lehrer vorne erzählten. Bereits als Kind warst du immer in deiner eigenen Fantasiewelt, und mit den Jahren nahmen deine Vorstellungen mehr Form an, entwickelten sich zu Charakteren, Orten und Handlungssträngen. Du betrachtest die alten Geschichten, die du verfasst hattest, von Personen, die spannende Reisen unternahmen, Freundschaften fürs Leben schlossen und auf die Suche nach sich selbst gingen. Abenteuer, die du dir ausgedacht hast, während du deine Kindheit alleine vor Bildschirmen verbrachtest. Als du deine Geschichten liest, stellst du fest, dass sie nicht schlecht sind, obwohl du dies befürchtet hattest. Diese angenehme Überraschung wird jedoch überschattet von unzähligen Fragen – wie gut wärst du heute, wenn du nicht aufgehört hättest, zu schreiben? Wie viel Potential hast du vergeudet, indem du Stift und Papier, wie so vieles in deinem Leben, in eine dunkle Kiste geworfen und nie wieder eines Blickes gewürdigt hast?

Im Verlauf der nächsten Tage kannst du dieses unwohle Gefühl, dass etwas nicht stimmt, nicht abschütteln. Als du dein Spiegelbild siehst, kommt es dir fremd vor. Du betrachtest es wie ein Ölgemälde, kannst fast die Pinselstriche sehen, welche die Farbtöne aus Braun, Rosa und zartem Blau zu einem kohärenten Bild vereinen. Es ist ein komplett durchschnittliches Porträt – ein Gesicht, das du sofort wieder vergessen würdest.

»Der Künstler hätte sich lieber ein besseres Subjekt suchen sollen«, sagst du amüsiert.

Die Person dir gegenüber lächelt nicht einmal.

»Ich habe in den letzten Wochen körperliche Anzeichen von Stress bei dir festgestellt«, ertönt MILA aus deinem Smart Mirror, und für einen Moment bist du desorientiert. Die Features des Spiegels benutzt du so gut wie nie und ignorierst die gesammelten Daten über deinen Gesundheitszustand, die darauf auftauchen. Du reißt den Blick von dem Spiegel los und gehst in dein Schlafzimmer, um dich anzuziehen. MILA rät dir zu deiner Winterjacke, denn es soll kalt werden. Irgendetwas an der Art, wie sie es sagt, irritiert dich. Du beschließt, zu Hause zu bleiben.

Genau wie dieses undefinierbare Gefühl, das an dir nagt, bleiben auch die unzähligen Gedanken stets bei dir. Gedanken an deine Schulzeit, an die Freunde, die du seit Jahren nicht mehr gesehen hast, die Zeit an der Uni, die Zeit danach, wie fremd du dich in dem Haus, in welchem du aufgewachsen bist, mittlerweile fühlst. Dieses alte Ich, welches auf Schmierzetteln jede Idee niedergeschrieben hat, die ihm gekommen ist, ohne Hemmungen und ohne Selbstzweifel. Was hätte nur aus ihm werden können? Sicher, du hättest bestimmt keine weltbewegende Literatur geschrieben, und dein Name hätte sich niemals auf einer Bestseller-Liste finden lassen, da bist du dir sicher. Doch vielleicht hätten deine Geschichte zumindest eine einzige Person zum Lachen gebracht, oder von seinem Alltag abgelenkt, oder für eine kurze Zeit unterhalten, und ist das nicht alles, was du dir je erträumt hast?

»Dein Puls lässt mich annehmen, dass du unruhig bist«, informiert MILA dich. »Möchtest du, dass ich einen Kamillentee zubereite?«

Du seufzt, gibst dich aber geschlagen, und bejahst dieses.

»Okay, er ist in 5 Minuten fertig.«

Du schweigst für ein paar Sekunden. »Danke, MILA«, sagst du schließlich.

»Kein Problem«, antwortet sie, und du bildest dir ein, ihrer Stimme etwas wie Erstaunen entnehmen zu können.

Als du aufstehst, verharrst du auf dem Weg zur Küche im Türrahmen. Dein Tee steht fertig bei der Küchenmaschine, und das Display deines Kühlschrank zeigt die Bestellung, die er morgen aufgeben wird, und die du noch anpassen kannst. Es geschieht sehr schnell und ohne, dass du es erwartest. Auf einmal ist dir, als hätte dich etwas, wovor du seit sehr langer Zeit wegläufst, eingeholt. Dein Körper registriert die Veränderung, bevor du sie wirklich wahrnimmst, denn plötzlich laufen Tränen deine Wangen hinunter. Du weinst zunächst leise in dich hinein, wie du es dein ganzes Leben lang getan hast, als könntest du womöglich jemanden stören. Doch bald wird deine Atmung unregelmäßig und deine Hände zittrig, und heftiges Schluchzen schüttelt deinen Körper. Du bist so unendlich müde, bist es schon seit einer Ewigkeit. Seit Jahren stehst du auf der Stelle und schaust zu, wie dein Leben an dir vorbei zieht. Du bist müde, weil du immer so getan hast, als wäre alles in Ordnung. Weil du Angst hattest, und Chancen als Bedrohung wahrgenommen hast, und nur aufgibst und vor Allem davonläufst.

Du weißt nicht, wann, doch irgendwann in der Nacht fällst du in einen unruhigen, aber traumlosen Schlaf. Als du aufwachst, stellst du erschüttert fest, dass dein Kissen nass ist. Dein Kopf pocht, und MILA hat dir Schmerztabletten bereitgestellt. Du hast nichts geplant, doch du hast das seltsame Bedürfnis, das Haus zu verlassen. Im letzten Moment, als du die Haustür schon geöffnet hast, drehst du um und packst ein altes Notizheft und einen Kugelschreiber ein.

Draußen geht das Leben weiter, als wäre nichts geschehen, doch irgendetwas an dir ist anders. Du setzt dich in ein Café, um ein paar Ideen niederzuschreiben. Beim Anblick der leeren, weißen Seiten steigt ein vertrautes Gefühl des Unbehagens in dir hoch. Es ist in Ordnung, versuchst du, dir zu sagen. Du wirst einfach schreiben, egal, wie hirnrissig das Ergebnis ist. Etwas ist immer besser als Nichts. Irgendwo musst du schließlich anfangen, denkst du dir, und nimmst deinen Stift in die Hand. Du rufst dir das verschwommene letzte Jahr in Erinnerung, und stellst dir vor, wie das kommende stattdessen aussehen könnte:

Vor einem Jahr wollte ich sterben. Ich meine das auf eine höchst undramatische Weise.

Ich habe ehrlich gesagt keine großen Ziele, aber ich habe ein paar Vorstellungen. Vielleicht lebe ich in einem Monat in einer anderen Stadt, und habe ein neues Studium begonnen, und wieder angefangen zu schreiben.

In einem Jahr könnte ich einen Roman veröffentlicht haben. Vielleicht bin ich dann endlich angekommen. Oder vielleicht habe auch in fünf Jahren noch immer nicht das gefunden, was ich suche.

Möglicherweise ist es gar nicht so wichtig, was genau ich jetzt sehe, denn zum ersten Mal seit langer Zeit sehe ich überhaupt etwas. Sicher gibt es Momente, in denen ich meine Zukunft nicht mit offenen Armen empfangen kann, und in denen das Leben überwältigend scheint. Und vielleicht bin ich in einem Jahr immer noch kein Schriftsteller, oder jemand, der einen Plan in seinem Leben hat. Ich bin ich selbst und für den Moment ist das genug.

Denn in einem Jahr will ich noch am Leben sein.

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