So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Natürlich war mir bewusst gewesen, dass es viele verschiedene Arten von Mutanten gab. Doch musste ich mir die Frage stellen, weshalb die Wissenschaftler von Ambrosia diese Frau so geschaffen hatten. Ursprünglich waren die Mutanten dafür geschaffen worden, Arbeiten besser erledigen zu können. Mir war voll und ganz klar, dass Ambrosia damals keine Ahnung hatte, was mit den Kindern geschah, sobald ihnen das Serum gespritzt wurde. Dennoch gab es in mir eine leise Ahnung, dass diese Fremde für den Krieg erschaffen worden war. Mit ihren Fähigkeiten hätte sie dem Militär von großem Nutzen sein können. Aber was für eine Art von Mutation hatte sie? Irgendeine Tier-DNA musste ihr gespritzt worden sein. Aber welche?
Auch Varya und mein Bruder starrten die Fremde erstaunt an, ehe sie sich gemeinsam den Polizisten auf der anderen Seite der Brücke widmeten. Da Varya sehr schnell war, hatte sie keinerlei Probleme zu der Barrikade der Polizisten zu gelangen. Diese hatten, nachdem sie gesehen hatten, was mit den Polizisten auf der gegenüberliegenden Seite geschah, angefangen eine Mauer aus Streifenwägen zwischen ihnen und uns zu errichten.
Im Gegensatz zu Varya war Lucius nicht sonderlich schnell. Er bewegte sich mit Vorsicht auf die Barrikade zu. Besonders die Waffen der Polizisten behielt er im Blick. Aber deren Aufmerksamkeit lag hauptsächlich auf Varya, da sie ihnen wie die weitaus größere Bedrohung erschien.
Als ich mir sicher sein konnte, dass Lucius nicht in Gefahr war, widmete ich mich dem Helikopter des Fernsehteams. Nachdenklich blickte ich hinauf. Von den Insassen durfte ich keinen verletzen. Das waren Zivilisten, die nichts mit der ganzen Sache zu tun hatten. Sie wollten lediglich berichten. Ob das nun gut oder schlecht war, war mir nicht möglich genau zu sagen. Doch wenn ich an den Zeitungsbericht dachte, den mir Varya bei Clausen überreicht hatte, vermutete ich wohl, dass dieser Bericht nicht gerade positiv für uns sein würde.
Schreie waren zu vernehmen. Die Schreie der Polizisten. Ebenso Pistolenschüsse. Doch davon durfte ich mich nicht ablenken lassen. Ich musste den Helikopter loswerden. Meine Augen huschten von den rotierenden Rotorblättern über die Fenster. Dann fiel mein Blick auf die Themse. Vielleicht würde das ausreichen. Nur wie sollte ich das bewerkstelligen, ohne jemanden zu verletzen? Bisher hatte ich meine Kräfte in solch einem Ausmaß immer nur benutzt, um irgendetwas zu zerstören.
Langsam breitete ich meine Arme aus, während ich den Helikopter fest im Blick hielt. Plötzlich fing die Temperatur an drastisch zu fallen. Eine hauchdünne Frostschicht legte sich auf den Boden und begann sich kriechend auszubreiten. Sie kletterte auf das Geländer, umhüllte die Brücke. Atemwölkchen erschienen vor meinen Augen. Meine Kälte breitete sich aus. Wie ein schweres Leinentuch legte sie sich über die Westminster Bridge und die Themse darunter. Augenblicklich begann das dreckige Wasser zu gefrieren und wurde zu einer dicken Eisschicht. Nur nebenbei bekam ich mit, wie die Polizisten sich Warnungen zuriefen und auf die gefrorene Themse zeigten. Aber was wollten sie schon dagegen unternehmen? Momentan hatten sie ganz andere Probleme. Und die fremde Frau war eines davon. Sie hatte bereits die meisten Polizisten auf ihrer Seite der Brücke ausgelöscht oder kampfunfähig gemacht. Die Verstärkung der Polizei, von der ich überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass sie gekommen war, war keine Herausforderung für die Mutantin. Von ihnen waren nur noch zwei Leute da, die sich gar nicht mehr aus ihrem Wagen heraus trauten.
Im Gegensatz zu der Fremden tötete Varya überhaupt niemanden. Sie machte ihre Gegner lediglich kampfunfähig, während Lucius keinerlei Skrupel hatte zuzustechen. Anders als Varya war Lucius es aufgrund seiner Jagd auf Mutanten gewöhnt, jemandem das Leben zu nehmen, damit er selbst leben konnte.
Tatsächlich machte er hier keinen Unterschied zwischen denen, die er eigentlich gejagt hatte und den Menschen. Gerade jetzt in diesem Moment waren die Polizisten seine Feinde. Und dementsprechend handelte er. Für mich war es noch immer merkwürdig, meinen Bruder so zu sehen. Auch wenn ich wusste, dass es unsinnig war, erwischte ich mich ab und zu doch dabei, wie ich ihn mit dem Lucius verglich, den ich als Kind gekannt hatte.
Mittlerweile war das Eis der Themse so dick und fest, dass ich meinen Plan nun fortsetzen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass etwas schief gehen und das Eis brechen würde. Urplötzlich schoss eine dicke Eissäule aus der Themse empor, die sich um die untere Hälfte des Helikopters schloss. Zur gleichen Zeit erschuf ich einen Eisspeer, den ich mit einem einzelnen Fingerschnippen mit ungeheurer Geschwindigkeit auf die Rotorblätter des Helikopters zubewegte. Mit einem lauten Krachen schlug er ein. Die Panik der Menschen innerhalb des Helikopters bemerkte ich sogar hier unten auf der Brücke. Allerdings machten sie sich im Gegensatz zu den Polizisten umsonst Sorgen.
Langsam begann das Eis der Säule zu schmelzen und der Helikopter näherte sich der gefrorenen Themse. Es brauchte nicht lange, bis die Säule den Helikopter frei ließ und die Türen aufgerissen wurden. Panisch flüchtete das Fernsehteam aus dem Inneren und sank auf dem Eis der Themse auf die Knie. Unter ihnen war auch die Moderatorin, eine Frau mittleren Alters, die mit skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen zu mir hinauf sah.
Ohne sie noch einen weiteren Blickes zu würdigen, drehte ich mich um und entfernte mich vom Geländer. Die fremde Mutantin hatte die letzten beiden Polizisten, die zu feige waren, um sich ihr entgegen zustellen, verschont und ließ ihren forschenden Blick über das Chaos schweigen, das sie erschaffen hatte. Als sie sich sicher war, dass sie niemanden übersehen hatte, wandte sie sich ab und schritt auf mich zu.
Auch Varya und Lucius hatten ihren Teil erledigt und kehrten zu mir zurück. Mir fiel auf, dass ihr Blick immer wieder zum Regierungsgebäude schwenkte. Vermutlich hatte sie Angst, dass ihr Vater sie hierbei gesehen hatte. Konnte es möglich sein, dass sie sich noch immer darum sorgte, was er von ihr dachte, nachdem was er ihr angetan hatte?
Von Varya sah ich zu meinem Bruder. Noch immer hielt er die beiden Eismesser, die ich ihm gegeben hatte in seinen Händen. Beide waren blutverschmiert. Ohne irgendwelche Anstrengungen brachte ich sie zum schmelzen. Das kalte Wasser vermischte sich mit dem rot des Blutes und hinterließ in der nun entstandenen Pfütze Flecken.
„Wir sollten schnell von hier verschwinden.", meinte Lucius, während er noch mal zu den Polizisten blickte. Wortlos stimmte Varya ihm zu.
„Das wäre wohl das Beste.", stimmte auch die Fremde zu. Kurz schüttelte sie noch einmal ihre Rastas durch, ehe sie sie wieder locker zusammenband. Von den Stacheln war nichts mehr zu sehen. „Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis weitere Verstärkung kommt. Und vielleicht kommen wir dann nicht mehr so leicht davon." Als sie das sagte, musste ich an die Munition denken, die in der Lage war, die Kräfte zu blockieren. Tatsächlich würde das alles wahrscheinlich ganz anders enden. Und ich hatte keine Lust, wieder von so etwas getroffen zu werden und mich vollkommen hilflos zu fühlen. Außerdem konnte ich auf alles, was danach folgen würde, gut verzichten.
„Ich kenne einen Ort, an dem wir uns erst einmal verstecken können, bis sich die ganze Aufregung wieder etwas gelegt hat.", sagte die Fremde mit den Rastalocken. „Bis dahin sollten wir es schaffen."
So verlockend das alles klang, ich war dennoch misstrauisch. Natürlich hatte sie uns geholfen, allerdings war ich trotzdem lieber vorsichtig. Vor allem nach dem, was passiert war.
„Ich danke dir für deine Hilfe.", sagte ich. „Dennoch würde ich vorher erst einmal gerne wissen, wer du bist, bevor ich dir unser Leben anvertraue."
Die junge Frau lachte. „Ihr habt mir schon vorhin euer Leben anvertraut. Wieso also zögerst du jetzt?" Herausfordernd blickte sie mich aus ihren schwarzen Knopfaugen heraus an. Zumindest versuchte sie das, da mein Gesicht noch immer von einer grauen Kapuze verborgen wurde. Zähneknirschend musste ich zugeben, dass sie recht hatte. Sie hatte uns bereitwillig geholfen und ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt.
„Vorstellen können wir einander später; sobald wir in Sicherheit sind. Stimmst du mir dabei zu?" Abwartend sah sie mich an, bis ich schließlich nickte. Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Dann folgt mir.", sagte sie und eilte voraus.
Da Lucius ein Mensch war, musste sie ihr Tempo anpassen. Ihr war anzusehen, dass es ihr nicht gefiel, wie langsam wir nur vorankamen, doch sie beschwerte sich nicht. Zu viert ließen wir die Brücke hinter uns und die Fremde führte uns fort von den Hauptstraßen. Sie bog in eine schmale Seitengasse ab, die ich beinahe übersehen hatte. Nicht einmal blieb sie stehen. Und so oft es ging, mied sie die Straßen und Wege, an denen es viele Menschen gab. Natürlich begegneten wir einigen Menschen, doch die hatten kaum einen Blick für uns übrig. Dafür sahen alle, abgesehen von mir, zu normal aus. Doch der graue Mantel erfüllte seine Pflicht. So auffallend ich auch sein mochte, mithilfe des Mantels fiel ich nicht wirklich auf. Außerdem hatte es zu regnen begonnen, weshalb man sich nicht einmal darüber wundern musste, dass ich mir die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen hatte.
Nach einiger Zeit hatten wir uns vom Kern Londons entfernt und bewegten uns in weitaus leereren Gegenden. Hier waren kaum Leute auf denStraßen und Graffitis zierten die Wände der Gebäude.
Schließlich blieb die Fremde vor der Haustür eines Reihenhauses stehen. Genau wie der Rest des Viertels sah hier alles etwas heruntergekommen aus. Hinzu kamen die vielen vollen Mülltüten, die achtlos zu einem kleinen Berg zusammengeworfen waren und an der Hauswand lehnten. Aus ihrer Jackentasche zog die Frau einen silbernen Schlüssel. Wenige Sekunden später hatte sie die Tür aufgesperrt und wir betraten der Reihe nach einen dunklen, schmalen Hausflur. Im Gegensatz zu draußen war hier alles jedoch sauber. Rechts an der Wand stand ein Schuhregal, das allerdings leer war. Genauso wie die Jackenhalterung.
„Würdet ihr bitte eure Schuhe ausziehen?", bat uns die Fremde, was wir dann auch taten. Ich war die erste, die ihre Schuhe in das Schuhregal stellte. Den Mantel jedoch ließ ich an.
Als alle ihre Schuhe ausgezogen hatten, ging die Fremde wieder voran. Der Flur war nicht sonderlich lang und endete an einer Tür. Links war außerdem nun eine schmale Treppe zu sehen, die nach oben führte. Die Mutantin führte uns durch die Tür, hinter der sich ein kleines Wohnzimmer befand, neben dem direkt die Küche angrenzte. Mir fiel auf, dass alle Vorhänge zugezogen waren und nicht einmal das Sonnenlicht seinen Weg hier hinein fand.
„Wo sind wir?", wollte Lucius stirnrunzelnd wissen. Er betrachtete das Zimmer. In der Mitte stand ein viereckiger Holztisch, um den drei rote Sofas verteilt standen. Auf dem Boden lag ein großer runder Fransenteppich, der vielleicht einmal vor dreißig Jahren modern gewesen war. Links an der Wand stand ein großes Bücherregal und daneben stand eine braune Kommode, die so aussah wie die, die mein Vater vor langer Zeit einmal von seiner Großmutter vererbt bekommen hatte.
„Setzt euch.", sagte die Fremde und deutete auf die Sofas. Varya, Lucius und ich setzten uns auf das Sofa auf der linken Seite. Ich bemerkte, dass auf der gegenüberliegenden Wand der Fenster ein Fernseher hing.
Die Fremde setzte sich auf das Sofa gegenüber von uns. „Das hier ist unser Hauptquartier.", erklärte sie und machte eine ausladende Geste. „Zwar ist es ein bisschen klein und alt, aber sicher."
„Das Hauptquartier von was?", fragte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen. Erneut erschien ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Ich glaube, ich sollte mich mal vorstellen.", sagte sie und schlug ihre Beine übereinander. „Mich nennt man Siebenundvierzig. Vielleicht habt ihr schon einmal von mir gehört."