Erträumt | Leseprobe

By maddyhold

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Der Traumwandler Eric reist allein durch die Träume der Menschen, immer auf der Suche nach der Person, in der... More

Hallo du!
Widmung
Prolog
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Auszug aus dem Tagebuch eines Träumers
- 3 -

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By maddyhold

So viele Gesichter. Unzählige Menschen strömten an Eric vorbei, als er die Augen aufschlug. Das Meer war verschwunden, stattdessen hetzten nun Menschen um ihn herum über den Bürgersteig. Er wurde einige Male angerempelt, noch bevor er einen Schritt getan hatte. Keine Warnungen, keine Entschuldigungen. Willkommen in New York City.

Ein paar Menschen waren auf sein Erscheinen in ihrer Welt aufmerksam geworden. Ein Mann im Anzug und eine Frau mit vollen Einkaufstüten hatten ihm am nächsten gestanden und ihn beim Vorbeigehen mit ihren Blicken bedacht. Darin war zwar keine Überraschung zu sehen gewesen, aber wenigstens hatte man sein urplötzliches Auftauchen bemerkt. Das bedeutete, dass er diesmal nicht gänzlich fernab vom Zentrum gelandet war.

Eric kannte New York, denn Menschen träumten immer wieder von diesem Ort. Seit seinem letzten Aufenthalt vor einiger Zeit erfüllte der Anblick der belebten Straßen ihn mit unvorstellbarem Unbehagen. Diese Stadt war verwoben mit einer Erinnerung, die er lieber vergessen wollte. Darin bestand aber nicht sein größtes Problem. Es war schlicht und ergreifend zu viel los. Tausende Erträumte auf einen Blick und alle verhielten sich gleich. Wie sollte er da jemals den Träumer unter ihnen ausfindig machen? Die einzige Person mit genügend Macht, ihm seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Ihm zu helfen, nicht mehr ohne Kontrolle durch die Träume anderer springen zu müssen.

Er warf einen Blick auf sein Tattoo. Tiefschwarz bedeckten die Linien die Hälfte der Innenfläche seines Armes. Bisher gab es keine Anzeichen dafür, dass es allzu bald verschwinden würde.

»Es ist eine Art Uhr«, hatte Ben gesagt. »Du wirst immer wissen, wenn ein Träumer erwacht, noch bevor der Traum zu Ende ist.«

Und was hatte ihm dieses Wissen bis jetzt gebracht? Nicht viel, abgesehen davon, dass das Mal aus Tinte ihm immer wieder zeigte, wie aussichtslos sein Vorhaben letzten Endes doch war.

Er erinnerte sich an die Träumer, die er in der Vergangenheit aufgespürt hatte. Die unterschiedlichsten Menschen in den unterschiedlichsten Welten, aber mit einer Gemeinsamkeit: Sobald er ihnen verriet, dass sie nur schliefen, löste das irgendetwas in ihnen aus. Sein Tattoo begann zu verblassen, bis das Nichts nach den Ufern der Welt griff und der Traum endete. Die Träumer wachten auf, ehe er die Chance bekam, ihnen die eine Frage zu stellen, auf die es ankam.

Eines Tages würde es vielleicht anders laufen. Nur eine einzige Chance, mehr brauchte er nicht. Doch an einem überfüllten Ort wie diesem war es sowieso unwahrscheinlich, dass er überhaupt in die Nähe des Schöpfers gelangte. Da konnte er genauso gut gleich aufgeben, egal, wie viel Zeit ihm noch blieb.

Widerwillig bewegte Eric sich mit dem Menschenstrom fort.

Die Leute strömten mit gleichgültiger Miene an ihm vorbei und kein Gesicht unterschied sich großartig von den anderen. So bewegte er sich im Rhythmus der New Yorker Geschäftigkeit mit der Masse, vorbei an Büros, Läden und Kiosken, unter Baugerüsten hindurch und über befahrene Straßen hinweg. Er bog um ein paar Ecken und überquerte mehrere rote Ampeln. Die Gebäude ragten schwindel-erregend weit in die Höhe – weiter als in den meisten anderen Versionen dieser Stadt, die er bereits kennengelernt hatte. Ihre Dächer berührten beinahe die Regenbögen, die zu Hunderten den Himmel verzierten, sich hier und da überkreuzten und kaum eine blaue Stelle übrigließen. Jede nur vorstellbare Farbe fand sich darin wieder. Auch die Vögel und Insekten, die über den Köpfen der Passanten schwirrten, schimmerten farbenfroh.

Eric erreichte gerade die Fifth Avenue, als sich eine Taube mit violettem Gefieder vor seiner Nase in die Lüfte schwang, dicht an der Glasfront des gewaltigen Olympic Towers entlang nach oben schoss, um ins Gelb eines der Regenbögen einzutauchen und darin zu verschwinden.

Trotz des bunten Naturspektakels behielt das Großstadt-feeling die Oberhand. Bis auf einige Gräser und Blumen, die aus Rissen im Asphalt lugten, waren die Straßen staubig, die Gehwege strotzten vor Dreck und der Lärm der Taxifahrer, Bauarbeiter und Polizeisirenen stoppte keine Sekunde lang.

Der Träumer, der jeden Stein und jede Glasfront hier geschaffen hatte, musste die Stadt gut kennen. Zumindest Manhattan. Selbst durch die Fensterscheiben höherer Stockwerke konnte Eric Details wie Möbelstücke und Pflanzen ausmachen, die immer noch an ihrem Platz standen, wenn er ein zweites Mal hinsah. Genauso verhielt es sich mit Makeln an den Mauern der Gebäude. Wer sie auch erträumte, wusste genau, welche Worte Straßenkünstler oder Jugendliche auf den Stein geschrieben hatten, und auch, wo er besonders dreckig oder beschädigt war. Vielleicht kam er in der Realität häufig an den Häusern vorbei oder hatte sich sogar selbst mit Sprühfarbe daran zu schaffen gemacht.

An jedem anderen Ort hätte Eric sich über diese Entdeckung gefreut. Jedoch nicht hier. Selbst wenn er sein Augenmerk auf diesen Stadtteil richtete, blieb die Anzahl der Menschen zu hoch, um den einen Richtigen unter ihnen zu finden.

Alles, was ihm an den Leuten auffiel, blieb, dass viele von ihnen Frauen waren. Und nicht wenige unter ihnen schoben Kinderwagen vor sich her oder führten kleine Kinder an der Hand durch die Straßen. Vielleicht war dies der Traum einer Mutter?

Eric beobachtete gerade eine Dame in einem edlen Kleid, die einem vielleicht sechsjährigen Mädchen mit geflochtenen Zöpfen half, aus einem Taxi auszusteigen, als er hinter den beiden über die Straße hinweg jemanden entdeckte.

Dort zwischen den vorbeihetzenden Erträumten stand er, das Gesicht unter der Kapuze seines schwarzen Umhangs verborgen, doch den Blick unverkennbar starr auf ihn gerichtet.

Ein eiskalter Schauer lief Eric über den Rücken. Diese Person sah er nicht zum ersten Mal. Nein, sie tauchte immer wieder in den Träumen auf, in denen er landete. Sie verfolgte ihn und das schon seit geraumer Zeit. Aber aus welchem Grund sollte das jemand tun? Und vor allem: Wie war es überhaupt möglich, dass ihm jemand durch die Traumwelten folgte?

»Du, warte!«, rief er und machte einen Satz nach vorn.

Die elegant gekleidete Frau vor dem Taxi drehte sich zu ihm, fühlte sich wohl angesprochen, doch er hechtete an ihr vorbei um das Auto herum. Diesmal würde er schnell genug sein und seinen Verfolger endlich zur Rede stellen. Nicht für einen Augenblick ließ er ihn aus den Augen.

Dennoch löste sich die schwarze Gestalt genauso unerwartet in Luft auf, wie sie erschienen war.

Ein Auto raste an ihm vorbei und der Fahrer hupte laut, aber Eric blieb reglos am Straßenrand stehen und starrte auf die Stelle, an der der Kapuzenmann eben noch gestanden hatte. Wer zum Teufel war das gewesen?

Unweigerlich dachte er an die wohl einprägsamsten Worte zurück, die Ben ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Obwohl er nur einen einzigen Traum mit ihm verbracht hatte – seinen allerersten, um genau zu sein -, erinnerte sich Eric noch heute an jeden Satz aus seinem Mund und an jedes Detail seiner Erscheinung. An seine sonnengebräunte Haut, an die silbernen Strähnen in seinem ansonsten schwarzen Haar und kurzen Bart. Auch an den durchdringenden, allwissenden Blick durch ein Paar eisblauer Augen. Er erinnerte sich an das Lächeln auf seinen Lippen, das Fältchen in seine Augenwinkel gegraben und ihn hatte gütig wirken lassen. Bens Züge waren in sein Gedächtnis eingebrannt und in diesem Moment konnte er ihn direkt vor sich sehen, um ihn noch einmal sagen zu hören: Du bist nicht allein. Vergiss das niemals.

Er hatte es nicht vergessen. Und trotzdem war Ben der einzige Mensch, dem er je begegnet war, der anders zu sein schien. Anders als die bedeutungslosen Erträumten, die unwissenden Träumer. Ben war mehr. Was auch immer hinter diesem mehr stecken mochte.

Nur einen gab es noch, der nicht ins Bild passte; der weder Statist noch Schöpfer war. Und zwar seinen mysteriösen Beobachter.

Hatte Ben diese Person gemeint, als er ihm verraten hatte, dass er nicht allein war? Hatte es am Ende vielleicht eine Warnung sein sollen und kein Versprechen, wie er es so lange gehofft hatte?

»Hallo? Kann ich mal durch?«

Eine Frau mit langen, rötlichblonden Haaren – sie sah nicht älter aus als zwanzig –, schob sich hastig durch die Menge. Ihre rosafarbene Jacke streifte seinen Arm, bevor sie auf die befahrene Straße stolperte. Reifen quietschten, als ein Taxi direkt vor ihr zum Stehen kam, und der Fahrer hupte ihr wütend hinterher. Aber sie sah nicht einmal in die Richtung des Autos. Wie vom Teufel gejagt, rannte sie weiter. In beeindruckendem Tempo, wenn man ihre zierliche Statur und die hohen Absätze unter ihren Füßen bedachte.

Eric war so perplex, dass er zunächst nicht begriff, was vor sich ging. Sobald er sich jedoch gesammelt hatte, nahm er die Beine in die Hand und sprintete los. Eine Erträumte, die sich so auffällig benahm, durfte er auf keinen Fall entwischen lassen!

Das Taxi, das so abrupt mitten auf dem Fußgänger-übergang angehalten hatte, fuhr gerade wieder an, als er daran vorbei hechtete. Mit einer Hand stützte er sich auf der Motorhaube ab und wich so dem Auto aus, ohne die Frau mit den rotblonden Haaren aus den Augen zu lassen. In diesen Schuhen würde sie ihren Vorsprung sicher nicht lange halten können.

»Hey, warte!«, rief er der Flüchtigen hinterher, die sich unerwartet schnell zwischen den Passanten bewegte.

Sie reagierte nicht darauf, sondern lief einfach unbeirrt weiter.

Eric stieß die Luft aus und spannte seine Muskeln an, um schneller zu rennen. Er schob die Menschen beiseite, die ihm die Sicht nahmen, und kämpfte sich so immer näher an sein Ziel heran.

Als die junge Frau bloß noch eine Armlänge von ihm entfernt war, machte er einen Satz, umfasste sie mit ausgestrecktem Arm und drückte sie gegen die Wand des nächsten Gebäudes, sodass sie in der Falle saß. Sie war nicht besonders groß, reichte ihm trotz der Absätze gerade bis zum Kinn.

»Sofort loslassen!«

Ihre Blicke kreuzten sich und sie funkelte ihn wütend an. Bernsteinfarbene Augen, unglaublich detailreich. Und darunter ein kleines Meer aus Sommersprossen. Er war ihr so nah, dass er an der Spitze ihres rechten Wangenknochens zwei bemerkte, die sich überlappten, wodurch sie gemeinsam die Form eines Herzens bildeten. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen.

Wer war sie?

Für eine Sekunde vergaß Eric über diesen Anblick alles um sich herum. Ein flüchtiger Moment der Unachtsamkeit, den die Frau in seinen Armen nutzte, um sich zu befreien.

»Au!«, fluchte er, als sich ein spitzer Absatz von oben durch seinen Schuh bohrte.

Den Schmerz ignorierend, sprang er zur Seite und packte die Ausreißerin wieder am Arm.

»Hilfe, dieser Mann belästigt mich!«, schrie diese aus vollem Hals und zog damit die Blicke der Umstehenden auf sich.

Eine Reihe von Menschen starrte sie an, einige Fußgänger verlangsamten ihre Schritte. Allerdings schien niemand auf die Idee zu kommen, einzuschreiten.

»Was soll das? Hilfe!«

Eric sah erleichtert, dass die Leute sogleich wieder das Interesse verloren. Dass jemand sich einmischte, war ohnehin unwahrscheinlich. Erträumte ergriffen in solchen Situationen nur selten die Initiative.

Er widmete sich wieder voll und ganz der jungen Dame.

»Immer mit der Ruhe. Ich tue dir nichts«, sagte er eindringlich. »Hi, ich bin Eric.«

Eindeutig skeptisch, starrte sie ihn an. Natürlich konnte er kein plötzliches Vertrauen von einer Frau erwarten, die er soeben verfolgt und gegen eine Hauswand gedrängt hatte. Das war einfach nicht die beste Art, sich vorzustellen. Aber ihr unerwartetes Auftauchen hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er hätte sie doch nicht davonkommen lassen können! Nicht, dass er sich große Hoffnungen machte, endlich sein Ziel zu erreichen, denn darüber war er längst hinaus. Doch er wollte keine Chance ungenutzt verstreichen lassen.

Und was für eine Chance sich ihm hier bot! Todsicher stand sie in Verbindung zum Träumer, wenn sie es nicht sogar selbst war.

»Ich möchte dir nur ein paar Fragen stellen.«

Sie starrte ihn wortlos an. Galt das als Einverständnis?

»Ich sage dir, wie es läuft. Zuerst werde ich dich loslassen, aber wehe, du läufst wieder weg! Beim nächsten Mal bin ich nicht mehr so freundlich.« Er verengte die Augen zu Schlitzen und spannte den Kiefer an, versuchte bedrohlich zu wirken. »Und keine Tritte mit dem Absatz mehr! Verstehen wir uns?«

Sie zögerte kurz, dann nickte sie. Noch etwas unsicher löste er seinen Griff und wartete einen Moment ab, aber sie rührte sich nicht. Mit den Augen suchte sie zwar alle Richtungen nach Fluchtmöglichkeiten ab, doch bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Erleichtert stellte er fest, dass auch die spitzen Absätze ihrer Schuhe blieben, wo sie waren. Anscheinend hatte er sie tatsächlich eingeschüchtert.

Dachte er. Doch einen Moment später reckte sie stolz ihr Kinn in die Höhe. »Also, was willst du von mir?«

Hätten ihre Lippen nicht ganz leicht gezittert, wäre er in dem Glauben gewesen, sie sei lediglich genervt von ihm.

Er schüttelte seine Verwirrung über ihr ungewöhnliches Verhalten ab und schob sie ein Stückchen weiter bis zu der Tür, die ins Innere des Gebäudes führte. Da drinnen würde sie ihm nicht so schnell ausbüchsen.

»Da rein«, forderte er sie zum Eintreten auf.

Ihr war offensichtlich nicht ganz wohl dabei, dennoch gehorchte sie und betrat als Erste das kleine, nach Tabak riechende Zeitschriftengeschäft.

»Guten Morgen, wie geht es Ihnen heute?«, begrüßte sie ein rundlicher Mann mit südländischem Akzent hinter dem vollgestellten Tresen.

Dieser befand sich mittig vor der Wand, am anderen Ende des düsteren Raumes, und war zu beiden Seiten eingeschlossen von Regalen voller Zeitungen, Postkarten, Feuerzeugen und allerlei Souvenirs.

Weder Eric noch seine Begleiterin gingen auf den Mann ein.

»Nun?«, hakte sie nach, nicht ohne einen sehnsüchtigen Blick zur Tür zu werfen, die sich klingelnd hinter ihnen schloss.

Eric beobachtete fasziniert, wie sehr sie sich bemühte, unbeeindruckt zu wirken. Es zeugte von Charakter - die wohl größte Seltenheit unter Erträumten - und war damit ein weiterer Beweis dafür, dass es sich bei ihr um jemand Besonderen handelte.

Erst jetzt bemerkte er das goldene G, das an einer Kette um ihren Hals baumelte. Der Anfangsbuchstabe ihres Namens?

»Bist du hier aus der Gegend? Wie heißt du?«, fragte er ohne weitere Umschweife, woraufhin ihn ein spöttischer Blick traf.

»Was? Das ist doch wohl ein Witz, oder? Ein völlig Fremder überfällt mich einfach auf der Straße, entführt mich in diesen dreckigen Schuppen und das nur, weil er mich angraben will? Dafür habe ich wirklich keine Zeit. Ich gehe!«

Mit einer abwehrenden Handbewegung und einer eleganten Drehung schob sie sich energisch an ihm vorbei und ging in Richtung Ausgang. Dabei berührte eine ihrer langen Locken sein Gesicht.

Eric konnte nicht fassen, dass sie ihn stehen ließ. Und das auch noch auf diese selbstbewusste, geradezu menschliche Art und Weise.

»Angraben?«

Schnell packte er ihre Schultern und zog sie zurück vor den Tresen. »Hör mal, das hast du eindeutig missverstanden. Ich grabe niemanden an. Jemals. Eigentlich ist es so: Ich brauche deine Hilfe. Dazu musst du mir nur ein paar Fragen beantworten.«

So schwer hatte man es ihm schon seit langer Zeit nicht mehr gemacht.

»Hilfe brauchst du ganz sicher«, bestätigte sie und wand sich aus seinem Griff. »Und einen Friseur.«

Mit hochgezogener Augenbraue musterte sie sein wildes, kurzes Haar.

Eric blinzelte. »Was stimmt denn nicht mit ...?«

Egal! Was spielte das überhaupt für eine Rolle? Langsam wurde er ungeduldig. Mit einem Brummen zog er an seinem Ärmel, um das Mal zu überprüfen, und erstarrte, als er die blasser werdende Tinte erblickte. Die Zeit lief ab. Welch grausamer Scherz des Schicksals, dass dies immer dann geschah, wenn er auf eine Spur stieß. Er würde das Wettrennen mit der Uhr unter seiner Haut wieder verlieren.

»Wie lautet dein Name?«, drängte er lauter als zuvor.

»Giselle!«, erwiderte sein Gegenüber ebenfalls lauter. »Ich heiße Giselle, okay!?«

Sie wusste es. Sie wusste es tatsächlich. Auf einmal wurde sein Hals ganz trocken. Sie wusste ihren Namen, anders als die meisten anderen Erträumten. Giselle.

»Was starrst du mich so an? Das ist echt gruselig, weißt du?«

Giselle.

Fast traute er sich nicht, zu fragen. »Und weiter?«

»Wie bitte?«

»Dein Nachname.«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Geht dich nichts an.«

Eric presste die Lippen zusammen. Warum musste die erste Person seit langem, die ihren Namen wusste, nur so dermaßen unkooperativ sein? Die Zeit lief unaufhaltsam weiter, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn und beschleunigte seinen Herzschlag.

»Aber du besitzt einen Nachnamen?«

»Klar. Ich wäre nur schön blöd, ihn einem Verrückten zu verraten. Das wäre ja, als würde ich dich anbetteln, mich zu stalken«, entgegnete sie empört und wedelte mit dem manikürten Zeigefinger vor seinem Gesicht herum.

Stalken? Das wurde ja immer bunter.

»Na schön. Wie alt bist du?«

Bang wartete er auf den Satz Ich weiß es nicht. Denn den bekam er öfter als alles andere zu hören.

»Neunzehn«, hatte sie jedoch auch diese Antwort parat.

In seinem Bauch begann es zu kribbeln. »Hast du Geschwister?«

»Nope.«

»Wann hast du Geburtstag?«

Sie verzog das Gesicht. »Wieso? Willst du mir Blumen schicken?«

»Antworte.«

»10. Mai.«

Sie blinzelte, ihr Blick wich nach rechts aus und ihre Atembewegung veränderte sich. Log sie? Wahnsinn.

Es war klar, dass sie dem, den er brauchte, nahestand. Sonst wüsste sie diese Dinge nicht. Und sie wäre auch nicht menschlich genug, um ihn anzulügen - geschweige denn so offensichtlich. Sie würde ihn also zum Träumer führen können. Vielleicht hielt er sich sogar ganz in der Nähe auf.

Oder die Träumerin stand direkt vor ihm. Eric spürte die Zeit im Nacken. Noch einmal prüfte er seine Tätowierung und betete, irgendeine Macht da draußen möge die langsam verblassende Tinte aufhalten.

»Okay. Warum hattest du es eben so eilig?«, bohrte er weiter.

»Warum willst du das wissen?«

»Antworte auf die Frage!«

»Ist ja gut!« Giselle stieß betont genervt die Luft aus.

»Wenn es dich so brennend interessiert: Es gibt einen Sommerschlussverkauf in der Madison Avenue. Pumps, Stilettos und Peeptoes für weniger als fünfzig Dollar pro Paar.«

Meinte sie das ernst?

»Dafür hast du dich fast von einem Taxi überfahren lassen?«

Nicht ganz das, was er erwartet hatte. Trotz der gestylten Haare, des Lippenstifts, des funkelnden Schmucks und der Absätze.

Giselle wurde rot.

Anscheinend war es wirklich ihr Ernst. Shopping? Deshalb die Rennerei und ihr Beinahe-Unfall? Sollte sich sein Wunsch tatsächlich in einem so unspektakulären Traum erfüllen? Irgendwie ein wenig deprimierend.

»Au, du tust mir weh!«, beschwerte Giselle sich nun und wies mit dem Kopf auf ihr Handgelenk.

Eric hatte gar nicht gemerkt, dass er sie fester gepackt hatte. Eine Entschuldigung murmelnd, lockerte er seinen Griff. Schön und gut, bei dem Grund für diese dramatische Verfolgungsjagd handelte es sich also lediglich um einen Schlussverkauf. Das mochte eine Enttäuschung sein, minderte jedoch nicht den Wert, den diese Frau für ihn hatte.

Noch konnte er allerdings nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie diejenige war, die träumte, oder nur jemand, der seine Zielperson kannte. Aber wie kam er am schnellsten dahinter?

»Bist du jetzt fertig mit dem Verhör?«, hakte sie nach, während er fieberhaft überlegte.

»Nein, sicher nicht! Es geht um Schuhe, meinetwegen. Dann... Welche Art von Schuhen trägst du am liebsten?«

Etwas Persönliches. Nur wenn sie solche Dinge über sich wusste, kam sie selbst als Träumerin in Frage.

»Ich kapier' wirklich nicht, was das hier werden soll!«, wehrte Giselle ab.

»Das spielt keine Rolle. Antworte mir einfach.«

Was er brauchte, waren Details. Details und mehr Zeit. Sie schien zu überlegen, was seine Nervosität wachsen ließ.

»Und antworte spontan!«, forderte er.

»Ja, ja. Ich trage oft High Heels wie diese hier.«

Keine direkte Antwort auf seine Frage.

»Das ist nicht das, was ich wissen wollte. Vielleicht sollte ich etwas konkreter werden: Beschreibe mir deine Lieblingsschuhe.«

»Ich ...«, setzte Giselle an.

»Ja?«, drängte Eric, der seine Hände inzwischen zu Fäusten geballt hatte. Ein kurzer Blick auf sein Tattoo, das wie eine Sanduhr auslief, zeigte, dass ihm nun wirklich nicht mehr viel Zeit blieb. Einige Minuten vielleicht.

»Keine Ahnung. Seltsam, ich weiß, dass ich ein Paar Lieblingsschuhe besitze, aber ich habe keinen blassen Schimmer, wie sie aussehen. Rote zum Beispiel stehen mir besonders, aber das hängt natürlich davon ab, was ich dazu trage«, redete sie weiter.

Das war sie – die Bestätigung dafür, dass er es mit der Falschen zu tun hatte. Nicht mit einer Träumerin, sondern bloß mit einer weiteren Erträumten. Aber Giselle wusste so viel über sich selbst, dass sie den Träumer kennen musste. Er war in der Nähe.

Hektisch schaute Eric aus dem Fenster und musterte die vielen Passanten. Einer von denen?

»Hast du Freunde oder Verwandte in New York?«, unterbrach er hastig ihre Aufzählung der Farben, die am häufigsten ihre Füße zierten.

»Was für eine Frage! Klar hab ich Freunde. Was glaubst du denn? Ich bin sehr beliebt. Meine ...« Weiter kam sie nicht, denn ohne Vorwarnung begann das Ende des Traums.

Nein! Nein, nicht jetzt! Eric wollte es verhindern, doch er hatte keine Gewalt über den schwarzen Mantel, der sich langsam über alles legte, was sie beide umgab. Durch die Glastür des Ladens sah er, wie die Stadt, die Menschen auf den Straßen, die Häuser verschwammen und von der Dunkelheit umhüllt wurden. Eine Frau, die ihren Chihuahua an der Leine führte, wurde von ihr verschluckt. Auch ein Mann mit einer Lederaktentasche und ein Kind, das auf dem Trottoir von Stein zu Stein hüpfte, verschwanden direkt vor der gläsernen Ladentür im Nichts. Dann begann die Decke über Eric ebenfalls, an Form zu verlieren, und auch der Tresen und der freundlich lächelnde Mann dahinter wurden Stück für Stück zu Dunkelheit.

»Was passiert hier?«, wimmerte Giselle. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Stelle, an der eben noch der Ladenbesitzer gestanden hatte. »Oh, mein Gott!«

Eric erstarrte. »Du kannst es sehen?«

Statt zu antworten, stolperte sie mehrere Schritte zurück.

Was um alles in der Welt ging hier vor sich?

»Du siehst es?« Fast brüllte er.

Aber es brachte ihm nichts. Die Zeit war abgelaufen und seine Gelegenheit, den Träumer zu finden, verstrichen. Dabei fühlte er sich noch nicht ansatzweise bereit für den Traumsprung.

Ebenso wenig wie die junge Dame an seiner Seite. Bevor sich die Dunkelheit um ihn schloss, hörte Eric ein schrilles Kreischen und spürte, wie sich ihre Arme um seinen Hals schlangen. 

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