Splitterseele

By silberwolken

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Wie soll man eine Inhaltsangabe über etwas schreiben, was man Leben nennt? Wie soll man es zusammenfassen - s... More

Vorwort
Cover
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41

Kapitel 32

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By silberwolken

„Und was machen wir jetzt?“, fragt Luke, wir starren an die Decke und liegen auf seinem Bett. Er, weil die Decke interessant ist und ich, weil ich ihn nicht ansehen kann. Mein Finger tippt auf seiner Matratze herum, ich blase die Backen auf und lasse die Luft langsam entweichen.

„Keine Ahnung, sollen wir an den Strand gehen? Das Wetter ist heute eigentlich viel zu schön, um im Haus zu bleiben“, schlage ich vor. Ich habe die letzten Jahre zu viel in dunklen Räumen verbracht, generell in Räumen verbracht.

„Klar, können wir machen. Weit ist es ja nicht“, erwidert er und ich muss lachen.

„Ich sage aber noch schnell Grace Bescheid, das letzte Mal hat sie gemeint, ich soll einen Zettel hinterlassen, aber das kommt mir irgendwie blöd vor, wenn sie im Haus eine Etage tiefer ist.“

Er nickt. „Klar“, sagt er nochmal und ich setze mich auf und gehe zu Lukes Balkon, um über unsere Leiter in mein Zimmer zu gelangen. Wir haben beschlossen, die Leiter über das Wochenende immer da zu lassen. Mulmig ist mir dennoch jedes Mal, wenn ich über sie krabble und zwischen den Sprossen sehen kann, wie tief es herunter geht. Als ich an das Metall greife und auf das Geländer klettere, höre ich Luke hinter mir und drehe mich noch einmal um.

„Falls ich die Mücke finde, töte ich sie für dich“, neckt er mich. Beschämt drehe ich meinen Kopf von ihm weg und richte ihn auf meinen Balkon, beginne hinüber zu klettern, ohne mich noch einmal umzudrehen.

„Achja, wir treffen uns unten bei eurem Gartentor, okay?“, ruft er mir hinterher und ich nicke nur, hoffe er hat es gesehen, wobei es mir gerade auch ziemlich egal wäre und verschwinde in mein Zimmer, atme tief ein. Dann verlasse ich es, gehe die Treppe hinunter und finde Grace in der Küche.

„Hallo, Grace“, begrüße ich sie lächelnd und greife nach einem Glas, schenke mir Wasser ein. Ich will nicht gleich wieder gehen, das finde ich unhöflich.

„Hallo, Kanela. Wie geht es dir? Ich habe gehört, dass Luke gestern eine Party gemacht hat. Hat es Spaß gemacht?“ Ich trinke einen Schluck Wasser, frage mich, wie man als Mutter nur so locker sein kann, dass man sich für eine Party interessiert, auf der die Gasttochter war und sonst was hätte machen können. „Sie war echt toll. Jane, Sam und ich haben viel getanzt“, erwidere ich.

Und ich bin mit Luke zum Mond gefahren.

Sie lächelt mich warm an und nickt begeistert. Ich wusste nicht, dass man warm lächeln kann, doch ihr Lächeln erreicht ihre Augen und es strahlt eine Wärme aus, die mich auf zwei Meter noch erreichen kann.

„Ist es in Ordnung, wenn ich mit Luke noch an den Strand gehe?“, frage ich dann und stelle mein leeres Glas in die Spülmaschine.

„Natürlich, aber bitte sei heute Abend zum Abendessen zu Hause.“ Ich nicke. „Gut, dann bis später“, verabschiede ich mich und bin auf dem Weg zur Terassentür, als sie mich wieder stoppt. „Kanela?“

Ich drehe mich zu ihr und sehe sie abwartend an. „Ist da irgendetwas zwischen euch?“

Perplex sehe ich sie an, lecke über meine Lippen, die auf einmal zu trocken erscheinen. „Zwischen wem?“, frage ich, obwohl ich weiß, wen sie meint. Meine Stimme hört sich gepresst an. Wäre sie sauer, wenn ja? Würde sie mir den Kontakt verbieten? Würde sie mich in einem anderen Zimmer unterbringen lassen? Ist da irgendetwas zwischen uns?

„Na, zwischen dir und Luke“, meint sie lachend. Sie klingt überhaupt nicht sauer. Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll. „Keine Ahnung“, sage ich also und verschwinde schnell nach draußen, gehe über die Wiese bis zum Gartentor. Luke ist schon da.

„Wieso hast du so lange gebraucht?“, fragt er, während ich, noch immer verwirrt, das Gartentor öffne. „Ich hab noch kurz mit Grace gesprochen. Zum Abendessen muss ich wieder zurück sein.“ Er nickt und dann gehen wir die wenigen Meter bis zum Strand, ziehen unsere Schuhe aus, nehmen sie in die Hand und laufen durch den Sand.

„Kann ich dich etwas fragen?“, meint er irgendwann. Ich sehe von meinen Füßen auf zu ihm, die Sonne blendet mich jedoch und ich muss den Blick abwenden. „Natürlich.“ Ich warte darauf, dass er etwas sagt, doch es bleibt still.

„Bist du eigentlich-“, er bricht ab, „ich finde das blöd, dass so zu sagen.“ Zuerst denke ich, dass er weiter sprechen wird, jedoch tut er das nicht. „Luke, ich werde es schon nicht falsch verstehen.“ Er nickt zaghaft und räuspert sich. „Bist du eigentlich, beziehungsweise hast du eigentlich eine Essstörung?“

Ich hebe eine Augenbraue, frage mich, wieso ihm diese Frage nun unangenehm war, nach all dem, was er bereits gesehen hat, allerdings komme ich nicht zum Antworten. „Ich meine, Jane hatte mal eine. Sie war magersüchtig oder ist es vielleicht immer noch. Ich weiß nicht, ob man so etwas einfach loswerden kann oder ob es für immer bleibt und ich konnte sie das nicht fragen, weil wir uns dazu nicht nahe genug stehen. Sie war damals in der Klinik und als sie wieder kam hat sie uns gesagt, dass wir sie zum Essen zwingen sollen, falls sie sich irgendwann wieder weigern sollte, da sie nie wieder dorthin will und auch nie wieder so dünn werden will wie vor ihrem Aufenthalt in der Klinik. Nicht dass es dazu kam, aber du isst auch oft nichts. Seit deinem Alptraum isst du noch weniger und ich will nur wissen, ob ich dir irgendwie helfen kann, weil ich nicht will, dass du zurück dahin gehen musst, wo du nicht mehr hinwillst. Also die Klinik. Und Deutschland. Und ich will auch nicht, dass du wieder weggehen musst.“

Mittlerweile sind wir stehen geblieben und ich kann ihn ansehen, weil sein Körper die Sonne bedeckt. Ich weiß nicht, wie ich ihm darauf antworten soll. Weiß nicht, was sein letzter Satz bedeuten soll, weiß es vielleicht doch, aber will es nicht wahr haben.

„Ich-“, beginne ich und sehe an ihm vorbei auf das Meer. „Ich bin nicht magersüchtig“, sage ich dann irgendwann, „und habe auch keine Bulimie. Um es genau zu sagen, hasse ich meinen Körper so wie er jetzt ist. So dünn.“ Luke setzt an, um mir zu wiedersprechen. „Lass es, Luke. Ich weiß, dass er zu dünn ist und dass es nicht schön ist. Egal, was du jetzt sagst. Keine Ahnung, wie ich dir das erklären soll. Mein Körper arbeitet einfach nicht mit meinem Verstand zusammen und dann kommt alles, was ich zu mir genommen habe, einfach wieder raus. Deswegen esse ich oft nichts und ich weiß, das ist falsch. Ich kann auch nicht mit Domenik darüber sprechen, dass es schlimmer geworden ist, weil ich Angst habe, dass ich dann zurück muss, weil er denkt, ich sei überfordert.“ Meine Unterlippe fängt an zu zittern, meine Augen werden feucht. „Und ich will nie wieder zurück, Luke. Ich kann nicht zurück nach Deutschland, weg von euch. Von Sam und Jane. Von dir.“ Ich atme zittrig ein. „Ich weiß nicht, was ich machen soll, Luke. Es ist so – ich bin so-“, schluchze ich, kann es nicht aussprechen, will es nicht aussprechen. „So kaputt“, hauche ich dann doch und er zieht mich in seine Arme, lässt mich in sein T-Shirt weinen. Er sagt nichts und das ist auch gut so. Es gäbe nichts, was er hätte sagen können. Eine Umarmung reicht, ist alles was ich gerade brauche.

Als ich mich beruhigt habe, wische ich mir die Tränen von der Wange und wir gehen weiter. Sein Shirt ist nass, er zieht es einfach aus. Wir schweigen und irgendwann, irgendwann greift er einfach nach meiner Hand und verschränkt unsere Finger miteinander als wäre es völlig normal. Als wäre es das Normalste auf der Welt. Als wäre es nicht wunderschön. Als würde es mich nicht verrückt machen.

Wir setzen uns dicht beieinander auf den Sand, sehen den Menschen dabei zu, wie sie im Meer schwimmen, zusammen Ball spielen oder sich unter der Spätnachmittagssonne sonnen. Wir schweigen uns weiter an, allerdings unterbricht Luke die Stille.

„Bist du denn überfordert?“ Ich lecke mir über die Lippe, weiß nicht was ich sagen soll. Ob ich lügen soll. „Ja, schon. Aber das ist okay.“ Er nickt leicht, kaum merklich, gedankenverloren.

„Weißt du, ich habe mich nie bei dir dafür entschuldigt, wie ich dich am Anfang behandelt habe.“ Ich runzle die Stirn, fahre mit meinen Fingern durch den Sand und sehe ihn an. „Ich habe dein Leben nur schwieriger gemacht als es sowieso schon ist und das tut mir wirklich leid.“

Er sieht mich ernst an, allerdings bin ich einfach nur verblüfft. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass er sich dafür entschuldigt, da ich sein Verhalten gut nachvollziehen kann.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Luke“, sage ich deswegen, doch er schüttelt nur den Kopf. „Doch. Es war nicht in Ordnung, dass ich dich so behandelt habe, egal wie es jetzt zwischen uns steht.“

Immer diese Bezeichnung. Zwischen uns. Was ist denn zwischen uns?

„Aber nun machst du mein Leben doch nur besser und ich weiß doch, dass du einfach nur misstrauisch warst“, widerspreche ich ihm, doch bevor er noch weiter darüber diskutiert, ob er sich entschuldigen muss oder nicht, lehne ich meinen Kopf auf seine Schulter. „Ich muss mich eher bei dir bedanken, dass du immer zu mir stehst und mich aufmunterst, wenn es mir schlecht geht. Du verlierst nie die Geduld und dafür muss ich mich bedanken. Es ist nicht selbstverständlich.“

Daraufhin sagt er nichts mehr.

„Magst du es eigentlich, wenn ich dich berühre?“, fragt er auf einmal ohne auf mein Dankeschön einzugehen und ich runzle verwirrt die Stirn, bewusst darüber, dass er das gar nicht sehen kann. Was ist das für eine Frage? Merkt er nicht, wie sehr ich mich entspanne, wenn er mich umarmt. Wie sehr ich mich danach sehne?

„Natürlich,  wieso fragst du das? Habe ich dir das Gefühl gegeben, dass es nicht so ist?“ Auf einmal ist die Unsicherheit zurück und überschattet mich, lässt Panik aufkommen. Gefällt es ihm nicht, wenn wir uns umarmen oder ich mich an ihn lehne, wie jetzt? Schnell richte ich mich wieder auf und sehe ihn unsicher an, da er immer noch keine Antwort gegeben hat, wahrscheinlich überlegt er sich eine schonende Erklärung dafür, dass er meine Berührungen abstoßend findet. Ekelerregend.

„Ich frage mich nur, wieso dir meine Berührungen gefallen, wenn du die von anderen nicht magst“, meint er dann. Seine Antwort verwirrt mich noch mehr, dadurch hat er meine Panik nicht gelindert. Statt meine Frage zu beantworten, stellt er eine These auf, die ich mir schon lange selbst stelle. Ich habe keine Ahnung.

„Gefallen dir meine Berührungen etwa nicht?“, frage ich leise als ich es nicht mehr aushalte und spiele nervös mit meinen Fingern herum. Was ist, wenn er sagt, dass er es eigentlich gar nicht mag, aber es zulässt, damit es mir besser geht? Was ist dann?

„Was?“, fragt er geschockt, als hätte er sich verhört, reißt die Augen auf und schüttelt energisch den Kopf, bevor er mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr streicht. „Wie kommst du auf solche absurden Gedanken?“, fragt er genauso leise und ich schlucke, fühle mich dämlich, weil ich ihm so misstraut habe. Es hätte mir klar sein sollen, dass Luke mir das zu verstehen gegeben hätte, wenn dem so wäre. Er hätte mich nicht belogen. Er hätte es nicht zugelassen.

„Ich kann einfach nicht glauben, dass du das wirklich alles machst. Du bleibst die ganze Nacht wach, falls ich Alpträume habe. Ich zerstöre dein ganzes Leben.“

Auf einmal kommen die Schuldgefühle und mit ihnen die Tränen, die aus meinen Augen treten. Ich schäme mich. Er wischt mir die Tränen von der Wange und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Du bemalst mein Leben mit Farbe, du hältst die Zeit in den schönsten Sekunden an und startest sie erst wieder, wenn ich alle Gefühle in mich aufgesogen habe, alles in meinem Gehirn abgespeichert habe, damit ich es nie wieder vergesse. Denk so etwas nie wieder, Kanela.“

Ich schluchze leise, doch er verhindert mit seinem eindringlichen Blick, dass ich weitere Tränen vergieße. Alles stoppt einfach; mein Schluchzen und meine Tränen. Meine Gedanken.

„Wieso tust du das alles für mich?“, frage ich und seine Augen fangen an zu funkeln. Es ist nicht das wütende Funkeln und auch nicht das amüsierte Funkeln. Es ist ein Funkeln, welches ich nicht kenne. Das ich nicht beschreiben kann. Das mir durch Mark und Bein geht.

„Weil du mir mehr bedeutest, als du dir vorstellen kannst“, meint er leise, doch seine Worte kommen bei mir so laut an, als hätte er sie geschrien. Der Abstand zwischen uns verringert sich, mein Herz schlägt schnell gegen meine Brust und ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Sein intensiver Blick jagt mir eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Er legt eine Hand an meine Wange, während die andere in meinem Nacken liegt. Meine Hände wissen nicht, was sie machen sollen, liegen auf seinem Rücken, an seinen Oberarmen, wieder an seinem Rücken.

Ich weiß nicht, was passieren wird, obwohl ich es doch weiß. Ich weiß nicht, ob ich Angst davor haben soll, was mich erwarten wird, obwohl ich es will. Ich weiß nicht, ob ich es genießen werden kann, denn ich weiß nicht, ob ich ihn verdient habe. Ob ich es verdient habe, ihm so nahe zu sein. Ob ich es verdient habe, dass er mich küsst. Eigentlich weiß ich gerade gar nichts, denn mein Kopf ist wie leer gefegt, als hätte jemand mein Gehirn durch etwas anderes ersetzt und doch sind da diese Gedanken, diese Zweifel. Obwohl mein Kopf leer ist.

Mein Körper steht unter Spannung, er weiß nicht, ob er sich von Luke entfernen soll, um keinen Fehler zu begehen, oder ob er die verbliebene Entfernung gänzlich verringern soll, denn die Anziehung zwischen uns ist unleugbar. Ich sollte ihn wegdrücken, einen Kuss habe ich nicht verdient. Ich habe diese Einfühlsamkeit, diese Art von Nähe nicht verdient.

Meine Eltern kreisen in meinem Kopf, benebeln zusätzlich meine Gedanken und schreien mich an, dass ich es sofort lassen soll. Doch mein Herz schlägt unüberhörbar stark gegen meinen Brustkorb, sehnt sich nach dem, was geschehen wird, wenn ich nicht gehe.

Ich habe das Gefühl gleich zu zerspringen, in tausende Splitter zu zerfallen, die sich in meine Seele bohren und während ich entschieden habe, mich für den Weg meiner Eltern entschieden habe, wie jedes Mal vor dem Guten flüchten will -
Schließe ich meine Augen, als unsere Lippen sich berühren.

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Ein wenig (für mich etwas zu viel xD) Kitsch/Romantik für die, die darauf gewartet haben.
Für alle anderen - gönnt Kanela ihr Glück, wer weiß wie lange es hält... *hüstel*

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