Manchmal stellte ich mir vor, ich lebte in einem Paralleluniversum, in dem meine Eltern nie gestorben waren.
Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn meine Mutter mir Frühstück machte oder mein Vater mich zur Schule fuhr. Vielleicht wären sie mit mir ins Kino gegangen und ich hätte mich geschämt, wenn wir meinen Freundinnen begegnet wären. Es war ziemlich uncool mit seinen Eltern in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Ob mein Vater peinliche Dinge gesagt hätte? Ob mein Mutter mit mir für meinen Abschlussball einkaufen gegangen wäre?
Doch dieses Universum existierte nur in meinem Kopf.
"Oh, Ebby ist dran."
Emilys Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich stöhnte innerlich, als ich sah, dass die Flasche auf mich zeigte.
"Wahrheit oder Pflicht?", fragte sie.
"Wahrheit", sagte ich sofort. Das letzte Mal hatte ich Pflicht gewählt und den Wodka aus dem Schrank ihrer Mutter klauen müssen.
"Wenn du jeden Typen aus der Schule küssen könntest, wen würdest du wählen?"
Ich starrte sie entsetzt an und sie lachte.
"Komm schon, sie sind nicht alle schlecht. Und ich hab gesehen, wie Tim dich ansieht." Sie wackelte mit ihren Augenbrauen und Lisa und Diane lachten. Alle drei sahen mich erwartungsvoll an.
"Ja, sicher. Tim", erwiderte ich, hauptsächlich deshalb, weil ich nicht weiter darüber nachdenken wollte.
"Du könntest ihn fragen, ob er mit dir zum Abschlussball geht", schlug Diane vor.
"Ich gehe nicht zum Abschlussball."
Alle drei verstummten und sahen mich entsetzt an.
"Sicher gehst du", sagte Emily. "Wir gehen alle vier."
Ich erklärte ihnen nicht, dass ich keinerlei Interesse daran hatte, an einem weiteren Wochenende ein Abendkleid anzuziehen und mich von anderen anstarren zu lassen.
"Ich denke, ich werde es nach dem Abschlussball mit Adam tun", sagte Lisa plötzlich und die anderen beiden bombardierten sie mit aufgeregten Fragen. Sie nickte grinsend. "Ja. Und ich denke, es wird super romantisch werden. Meine Mutter hat mir gesagt, an sein erstes Mal erinnert man sich für immer und es sollte deshalb etwas ganz Besonderes sein."
Ich starrte auf die Eiswürfel in meinem Glas. Vielleicht sollte ich in die Küche gehen und neue holen, sie waren schon fast geschmolzen.
Ich warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr.
Halb zehn.
Da Emily entschieden hatte, dass wir eine Pyjamaparty veranstalteten, konnte ich ihnen noch nicht mal entkommen. Ich musste warten, bis alle schlafen gehen wollten. Was sicher ewig dauerte. Die drei konnten stundenlang quatschen.
Ich ließ mich auf dem Bett nach hinten fallen und starrte an die Decke.
Drei Monate, dachte ich. In drei Monaten würde ich endlich ans andere Ende des Landes ziehen. Myra war gar nicht glücklich darüber. Sie wollte, dass ich in Kalifornien ans College ging. Nach ewig währenden Diskussionen hatte sie dann dennoch eingewilligt, dass ich mich an der Universität von Pennsylvania einschreiben durfte.
Nicht, dass ich es mir hätte verbieten lassen. Aber so war es einfacher. Denn ohne ihre Unterstützung hatte ich keine Ahnung, wie ich die Studiengebühren bezahlen sollte.
Drei Monate und dann lebte ich nicht mehr in seinem Haus.
In drei Monaten würde ich endlich frei sein.