Teil 13 - Marc und Jayden

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Ich griff nach dem Ast und zog mich auf das Dach, auf dem Marc bereits auf mich wartete. Mein Vater hatte mir verboten, hier rauf zu klettern, und ein nervöses Prickeln breitete sich in mir aus, als ich meine Beine über die Kante schwang. Gleichzeitig erfüllte mich eine seltsame Euphorie, weil ich seine Regeln brach.

"Ich hab doch gesagt, dass wir von hier aus den See sehen können", teilte Marc mir mit, als ich mich aufrichtete und neben ihn trat.

Seit drei Tagen waren wir hier, doch hatten noch nicht die Gelegenheit gehabt, zum See zu gehen. Mein Vater nutzte unsere Urlaube immer für Training. Marc war davon anfangs begeistert gewesen, da sein eigener Vater ihn selten wirklich trainierte. Doch nachdem mein Vater ihn nun schon dreimal um fünf Uhr morgens aus dem Bett geholt hatte, damit wir vor Sonnenaufgang joggen gehen konnten, war seine Begeisterung verschwunden.

"Morgen stehe ich nicht so früh auf", sagte er und ich sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an. Er nickte entschlossen. "Wirklich, Jay", fügte er hinzu. "Ich bleib liegen. Egal, was dein Dad sagt. Ich bin genug gelaufen für mein gesamtes Leben."

"Kondition ist wichtig", erwiderte ich und er warf mir einen Blick aus dem Augenwinkel zu. "Du musst wissen, dass du schneller und stärker als die Hexen bist. Wir müssen ihnen körperlich überlegen sein."

Marc machte ein verächtliches Geräusch und schüttelte seinen Kopf. "Du klingst wie dein Dad", sagte er leise und ich schluckte, bevor ich nickte.

"Weil er recht hat", erklärte ich und Marc verdrehte die Augen. "Es ist unsere Aufgabe, sie zu töten", fuhr ich fort. "Wie willst du das machen, wenn du sie nicht mal einholen oder überwältigen kannst?"

"Mir egal", sagte Marc. "Ich hab noch nie eine Hexe getroffen, die ich wirklich umbringen wollte. Wieso sollte es mich also kümmern, ob ich sie überwältigen kann?"

"Sie sind gefährlich", erwiderte ich, Entrüstung in meiner Stimme. "Sie bringen unschuldige Menschen um."

Marc öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, doch er schloss ihn wieder und starrte erneut auf den See, den wir so gerade über die Baumspitzen des Waldes hinweg sehen konnten.

"Ich weiß ja", sagte er schließlich. "Sie haben deine Mom umgebracht. Aber ... meinst du nicht, dass es auch gute Hexen gibt?"

Ich schnaubte verächtlich. "Keine Chance."

"Hm", war alles, was er erwiderte. Langsam ging er hinüber zur Kante des Daches und sah hinab auf die Einfahrt. Unsere Väter waren einkaufen gefahren und Marc hatte sie überredet, dass wir hier bleiben durften. "Was meinst du, wie hoch es ist?", fragte er und ich trat neben ihn.

Ich verzog nachdenklich meinen Mund. "Hundert Meter", sagte ich und er lachte.

"Niemals", erwiderte er und stieß mir seinen Ellbogen in die Rippen.

"Glaub mir", sagte ich. "Mindestens hundert."

"Ich würde schätzen", murmelte er nachdenklich, "zehn Meter. Höchstens."

"Zweihundert", erwiderte ich und er lachte erneut.

"Ich könnte aus zehn Metern runterspringen", sagte er und neigte seinen Kopf abwägend zur Seite. "Dein Vater sagt, Jäger sind widerstandsfähiger als normale Menschen. Ich könnte springen und einfach weiterlaufen, kein Problem."

Ich lehnte mich über die Kante und sah hinab. "Vielleicht", antwortete ich nachdenklich. "Trotzdem solltest du nicht springen."

"Seh ich aus wie ein Vollidiot?", fragte er und drehte sich zu mir. 

Ich lachte und setzte mich auf den Rand des Daches, sodass meine Beine in der Luft hingen.

"Das hier ist der perfekte Ort für unser Geheimversteck", sagte er nachdenklich. "Wir sollten unser Hauptquartier hier einrichten."

"Hauptquartier für was?"

"Na, unsere Geheimoperationen." Er winkte mir aufgeregt zu und ich stand wieder auf und ging zu ihm hinüber. "Wir könnten eine Kiste mit Vorräten raufbringen und unsere Funkgeräte. Wenn unsere Väter uns zu sehr nerven, kommen wir hier rauf und sie werden uns niemals finden." Er sah mich aufgeregt an. "Komm schon, Jay."

Ich zuckte mit den Schultern. "Von mir aus."

Marc hüpfte aufgeregt von einem auf den anderen Fuß, dann ging er erneut zum Rand des Daches und sah hinunter. "Die Frage ist, wie wir alles hier raufbekommen."

Ich sank im Schneidersitz auf das Dach und sah nachdenklich in den Himmel.

"Wir könnten einen Flaschenzug bauen."

Marc nickte nachdenklich. "Lass uns das versuchen."

Zwanzig Minuten später standen wir erneut auf dem Dach, diesmal mit einem Seil und mehreren Holzlatten. Leider hatte keiner von uns eine Ahnung davon, wie man einen Flaschenzug baute.

Ich sah fragend zu Marc, der auf dem Rand des Daches entlang zum anderen Ende balancierte. "Sowas hätte dein Vater uns beibringen sollen, anstatt all diese dämlichen Kampftechniken, die ich eh nie brauchen werde", sagte er und drehte sich um. Sein Fuß glitt über die Kante des Daches und einen Moment lang schien die Zeit still zu stehen, während er seine Arme ausbreitete und versuchte, sein Gleichgewicht zu finden.

Ich sprang auf ihn zu. Mein Arm schnellte nach vorne, doch Marc fiel nach hinten und meine Hand griff ins Leere.

Marc schrie und ich rief panisch seinen Namen, dann hörte ich den dumpfen Aufprall von unten.

Mein Herz raste und mir wurde übel, als ich seinen Körper unten auf dem Boden erblickte. Er bewegte sich nicht.

In diesem Moment hörte ich den Motor eines Wagens und kurz darauf sah ich das Auto meines Vaters am Ende der langen Einfahrt.

Ich rutschte panisch zurück zur Mitte des Daches und kauerte mich zusammen.

Was hatte ich getan?

Mein Vater hatte uns ausdrücklich verboten, auf das Dach zu klettern. Und nun war Marc ... er war gestürzt und ich hatte ihm nicht geholfen.

"Jayden!" Der wütende Schrei meines Vaters zerriss die Luft und ich unterdrückte ein Schluchzen.

Tränen halfen nicht. Auch das hatte mein Vater mir bereits sehr früh beigebracht.

Mit zitternden Knien richtete ich mich auf und kletterte zurück auf den Boden. Dann trat ich um die Ecke des Hauses und sah in die böse funkelnden Augen meines Vaters.

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"Es tut mir leid", murmelte ich kleinlaut und hatte Mühe, Marc in die Augen zu sehen.

Die Ärzte hatten mir gerade erst erlaubt, ihn zu sehen, nachdem er zum wiederholten Male operiert worden war.

"Was tut dir leid?", fragte er und versuchte, sich ein wenig aufzurichten.

"Dass du gefallen bist."

Seine Augen wurden groß. "Wieso tut es dir leid?", fragte er. 

Ich sah ihn entgeistert an. "Na, weil wir ... weil ich ..."

Er schnaubte verächtlich. "Hast du mich geschubst?", fragte er und ich schüttelte panisch meinen Kopf. "Na siehste", sagte er und sank erneut gegen das Kissen. "Es war meine Idee, da rauf zu klettern und ich bin halt gefallen. Ärgerlich, aber was soll ich tun?" Er zuckte mit seinen Schultern, als sei das keine große Sache und ich starrte ihn fassungslos an.

"Dein Vater sagt", begann ich und schluckte schwer. "Er sagt, dein Bein ... also, es kann sein, dass es niemals richtig heilt."

"Also ich muss schon zugeben", erwiderte er. "Bis jetzt bin ich nicht beeindruckt von diesen tollen Jägerfähigkeiten."

Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte.

"Nicht deine Schuld, Jay", sagte Marc leise und lächelte traurig. "Und seien wir mal ehrlich, was soll's? Ich hatte nach drei Tagen schon genug vom Training deines Vaters. Jetzt war es das wohl für immer mit Joggen und Kampftraining. Es gibt Schlimmeres."




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