Aruna - Die Rote Göttin

By Alounaria

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Teil 1: Aruna - Die Rote Wölfin Teil 2: Aruna - Die Rote Göttin ---- Nachhause. Das einzige, woran Aruna nu... More

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By Alounaria

(Picture designed by blvckcherryprincess (Instagram))

Das kleine Mädchen wirbelte lachend herum, ihr rotes Haar peitschte ihren zierlichen Körper hinterher, umschloss sie wie ein Feuerschweif.

Die orangenen Herbstblätter tanzten mit ihr, während die nunmehr fast kahlen Bäume den Gesang zusteuerten.

Sie streckte die Arme von sich, als würde sie abheben wollen, während man Angst haben musste, dass das ungeeignet dünne Kleidchen sie zum stolpern brachte, das ihr offensichtlich viel zu groß war.

Sie wusste nicht einmal wirklich, wo sie war. Irgendwo im Wald in Großbritannien, schätzte sie. Doch das war nicht so wichtig.

Das einzige was sie wusste war, dass es Herbst war. Und mehr brauchte sie nicht.

Sie liebte den Herbst. Den Winter hingegen hasste sie. Da war es immer so furchtbar kalt und sie hatte das Gefühl, ihre Zehen würden abfallen, ihre Glieder fühlten sich steif an, ihre Finger konnte sie kaum bewegen und ihr Körper war so kalt und bewegungsunfähig, dass sie manchmal einfach nur dalag, stundenlang und in den Himmel starrte.

Und es war einsam. Es führte ihr vor Augen, wie alleine sie war.

Denn gerade in eisigen, stürmischen Winternächten wäre jemand, an den man sich vertrauensvoll schmiegen könnte, eine unheimliche Erleichterung.

Doch sie hatte sich damit abfinden müssen. Sie hatte sich damit abfinden müssen, dass sie niemand liebte, hatte sich damit abfinden müssen, dass niemand sie wollte, hatte sich damit abfinden müssen, dass sie niemals ein Zuhause haben würde.

Eine Heimat, einen sicheren Hafen, in den man sich flüchten könnte. Und das, obwohl das zierliche, rothaarige Mädchen mit den Sommersprossen und den Augen, die einen immerzu an das Meer erinnerten, gerade einmal acht Jahre alt war.

»Weißt du Pin«, erzählte sie, während sie in ihrem Tanz inne hielt und die untergehende Sonne durch die Baumkronen betrachtete.

Sie ließ den Wind ihr Haar zurück wehen und genoss für einen Moment den wunderbaren Herbstgeruch.

Er erinnerte sie an Heimat. Nicht an diese Art Heimat, an die nun wohl die meisten gedacht haben mussten. Solch eine Art Heimat hatte sie nicht, einen bestimmten Ort.

Sie war viel gereist, vermutlich geflüchtet. Sie war in einem Land gewesen, da schien es nichts als Kälte zu geben, doch auch in Ländern, die warm waren, viel zu warm, erdrückend.

Einmal, sie erinnerte sich ganz genau, obwohl sie gerade einmal das Alter eines Schulkindes erreicht hatte, hatte sie die Sonne in einem dieser Länder so sehr verbrannt, dass sie sich nicht mehr rühren konnte, sie konnte einfach nur daliegen und zusehen, wie sich alles drehte, während ihr die Galle hochkam, ihr Nacken sich steif anfühlte und sie das hitzige Fieber schüttelte.

Ein Schauer überkam das kleine Mädchen. Daran wollte sie nie wieder denken.

Kurz schloss sie die Augen, rief sich in Erinnerung, worüber sie eigentlich nachgedacht hatte.

Sie definierte Heimat anders. Der Herbst war ihre Heimat. Weil es die einzige Jahreszeit war, in der der ungewöhnlich kleine, ausgemergelte Körper lächeln konnte, in der sie wenigstens für einen kurzen Moment Frieden finden konnte.

Ihre ganze Art zeugte von der unendlichen Grausamkeit der Welt, von der Tatsache, dass sie niemals eine liebende Hand kennengelernt hatte, die sich um sie sorgte, die ihr alles wichtige beibrachte, die ihr zeigte, wie man sich vernünftig verständigte.

Ihre Haltung war nicht wirklich gerade und der Nahrungsmangel hatte sie klein gemacht, dürr und ausgemergelt, als könne sie der kleinste Wind zerbrechen, wie ein Ästchen.

Und sie sprach merkwürdig. Es war komisch, als würde sie nach jedem Wort schnalzen, als würde sie singen, nicht sprechen.

Fast, als würde sie ein kleines Vögelchen imitieren.

Sie legte ihren Kopf schräg, die wilden, wirren Locken fielen über ihre Schulter und dann drehte sie sich schließlich um, ihr Satz immer noch unbeendet.

Für den Moment musterte sie den braunhaarigen Jungen hinter sich mit den lustigen, schwarzen Zeichen auf der Haut, die sie nie zuvor gesehen hatte.

Sie fand sie schön, dachte sie, auch wenn sie vielleicht ein wenig kantig wirkten. Doch sie gefielen ihr. Irgendwie.

Sie biss sich auf die Lippen, während sie ihn betrachtete, was er nur stumm über sich ergehen ließ, weil es oft vorkam, dass sie vollkommen in Gedanken versunken vor sich her starrte.

Er hatte grüne Augen.

Wie Moos, dachte sie und musste leicht lächeln.

Sie lächelte öfter, seit er zu ihr gestoßen war. Davor hatte sie nicht so oft gelächelt.

Aber der Junge ließ ein warmes Gefühl durch ihren kleinen Körper strömen, ein Gefühl, wie sie es noch nie gespürt hatte, sie kannte es nicht.

Woher sollte dieser ausgemergelte, zerbrechliche Körper schon wissen, dass es Zuneigung war. Zuneigung, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte.

Vielleicht sollte sie ihn Moosauge nennen, nicht Pin, wie er sich bei ihr vorgestellt hatte, dachte sie weiter und ihr Grinsen wurde immer größer, doch auch diese Tatsache entlockte dem Jungen keinen Laut.

Vielleicht auch, weil er es mochte, sie anzusehen. Das hätte er natürlich niemals laut ausgesprochen, dafür war er selbst in seinen jungen Jahren viel zu stolz.

Er mochte, wie sich ihre Nase kräuselte, wenn sie nachdachte, wie die wilden Locken ihr elfenhaftes Gesicht einrahmten, mochte, wie sie den Kopf schräg legte.

Und er mochte das Gefühl, das ihn überkam, wenn sie eben jene kleine Geste einmal mehr zeigte.

Es war komisch gewesen. Wie sie ihn kennengelernt hatte, dachte das kleine Mädchen und wurde bei dem Gedanken wieder ein bisschen traurig, aber das war nicht schlimm, das wusste sie, weil Pin gesagt hatte, dass es ok war manchmal traurig zu sein und, dass er es selber manchmal war, was das Mädchen irgendwie erstaunt hatte.

Bevor sie ihn traf, war sie alleine gewesen, schon immer und dann war er auf einmal aufgetaucht, kaum mehr zwei Jahre älter als sie selbst.

Sie war unglaublich hungrig gewesen, ihr Bauch hatte ganz fürchterlich geschmerzt, Krämpfe hatten sie geschüttelt und sie hatte verzweifelt versucht, ein kleines Vögelchen einzufangen, doch wohl eher halbherzig, weil es sie so süß angezwitschert hatte.

Wimmernd war sie auf den Boden gesunken, vor Hunger hatte sie die Augen kaum mehr aufhalten können. Sie wäre fast eingeschlafen, so müde war sie gewesen. Ihre Lider schienen ihr so unglaublich schwer und auf einmal war ihr fürchterlich kalt, auch wenn es ein lauwarmer Herbstag gewesen war.

Sie hatte sich zusammengekrümmt, ein kleines Bündel aus Lumpen und feuerrotem Haar, wie ein Tierbaby, wimmernd.

Das nächste, an das sie sich erinnern konnte, war eine warme, weiche Hand, die sich behutsam auf ihre Wange gelegt hatte.

Sie hatte es kaum geschafft, die Augen aufzuhalten, war angstvoll zusammengezuckt, doch als sie ächzend aufgesehen hatte, waren da nur diese grünen Augen mit den goldenen Sprenkeln gewesen, die sie so unglaublich warm angefunkelt hatten, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Seine Hand war weich gewesen. Fast vertraut, obwohl sie ihm noch niemals begegnen war.

Und ohne zu zögern, ohne es wirklich zu steuern hatte sie ihren Kopf an ihn geschmiegt, durch den Hunger wohl nicht ganz klar im Kopf.

Doch es war einfach dieses Gefühl gewesen, dieses Gefühl sobald sie die Augen des Jungen erblick hatte, gesehen hatte, wie sie aufleuchteten.

Wärme. Zuneigung, die sie nicht kannte.

An diesem Abend hatte Pin sie gefunden und ihr ein beschmiertes Brötchen gegeben, das sie verschlungen hatte wie ein wildes Tier.

Und er hatte ihr seine Jacke um die bebenden, dürren Schultern gelegt, hatte sich ganz dicht neben sie gesetzt und sie so gewärmt.

Und ab da war er bei ihr, begleitete sie, schützte sie vor der Gefahr der aufkeimenden Kälte, brachte ihr jedes Mal neues Essen mit und langsam wurde ihr Körper stärker.

Sie konnte immer noch nicht ganz glauben, wie viele verschiedene Arten von Essen es gab.

Gestern zum Beispiel! Ihre Augen glänzten, allein bei der Erinnerung daran.

Gestern, da hatte er ihr eine flache, braune Tafel gebracht, die Unterteilt war in ganz viele kleine Vierrecke und ganz süß roch.

Skeptisch hatte sie probiert und eine Wärme hatte sich in ihr ausgebreitet, wie sie sie nie gekannt hatte, während das Stück der Tafel auf ihrer Zunge schmolz und einen unglaublichen, süßen Geschmack in ihrem Mund hinterließ.

Noch nie hatte sie etwas köstlicheres gegessen, hatte auch den Rest verschlungen und wusste nicht mehr, ob sie sich das leichte Lächeln auf Pins Lippen bloß eingebildet hatte.

Schokolade.

Schokolade, so hatte er es genannt und ihr heute gleich zwei Tafeln gebracht, obwohl er sie ermahnte, nicht alles auf einmal zu essen, weil ihr Bauch sonst schmerzen würde.

Pin.

Manchmal verschwand er. Sie wusste nicht, wohin er ging, er sagte es ihr nicht, im allgemeinen redete er sehr wenig, doch sie fragte auch nicht nach.

Denn sie wusste, es brauchte nie mehr als einen Sonnenaufgang, dann war er wieder da, der Junge mit den Moosaugen.

Die erste Nacht, in der er verschwunden war und sie aufgewacht war, nur um die flachgelegene Stelle neben sich leer vorzufinden, da hatte sie bitterlich angefangen zu weinen, hatte zitternd nach ihm gerufen und sich auf dem Boden zusammen gerollt, ihr Körper bebend, vor und zurück wiegend.

Denn sie hatte gedacht: Jetzt bist du alleine. Jetzt bist du wieder einsam. Niemand ist da. Er ist gegangen. So wie jeder. Weil keiner dich liebt.

Die ganze Nacht hatte sie geweint, weil die Einsamkeit sie einfach überwältigt hatte und im Morgengrauen war sie ein einziges, ausgelaugtes, zitterndes Bündel, das wimmernd vor sich her starrte.

Doch dann war er plötzlich wieder da gewesen, einen Korb voller Leckereien in den Händen. Erschrocken hatte er ihn fallen gelassen, war zu ihr gehastet und hatte sie den restlichen Tag einfach nur im Arm gehalten, fest an sich gedrückt, seinen Kopf in ihrem wirren Haar vergraben, das er am Tag zuvor sorgfältig und ganz sanft in dem kleinen Bach in der Nähe gewaschen hatte.

Er hatte nicht mit ihr geredet, kein einziges Wort gesagt, weil er das nie wirklich tat, auch wenn es Ausnahmen gab. Doch er war da gewesen. Er hatte sie gehalten und sie hatte sich an ihn gekrallt, hatte ihn niemals wieder loslassen wollen, weil sie das Gefühl der Einsamkeit, das sie all die Jahre verfolgt hatte, einfach nicht mehr ertragen konnte.

Aber da, an diesem Tag, hatte sie es verstanden, hatte sie verstanden, dass er sie nicht alleine lassen würde. Dass sie nicht mehr einsam war.

»Ich finde es gar nicht so schlimm, das Mama und Papa mich nicht mochten«, erzählte sie und biss sich nachdenklich auf den spröden Lippen herum, während Pin ganz leicht die Brauen hob, wie er es immer tat, einfach bloß da stand und sie betrachtete.

»Ich brauche keine Familie«, erklärte das Mädchen weiter, eine leichte Böe kam auf und wehte ihr Haar zurück, ließ es tanzen wie das leichte Kleid.

»Ich habe den Wald, weißt du? Er ist mein Zuhause wie der Herbst. Manchmal singen die Vögel sogar mit mir und einmal, da bin ich mir ganz sicher, hat mir ein kleines Eichhörnchen eine Nuss übrig gelassen.«

Dann runzelte sie nachdenklich die Stirn, knibbelte an ihren Fingern herum und gab einen leisen Laut von sich.

»Vielleicht ist es auch einfach bloß von mir weggerannt«, überlegte sie leise, ein fast trauriger Schimmer legte sich über diese großen, funkelnden Augen.

Sie mochte es nicht, wenn Tiere Angst vor ihr hatten. Sie wollte ihnen ja nie was Böses!

Und dann, ohne dass sie es verhindern konnte, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Sie wollte das ja auch gar nicht, aber es war so furchtbar einfach, sie traurig zu machen.

Traurig sind wir alle, der einzige Unterschied liegt darin, was uns traurig macht.

Pins Stimme hallte in ihrem Kopf wieder.

Du musst nur tapfer sein, du musst durchhalten, verstehst du? Und dann geht es vorbei. Es ist wie bei der Nacht weißt du? Sie kommt, natürlich tut sie das, aber folgt nach jeder Nacht nicht auch ein Tag? Kommt nach der Dunkelheit nicht immer auch Licht?

Sie biss die Zähne zusammen und versuchte tapfer zu sein, so wie der Junge mit den Moosaugen es ihr gesagt hatte.

Und dann räusperte Pin sich plötzlich.

Mit glasigen Augen sah sie auf, während er sich etwas aufrichtete und wohl unentschlossen schien, ob er nun auf sie zugehen sollte oder nicht.

Sprach er jetzt mit ihr? Sie wünschte es sich. Bis jetzt hatte er bloß wenig mit ihr gesprochen, meist lief er stumm neben ihr durch den Wald.

Sie mochte seine Stimme. Sie war schön, das hatte sie ihm auch gesagt, schöner als der Vogelgesang.

Er konnte ganz sicher unglaublich gut singen.

Sie hatte schon immer das gesagt, was ihr Gerade in den Sinn gekommen war, weil da nie jemand gewesen wäre, der sie dafür hätte tadeln können.

Doch Pin war ganz still gewesen, hatte nichts geantwortet. Auch wenn sich das kleine Mädchen eingebildet hatte, seine Mundwinkel wären ein klitzekleines Stückchen hinauf gezuckt.

»Hör zu Mabelle.«

Mabelle.

Es schauderte sie. Alleine, weil er diesen Namen aussprach.

Mabelle.

So hatte er sie genannt, kurz nachdem er sie halb verhungert im Wald gefunden hatte.

Mabelle, weil sie nie zuvor einen Namen besessen hatte.

Es hatte sie gewundert. Natürlich wusste sie, was ein Name war, manchmal hatte sie gehört, wie sich die Menschen gegenseitig riefen.

Aber eigentlich hatte sie immer geglaubt, nur diejenigen, die einen Namen verdienten, bekamen einen.

Deshalb hatte sie ja nie einen gehabt, weil sie es nicht verdiente, dachte sie.

Doch Pin sah das wohl anders.

Mabelle, den Namen fand sie schön. Irgendwie erinnerte er sie an eine Blume, obwohl sie nicht wusste, ob es eine gab, die so hieß. Eine Maiblume, ganz sicher, gelb und strahlend schön und ganz zart.

Sie hob eine Braue, eine Geste, die sie von Pin übernommen hatte.

Generell übernahm sie viel von Pin.

Sie hatte gelernt, aufrechter zu laufen, so wie er es tat, ahmte den selben, ernsten Blick nach und manchmal, wenn Pin besonders gute Laune hatte, da schnipste er mit den Fingern und sie tat es ihm nach, weil sie es ulkig fand, wie das Geräusch in ihren Ohren wiederhallte.

Und dann, wenn Mabelle ganz viel Glück hatte, da summte er. Ein einfaches Lied, eine Melodie aus einer Reihe von fünf Tönen.

Doch sie war sich ganz sicher, niemals etwas schöneres gehört zu haben.

Wenn sie alleine einschlafen musste, summte sie es selbst, um sich daran zu erinnern, dass Pin zurück kommen würde.

»Ich habe nachgedacht. Weißt du... du bist hier doch ganz alleine und... und meine Familie wundert sich langsam, wo ich immer bin. Vielleicht... vielleicht willst du mit zu mir kommen? Meine Mutter hat sich immer schon eine Tochter gewünscht. Sie hat immerhin bloß Jungen, vier Stück und... und es wäre ganz bestimmt sicherer für dich. Ich werde sie schon davon überzeugen, dass du keine Gefahr bist, meine Familie war sowieso noch nie gänzlich von den Regeln der Ven überzeugt.«

Fast nervös friemelte er an dem Saum seiner grünen Strickjacke herum, sah auf den Boden und wirkte unsicher wie noch nie, während Mabelle verwirrt mit dem Kopf schüttelte.

»Mit zu dir?«, hauchte sie und musste heftig blinzeln.

Mit zu ihm... Etwa in ein Haus? Ein wirklich echtes, richtiges Haus mit Betten und einem Zimmer, das einzig und alleine fürs waschen da war? Ein Raum, in dem es immer etwas zu essen gab, köstliche Sachen wie die, die Pin ihr mitbrachte?

Er nickte unsicher.

»Ja«, hauchte er.

»Nachhause.«

Nachhause.

Ein Zuhause. Ein Zuhause für sie.

Mabelle spürte, wie es in ihr anfing zu kribbeln, wie sich ein warmes Gefühl in ihr hochbahnte.

Er wollte sie bei sich haben. Pin wollte sie mit zu sich nehmen.

Ein Zuhause.

Sie blinzelte ihn an, blinzelte so heftig, bis ihre großen Augen anfingen zu tränen und Pin sie überrascht ansah, beinahe besorgt.

Ein Haus. Ein richtig echtes Haus.

»Ich soll bei dir bleiben?«, hauchte Mabelle mit zittriger Stimme, die kleinen Hände krallten sich in das weiße Kleid und sie versuchte mit aller Macht einen Schluchzer zu unterdrücken.

Doch Pin schien ihre Reaktion wohl falsch zu deuten. Nervös biss er sich auf die Lippe, hob beschwichtigend die Hände.

»Ja, aber ich meine wenn... wenn du lieber im Wald bleiben möchtest... also ich weiß ja, dass du es nicht anders kennst, ich dachte nur vielleicht würdest du gerne mit zu mir... es wäre ganz bestimmt sicherer und...«

Doch seine Worte wurden von den Armen, die sich ganz fest um seinen Bauch schlossen unterbrochen.

Erstickt schluchzte Mabelle auf, während sie ihren Kopf gegen seine Brust schmiegte und sich ganz fest an ihn klammerte, als hätte sie Angst, er würde sein Angebot auf der Stelle zurück nehmen, würde sie ihn loslassen.

»Nimm mich mit Pin, ja? Ich mag nicht mehr alleine sein, hier draußen... Lass mich nicht alleine, ja?«

Am Ende schluchzte sie leise, konnte ihre Tränen nun wirklich nicht mehr zurückhalten, obwohl sie Pin versprochen hatte, tapfer zu sein.

Ihr Herz begann immer kräftiger gegen ihre kleine Brust zu schlagen und sie vergrub ihren Kopf tief in Pins Strickjacke, damit er sie nicht ganz so doll schluchzen hörte, weil sie ja eigentlich tapfer sein wollte.

In der ersten Sekunde erstarrte Pin vollkommen. Doch dann zögerte er nicht, legte seine Arme behutsam um sie und strich ihr beruhigend über den Rücken, während er das Kinn vorsichtig auf ihren Scheitel legte, sie einfach weinen ließ, sie einfach umarmte und ihr den Halt gab, denn sie niemals zuvor gehabt hatte.

Es schien, als würde er kurz zögern, für einen Moment stockte die kreisende Bewegung an ihrem Rücken, doch dann senkte er den Kopf und hauchte ihr einen kleinen Kuss auf den Scheitel, um dann die Augen zu schließen und das Mädchen noch enger an sich zu ziehen.

Mabelle erschauderte bei dieser Geste und musste noch mehr schluchzen, weil sie dieses Zeichen der Zuneigung so unendlich rührte.

Sie krallte ihre kleinen Hände in seine Jacke und ließ sich einfach trösten, lange, bis die Sonne bereits beschloss, schlafen zu gehen.

Irgendwann ging ihr Schluchzen in gelegentliches Schniefen über und Pin spürte, wie die Anspannung immer weiter aus dem kleinen Körper wich, bis Mabelle einfach nur noch komplett erschöpft gegen ihn lehnte, sodass er sie vielmehr hielt, als dass sie selber stand.

Irgendwann - es wurde bereits kälter - traute sie sich aus ihrem Versteck in Pins Jacke hervorzukommen, die wohlige Wärme langsam zu verlassen.

»Pin?« Ihre Stimme klang leise. Unglaublich brüchig und einfach... müde.

Ja, Mabelle war müde. Sehr sogar.

Doch es schien, als würde sie nach acht Jahren nun endlich den Schlaf bekommen, den sie brauchte. Den Schlaf, den sie verdiente.

Vorsichtig hob Pin den Kopf, nickte dann.

»Hm?«, machte er und als sie ihn aus diesen großen, blauen Augen ansah, konnte er das Kribbeln in seiner Magengrube einfach nicht mehr leugnen.

Sie war das bezauberndste kleine Mädchen, dem er jemals begegnet war. Und er hatte sie gerne.

Allein das war eigentlich schon ein Wunder.

Pin war ein Einzelgänger, in seinem Clan war er immer alleine und die Gesellschaft der anderen, bereitete ihm Unbehagen.

Er redete nie. Manchmal Zuhause. Und hier.

Zuhause, da waren die einzigen Menschen, von denen er wirklich sagen konnte, dass er sie aufrichtig liebte.

Seine Mutter, die alleine vier Söhne großgezogen hatte.

Seine großer Bruder Rafael, der extra für Pin Gitarre spielen gelernt hatte, damit er ihn zum singen brachte, weil er seit dem Tod seines Vaters nicht mehr geredet hatte, manchmal bloß sang wenn man ihn aus seinem Schneckenhaus locken konnte.

Morten, der gemeinsam mit Peppe, seinem besten Freund, vor Pins Zimmertür Wache hielt, damit er sich nicht mehr vor den Monstern fürchten musste, die seinen Vater geholt hatten.

Und schließlich Tobias, sein ältester Bruder, der der einzige war, mit dem Pin manchmal wirklich redete.

Tobias mit den goldenen Augen und dem hellen Haar, der ihm nicht das Gefühl gab, etwas furchtbar zerbrechliches zu sein, ihn umarmte, wenn er es brauchte, doch genau so oft einfach von seinem Tag erzählte, von allem Möglichen, damit Pin sah, dass sich die Welt auch ohne seinen Vater weiter drehte.

Sein Vater.

Pin musste schlucken, während er Mabelle automatisch noch näher zu sich zog, als hätte er Angst, die Monster würden nun auch sie holen.

Wölfe.

Das behauptete zumindest sein Clan.

Doch seine Mutter wusste es besser, auch wenn niemand auf die stotternde Frau hörte, wie sie sie nannten.

Sie schrieben sie als verrückt ab, verrückt, weil sie seit dem Vorfall stotterte und durch den Verlust ja sowieso nicht klar denken könnte.

Doch Pin glaubte ihr, schließlich war sie an jenem schicksalshaften Tag an der Seite ihres Mannes gewesen, selbst nur knapp und entstellt entkommen.

Sie hatte ihre Söhne nicht verschont, nicht verschont mit dem Grauen, das sie gesehen hatte.

Pin, hatte sie gesagt, du musst wissen, was da draußen lauert. Du musst es wissen, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.

Schreckliche Bestien, schwarz wie die Nacht, mit Augen so glühend rot wie der Tod und einem verkrüppelten Gesicht, erschreckend ähnlich dem eines Menschen.

Es waren keine Wölfe, das betonte sie wieder und wieder, diese Wesen aus der tiefsten Dunkelheit hatten Pins Vater geholt, keine Wölfe.

Und Pin glaubte ihr.

Er sah auf Mabelle hinab. Denn wie könnte dieses bezaubernde kleine Mädchen jemals ein Monster sein?

»Pin?«

So in Gedanken versunken zuckte der Junge bei dem Klang ihrer leisen, rauen Stimme kurz zusammen, ihm war gar nicht aufgefallen, wie sie ihn etwas gefragt hatte.

Behutsam drückte sie sich noch ein Stück von ihm fort, löste ihre Umklammerung allerdings nicht.

Pin hob auffordernd eine Braue, während sich seine Mundwinkel sanft hoben und er dem Mädchen eine letzte kleine Träne von der blassen Wange strich.

Er hasste es, wenn sie weinte. Jedes Mal hatte er das Bedürfnis selbst zu weinen, auch wenn er es natürlich niemals tat, weil Mabelle ihn in solchen Momenten eben brauchte.

»Ja?«, antwortete er leise und Mabelle fragte sich, woran er grad wohl gedacht hatte.

Natürlich war ihr nicht entgangen, wie er zusammen gezuckt war.

Die Jahre hatten sie aufmerksam gemacht, ihre Sinne geschärft.

Sie schniefte ein letztes Mal, dann blinzelte sie und dachte über seine Worte nach.

»Was meintest du damit? Als du gesagt hast, du überzeugst deine Mutter schon, dass ich keine Gefahr bin? Wieso Gefahr?«

Ohne, dass er es verhindern konnte, spannte sich Pin an, während ihn Mabelles erstaunlich aufmerksame, wache Augen musterten.

Er musste schlucken.

Er verstand nicht, wieso sie es nicht wusste, wo er es doch aus mehreren Metern riechen konnte, doch das war eine weitere Eigenart an diesem kleinen Mädchen.

Ihre erste Verwandlung hätte eigentlich schon vor mehreren Jahren stattfinden müssen, doch aus irgendeinem Grund wusste Mabelle nicht, dass sie ein Lykanthrop war.

Pin konnte es sich nicht erklären, doch während das Mädchen darüber nachdachte, ob sie jetzt auch noch fragen sollte, was Ven waren, lächelte Pin, wenn auch etwa gezwungen.

»Hör zu Mabelle, ich werde dir alles erklären, wenn wir Zuhause sind, ja? Die Sonne geht bald unter und die Nacht wird bestimmt wieder kalt.«

Stumm nickte Mabelle und rieb sich über die geschwollenen Augen, während sie gähnen musste, was Pin merkwürdigerweise an eine kleine Katze erinnerte.

»Ich bin müde Pin«, murmelte sie und blickte zu dem Jungen hinauf.

»Können wir erst schlafen gehen? Heute mag ich nicht mehr reden.«

Pin lächelte automatisch sanft auf sie hinab und wollte gerade seinen Mund öffnen, um zu antworten, doch er schaffte es nicht.

Er sollte es nie wieder schaffen.

Denn in diesem Moment geschah es.

Mabelle blickte kurz über seine Schulter um sich ein letztes Mal die vertraute Lichtung anzusehen, auf der sie die letzten Woche geschlafen hatte.

Und dann sah sie sie.

Rote Augen.

Rote Augen wie der Tod.

Das Blut gefror ihr in den Adern, ihr Herz machte einen alarmierten Sprung, in ihr kreischte es auf, doch sie sollte nicht einmal die Möglichkeit bekommen, zu schreien, Pin zu warnen.

Ein grausamer Ruf erfüllte die Lichtung, ein Ruf voller Grausamkeit, ein Ruf, der den Tod verkündete, gefolgt von einem grausamen Lachen.

Und dann erfüllte ein widerliches, schmatzendes Geräusch die Luft, während sich der Dolch tief in Pins Nacken bohrte, durch seinen Hals schnitt, bis es seine Kehle durchtrennte.

Und da schrie Mabelle, während Pin Blut spuckte und gurgelnd zu Boden sackte.

Ein Schrei. Ein allerletzer Schrei.

Das letzte, was das Mädchen je hören sollte.

Sie sah das Rot, dieses unendliche Rot, das feurige glühen in den Augen, eine Gestalt, so grausam, wie sie sie niemals gesehen hatte, entstellt, verdreht.

Und dann durchzuckte es sie, ein furchtbarer Schmerz in ihrer Brust.

In einer Sekunde da. Dann nichts.

Dunkelheit.

Es war die absolute Dunkelheit, die Mabelle umhüllte, während sie nichts mehr spürte.

Nichts mehr spürte als kalte, grausame Angst.

Angst. Das letzte, was sie spürte. Angst, das Gefühl, das ihr Leben geprägt hatte. Angst.

Die Welt. Voller Angst.

Ihr Dasein. Voller Angst.

Und dann war es weg. Alles.

Heeey. Jap, da bin ich wieder :) Das erste Kapitel ist draußen und ich freue mich sehr, dass das zweite Abenteuer nun angefangen hat :) Ich muss noch gucken, wie ich das mit dem Uploaden mache, vermutlich muss ich erst einmal wieder reinkommen und ich kann nicht versprechen, dass jeden Tag ein Kapitel kommen wird, aber ich bemühe mich :)

LG

Alou

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