PURPLE RAIN

By agustofwind

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❝And baby, for you, I would fall from grace, just to touch your face❞ Jimin würde alles dafür tun, die verlor... More

foreword - all we have is now
chapter two - i want to break free
chapter three - crime of the century
chapter four - surrender
chapter five - comfortably numb
chapter six - fox on the run
chapter seven - yesterday
chapter eight - piano man
chapter nine - breakfast in america
chapter ten - stairway to heaven
chapter eleven - burnin' for you
chapter twelve - hotel california
chapter thirteen - somebody to love
chapter fourteen - lucky man
chapter fifteen - a whiter shade of pale
chapter sixteen - everybody knows
chapter seventeen - this town ain't big enough for the both of us
chapter eighteen - bye bye baby
chapter nineteen - both sides now
chapter twenty - heroes
chapter twenty-one - lake shore drive
chapter twenty-two - rhiannon
chapter twenty-three - california dreamin'
chapter twenty-four - enjoy the silence
chapter twenty-five - when i was young
chapter twenty-six - when doves cry
chapter twenty-seven - don't give up
chapter twenty-eight - oh! you pretty things
chapter twenty-nine - paint it black
chapter thirty - nowhere man
chapter thirty-one - hallelujah
chapter thirty-two - purple rain
epilogue - two years later
acknowledgement

chapter one - (don't fear) the reaper

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By agustofwind


track no. 1 ♫
(don't fear) the reaper;
by blue öyster cult


- — -


DIE LUFT IN DER EINGANGSHALLE lockte ihn ein allerletztes Mal mit dem behaglichen Duft seiner Kindheit; verspottete ihn mit der höhnisch-verheißungsvollen Nostalgie eines gnadenlosen Verstoßenden und—oh, wie gerne hätte er es in diesem Augenblick seiner kleinen Schwester gleichgetan, die sich auf die Treppenstufen gekauert hatte und hemmungslos in ihre Hände schluchzte.

Aber er brachte es nicht einmal fertig, ihr über das Haar zu streichen; sich neben sie auf das vertraute, polierte Holz der untersten Stufe sinken zu lassen und mit leiser, beharrlicher Stimme zu geloben, dass diese bittere, ehrlose Tragödie kein Abschied für immer sei.

Stattdessen beschränkte er sich darauf, neben seiner erstarrten Mutter in der Tür stehenzubleiben und seinen Blick ein letztes Mal durch die imposante Halle schweifen zu lassen, die er neunzehn Jahre lang unachtsam und gedankenlos durchquert hatte. Ihm war nie aufgefallen, wie zauberhaft das Licht durch die hohen Kristallfenster auf die Holzvertäfelung an der gegenüberliegenden Wand fiel; dass die Sonnenstrahlen tatsächlich golden schimmernde Reflexe aus der Maserung hervorkitzelten—dass es kaum einen trüben Oktobernachmittag brauchte, um das Vestibül in einen Glanz zu tauchen, der sich nur als ätherisch beschreiben ließ.

Er war in einem Märchenschloss aufgewachsen, wie ihm langsam mit erdrückender Dringlichkeit bewusst wurde, und er hatte es nicht einmal zur Kenntnis genommen.

Oben auf dem Treppenabsatz, der nun im Halbdunkel lag, hatte er neben seinen Eltern und Geschwistern zahlreiche Galen eröffnet; sich in der wohlmeinenden Bewunderung der Anwesenden gesonnt, der reiche, hübsche Politikersohn, der er nun einmal war, mit einem (von Vaters Geld fundierten) prestigereichen Schulabschluss, einem strahlenden, einnehmenden Grinsen und den richtigen, polierten Worten auf den Lippen. Beinahe meinte er ein letztes, verzerrtes Mal das Klinkern der gefüllten Sektgläser zu hören, das als Kulisse dieser gelösten Stimmung durch ebendie Räumlichkeiten gehallt war, die nun nur noch dem Schluchzen seiner Schwester Resonanz boten.

An den Wänden klafften wie hässliche Wunden die dunklen Verfärbungen im Holz, vor denen all die Jahre die Porträts seiner Ahnen festgemacht gewesen waren—jetzt nur noch Subjekt einer zweitrangigen Auktion in einer abgelegenen Stadthalle, zu der sie keinen Zugang finden würden. Er spürte, wie seine Hände sich zu Fäusten in den Taschen seiner Jacke ballten.

Die Wut, die in den vergangenen Tagen durch die Fassungslosigkeit ihrer Situation erstickt gewesen war, drohte nun aus ihm herauszubrechen wie eine Flutwelle seiner vergangenen Sorglosigkeit und nur seiner Mutter zuliebe, die schmal und zerbrechlich neben ihm in der Türschwelle stand und ihren Kindern erlaubte, in diesen wenigen Sekunden erwachsen zu werden, zwang er sich stattdessen, den Zorn durch kontrollierte Atemzüge aus seiner Brust zu verbannen.

„Jihyun, Soo-ie", sagte er, und seine Stimme klang verzerrt und laut in seinen Ohren, „wir fahren."

Seine Schwester erhob sich gehorsam vom Treppenabsatz, (die konditionierte Folgsamkeit würde ihr schon noch abhanden kommen, da war er sich sicher), und eilte durch den Raum, nur, um ihre Arme um ihn zu werfen und gegen seine Brust ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Ihr Schluchzen bebte durch seinen Körper als wäre es sein eigenes, und er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie wohl wirklich stellvertretend für ihn weinte. Für sein fünfzehnjähriges Ich, für das diese unzeremonielle Zwangsräumung das Ende der Welt bedeutet hätte.

Auch eine siebzehnjährige Version seiner selbst reagierte entsprechend; in Form seines jüngeren Bruders Jihyun, der mit den Rücken zu seiner Familie in den Raum starrte, als sei er persönlich für alles verantwortlich, das in den vergangenen Wochen geschehen war.

„Hyun-ie", wiederholte er seufzend. „Der Wagen wartet vor der Tür."

„Soll er doch." Jihyun hatte seines Wissens nicht geweint, aber seine Stimme klang gepresst und als er sich zu seinen Geschwistern umdrehte, war dort blasser, harter Zorn in seinen Zügen. „Ist doch sowieso deren Auto."

Er setzte zu einer bissigen Erwiderung an, aber die leise Stimme seiner Mutter nahm ihm den Wind aus den Segeln, hier, in den letzten Sekunden ihrer Kindheit einen Streit vom Zaun zu brechen. „Bitte...", wisperte sie und er gehorchte.

Vorsichtig löste er Jisoos klammernden Griff von seinem Rippenbogen und schloß zu seinem jüngeren Bruder auf, der neben der Balustrade des Geländers stand und wortlos gegen die stuckvertierte, vertraute Fassade blickte.

„Jihyun", wiederholte er, drängender. „Wir müssen gehen."

„Das ist unser Zuhause, Jimin. Ich will nicht gehen." Jihyun drehte sich zu ihm um und jetzt erkannte er doch die roten, verräterischen Ränder unter seinen Augen, die davon zeugten, wie er der Angelegenheit entgegensah. Auch, wenn Jihyun seine Gefühle momentan unter Verschluss hielt; es ließ sich nicht verleugnen, dass selbst er geweint hatte; vermutlich in der ungestörten Einsamkeit seines Zimmers, oder was der inzwischen unpersönliche Raum im ersten Stock einmal für ihn gewesen war.

Jimin biss sich ungeduldig auf die Unterlippe, während er seine rechte Hand auf die Schulter seines jüngeren Bruders legte, der ihm jedoch zumindest in Körpergröße um nichts nachstand. Jihyun zuckte unter seiner Berührung kaum sichtbar zusammen; und Jimin fragte sich, ob es wirklich so lange her war, dass er seinem Bruder das letzte Mal durch eine mitfühlende Gestik seine Empathie versichert hatte. Sie waren sich nie wirklich nahe gewesen; der schwarzhaarige Junge mit dem fransigen Haarschnitt und der übergroßen Lederjacke war trotz seiner vertrauten Gesichtszüge beinahe wie ein Fremder für ihn—und Jimin wusste, dass es nur so viel gab, das er für das Seelenwohl seines Bruders tun konnte.

„Hyun-ie", murmelte er, während er sich mit einem raschen Schulterblick versicherte, dass Jisoo mit ihrer Mutter über die Schwelle nach draußen getreten war. „Hältst du mich wirklich für jemanden, der kampflos das Feld räumt?"

Sein Bruder öffnete den Mund; trotzig, unwillig, ungebrochen und Jimin gestand sich mit einem winzigen Seufzer, der in der Krümmung seiner Kehle stecken blieb, ein, dass er nichts anderes erwartet hatte. Jihyun war ihm noch ähnlicher, als er angenommen hatte. „Ich weiß nicht, für wen ich dich halten soll, Jimin."

Seine Worte trafen ihn, waren sie doch ohne Vorbehalt ausgesprochen worden; mit nichts als entwaffnender, beißender Ehrlichkeit, und Jimin ertappte sich dabei, wie er seine Hand von der Schulter seines Bruders zurückzog und sie stattdessen unbeholfen in seine eigene Jackentasche steckte.

„Hör zu, Jihyun." Jimin räusperte sich, um die Beklemmung abzuschütteln, die sich an ihn geheftet hatte, seit er ein letztes Mal in die Eingangshalle getreten war. „Du bist wütend, und das verstehe ich. Ich bin es auch. Vater hat uns mit der Überzeugung erzogen, dass unser Familienname etwas wert ist in dieser Welt—dass sich uns allein durch unsere Abstammung Türen öffnen, die anderen verschlossen bleiben. Er hat uns dazu erzogen, unsere Köpfe hoch zu tragen und niemals auf den Boden zu blicken."

Jihyun gab einen zischenden Laut von sich. „Sprich nicht von ihm."

„Er ist nicht schuldig, Jihyun. Das glaubst du doch keine Sekunde lang." Ihm war überhaupt nicht bewusst gewesen, dass er die letzten Worte gegrollt hatte, vehement und überzeugt—festgemauert, vielmehr, in der Einstellung, dass er eine eiserne Linie der Gerechtigkeit verfolgte. Sie war das Einzige, das ihn davon abgehalten hatte, sich im Sumpf der Anschuldigungen zu verlieren. Erst als Jihyun einen winzigen, fast erschrockenen Schritt von ihm fortmachte, zwang er sich zur Contenance. „Wir müssen sein Erbe in Ehren halten, Hyun-ie. Und wir danken es ihm ganz gewiss nicht, wenn wir unseren guten Namen noch weiter in den Dreck ziehen."

Jihyun lachte humorlos und das Geräusch hallte von den kahlen Wänden wider. „Ich glaube nicht, dass das noch möglich ist. Dafür hat Vater gesorgt."

„Er ist unschuldig. Sieh nur zu. Ich werde es beweisen."

Er hasste Jihyun dafür, dass er ihn als Antwort lediglich spöttisch anblickte und ein eisiges Lachen seinen Lippen entschlüpfte. „Oh, viel Glück dabei, Jimin. Verrenn dich bloß nicht in irgendein Wunschdenken."

Mit diesen Worten ließ er ihn stehen, folgte seiner Schwester und Mutter durch die breite Eichenholztür, die einmal ihr Name geziert hatte wie ein unauslöschliche Prägung, und Jimin blieb alleine in der Halle zurück, die nun noch unwirtlicher und kälter erschien. Selbst die Lichtspielereien an den Wänden wirkten nun bedrohlich, falsch und feindselig; der Boden glanzlos und kalt und die Staubkörner, die durch die Luft wirbelten, kündigten sich als die letzte Spur der Dynamik an, die diese Hallen lange erfahren würden. Jimin machte ein paar gedankenverlorene Schritte auf die Haustür zu und drehte sich in der Schwelle noch einmal um.

Das hier war das Haus seiner Kindheit gewesen, seiner Jugend und den ersten zwei Jahren seines Erwachsenenalters. Die Hochburg seiner Glückseligkeit, die Festung aller Geborgenheit und nun, grausamerweise, auch die Erinnerung daran, dass alles Erstrebenswerte in dieser kalten, bösen Welt vergänglich war.

Seine Augen zuckten wie von selbst zu der Stelle über dem Kamin, an der das Porträt seines Vaters gehangen hatte—mit goldener Plakette auf dem Rahmen, die seinen Namen stolz und mahnend verkündet hatte, jedem, der seinen Blick darauf lenkte: Park Dongsun, 1963-...?

Jimin erinnerte sich daran, mit welcher unmenschlichen Ehrfurcht ihn das Porträt erfüllt hatte, wann immer er in kindliche Beschäftigungen verstrickt daran vorbeigerannt war. Die absichtliche Leere hinter dem Geburtsjahr seines Vaters hatte in ihm immer die Notion erweckt, dort Unsterblichkeit einsetzen zu wollen. Sein Vater, der strenge, standfeste Mann hatte kein Todesdatum. Was konnte schon eine Eiche fällen, auf der die Statuten so vieler Existenzen aufgebaut waren?

Jimin glaubte nicht, dass jemand sich die Mühe gemacht hatte, in die Plakette die bezeichnenden vier Zahlen einzugravieren, als sie das Bild von der Wand genommen hatten. Alles in allem brachte es ihm einen gewissen Sinn der Genugtuung ein. Irgendwo existierte diese Plakette, ohne die unausweichliche 2017, und in dieser Welt, in diesem hoffnungsvollen Mikrokosmos lebte Park Dongsun weiter, wusste sich gegen alle Anschuldigungen zu verteidigen und kehrte am Abend zu seiner Familie zurück, die ihn erwartete. Ja, in dieser Welt, die ein Schicksalsgott an einer Metallplakette festgemacht hatte, lebte Park Jimin das Leben, für das er vorbestimmt gewesen war.

Er benötigte nur ein zwei, drei Schritte, um aus der Halle über die Schwelle in den kleinen Vorbau zu treten, der das Vestibül vom Lärm der belebten Straße abgeschirmte. Nur zwei, drei Schritte, um aus dem behüteten Leben herauszutreten, für das er seine gesamte Kindheit Pläne geschmiedet hatte. Park Jimin ließ mit diesem kurzen, fast stolpernden Schritten mehr zurück als die gepfändete Familienmaison in Gangnam-Gus glamouröser Mitte—mehr als die Leichtfertigkeit seiner bisherigen Existenz; nein, die Türe hinter ihm schloss sich ebenfalls auf die Aussicht für das sündteure, amerikanische College, das ihm die Zusage schon so gut wie übermittelt hatte. Das hieß, bevor die Fonds seines Vaters eingefroren worden waren und Jimin mit weniger zurückgelassen hatten als dem durchschnittlichen Straßenverkäufer Hongdaes.

Er schlug die Tür heftiger hinter sich zu, als er es beabsichtigt hatte und das feine Kristallglas vibrierte in der Fassung, während der Türknauf, der silberne, von der Witterung leicht angelaufene Türknauf die Tür auf ewig hinter sich verschloss. Dieser verdammte Türknauf, den er tausende Male in seiner Hand herumgedreht hatte, als er am frühen Abend aus der Schule nach Hause gekommen war, dieser idiotische, verräterische, verfluchte Türknauf, der die Insolenz besaß, sich vertraut und glatt in seiner Hand anzufühlen.

Jimin spürte, wie ihn die Beherrschung kurzerhand verließ und erst, als sein Fuß mit dem gestärkten Holz der Haustür kollidierte, ein scharfer Schmerz durch seinen Fußballen zuckte und die Tür ein unwirsches Knirschen von sich gab, wurde ihm bewusst, was er gerade getan hatte. Er hatte die Contenance verloren; zum ersten Mal seit Ewigkeiten.

Ironischerweise fühlte er sich kein bisschen besser, nun, da die Tür noch stärker in ihrer Rahmung bebte, aber das schwere Holz unnachgiebig und unbekümmert vor ihm aufragte, wie es das schon über zwanzig Jahre getan hatte. Sein Fuß pochte wie verrückt und er zwang sich, die Finger von dem Knauf zu lösen und einen Schritt von der Tür wegzuhumpeln; die drei flachen Treppenstufen hinab, die hinunter auf den Gehweg führten.

Das Auto wartete mit laufenden Motor im Halteverbot unmittelbar vor dem Bürgersteig, und hinter den dunklen, verspiegelten Scheiben konnte er das Gesicht seines Bruders ausmachen, der seinen Ausbruch beobachtet hatte. Jihyun blickte ihn unverwandt an und die Verlegenheit seiner idiotischen Aktion veranlasste Jimin, sich so fest auf die Unterlippe zu beißen, dass er der Schmerz seines lädierten Fußes kurz an Bedeutung verlor.

Seine Mutter saß auf dem Beifahrersitz und blickte starr geradeaus—die schwarze Trauerflor erlaubte es ihr, mit dem dunklen Hintergrund verschmelzen und so sah er nur ihr blasses, müdes Gesicht durch die Scheibe aufblitzen.

Jimin beeilte sich, die Tür auf der Seite zum Gehweg zu öffnen, Jihyun mit einer unwirschen Handbewegung vom rechten Fensterplatz zu verscheuchen—aber gerade, als er sich anschickte, ins Auto zu steigen, erregte eine minimale Anomalie auf der anderen Straßenseite seine Aufmerksamkeit. Dort, an der Stelle, an der die kürzlich renovierte Maisonetten-Wohnung in die ersten Ausläufe des Stadtparks überging, stand eine hohe Gestalt und beobachtete ihn. Sie hatte sich halb in den Schatten der kahlen Äste einer Eiche zurückgezogen, ihr Haar war unter einer schwarzen Kapuze verborgen, ebenso wie die Mund- und Nasenpartie, vor die ein dunkler Mundschutz gezogen war. Dennoch war die Gestalt zweifelsfrei männlich; die breiten Schultern und die unweigerlich sehr unmädchenhafte Art, wie der Beobachter seine Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben hatte, sprachen Bände.

Ein Reporter, zweifellos. Irgendein journalistischer Parasit, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, zu dokumentieren, wie die in Ungnade gefallene Familie Park endgültig das Feld räumte. Selbst aus der Ferne konnte Jimin erkennen, dass die Hände ihres Beobachters sich in den Taschen um einen Gegenstand schlossen; eine Kamera wahrscheinlich, deren Blendenverschluss gewiss nur Augenblicke zuvor rhythmisch geklickt hatte.

„Steig endlich ein, Jimin", zischte Jihyun von unten und riss ihn an seinem Ärmel unwirsch nach vorne, sodass er ins Innere des Autos taumelte und sich das ohnehin schon blessierte Fußgelenk an der Achse des Türschwellers anschlug. Er zog zischend die Luft ein, und richtete sich rasch wieder auf, sodass er über Jisoos Kopf hinweg durch das andere Fenster blicken konnte; aber der dunkle Beobachter war verschwunden.

Die unbelaubten Äste, die über das schmiedeeiserne Gitter des Stadtparks ragten, wippten beinahe unmerklich auf und ab, und Jimin überlief ein unangenehmer Schauder, als er daran dachte, wie rasch es dem Fotografen gelungen war, vom Antlitz der Erde zu verschwinden. Er würde ab jetzt vorsichtiger sein müssen; denn das Letzte, das er sich in seiner jetzigen Situation erlauben konnte, waren kompromittierende Fotos seiner Selbst in der Regenbogenpresse, gerade jetzt, da er versuchte, sich im öffentlichen Auge zu amortisieren.

Verdammt. Er hätte nicht gegen die Tür treten sollen. Allein sein pochender Fuß verübelte ihm die Tat und Jimin wünschte unmittelbar, er wäre mit weniger Jähzorn und einer winzigen Spur mehr Umsicht gesegnet worden.

Mit einem letzten Blick auf die Hausfassade, die unglücklicherweise gerade jetzt unwirklich pittoresk in goldenes Herbstlicht getaucht wurde, das sich in den Regenrinnen und Blendsäulen verlor, schlug Jimin die Autotür hinter sich zu. Der Fahrer, der von der Partei seines Vaters geschickt worden war, um sich der Relokalisierung der Witwe und ihrer drei Kinder anzunehmen, nahm dies zum Anlass, das Auto unmittelbar anzulassen, mit rasender Geschwindigkeit aus der illegalen Parklücke auszuscheren und sich in den tröpfelnden Nachmittagsverkehr einzufügen. Jimin spürte, wie der Knoten in seiner Brust, der die vergangenen Wochen sein ständiger Begleiter gewesen war, ein klein wenig abmilderte; als sie die vertraute Nachbarschaft hinter sich zurückließen. Über ihrem Haus und darüber hinaus hatte eine drückende Wolke gehangen, die von den sich gegenseitig in Lautstärke überbietenden Reportern vor dem Haus, den mitternächtlichen Klingelstürmen und den Drohbriefen, die trotz polizeilicher Schutzmaßnahmen immer wieder ihren Weg durch den Türschlitz gefunden hatten, gespeist wurde bis sie als schwarzer und schwerer Smog wie eine vierte Person ein Monopol in ihrer Mitte angenommen hatte.

Er schien nicht der einzige zu sein, der sich so fühlte; als er seinen Blick zur Seite schweifen ließ, sah er, wie Jisoos Schultern sich langsam aber sicher entspannten, ihre Finger sich graduell von der Halterung an der Tür lösten, bis sie sie vorsichtig im Schoß faltete. In ihrer Hand hielt sie das silberne Amulett, das sie in letzter Zeit kaum einmal aus der Hand legte. Jimin wusste, dass sich darin eine Strähne aus der Mähne ihres amerikanischen Vollbluts befand—er war gestern mit ihr im Stall gewesen und hatte ihr emotionale Unterstützung dabei geleistet, während sie sich von Meosjin verabschiedet hatte, der nun an einen europäischen Händler verkauft wurde, jetzt, da Jisoo nicht mehr imstande sein würde, ihn zu reiten.

„Hey", sagte er über seinen Bruder hinweg und legte seine Hand auf ihre. Jisoo hob überrascht den Blick und Jimin fragte sich erneut, warum seine Geschwister so perplex auf seine Berührung reagierten. Lag es daran, dass er die letzten Jahre kaum Zuhause gewesen war? Zumindest nicht für den harmonischen Teil, der eine Beziehung zwischen ihnen aufgebaut hätte. Mit einem gewissen Anflug von Reue wurde ihm bewusst, dass er bis zum gestrigen Tage nicht einmal gewusst hatte, wie Jisoos Pferd hieß.

„Was ist?", fragte sie, nicht unhöflich, ihre Stimme schwer und etwas erstickt, als sammelten sich noch immer Tränen in ihr.

„Ich...", begann Jimin, dann biss er sich selbst auf die Zunge. Was wollte er ihr schon sagen? Dass alles wieder gut werden würde? War es das, was sie von ihrem großen Bruder hören wollte, der für sie wohl kaum mehr als ein blasses Trugbild war? Es käme ihm hypokritisch vor. „Nichts." Er löste seine Hand von ihrer, zog sich in seine Hälfte des Autos zurück und blickte mit starren Blick aus dem Fenster; beobachtete die anderen Autos dabei, wie sie sich neben ihnen auf den Spuren abwechselten, auftauchten und in der Unübersichtlichkeit der Stadt wieder verschwanden.

Als die Sonne hinter den Hochhäusern versank und die farblose, pastellgraue Dämmerung schlagartig Einzug hielt, kristallisierte sich sein eigenes Spiegelbild gegen die Fensterscheibe hervor und er starrte sich eine Weile unverwandt in die Augen, die in den zwielichtigen Lichtverhältnissen einen beinahe boshaften Glanz absonderten. Die hohen Wangenknochen, die seine relativ schwermütigen Augen umspielten, wirkten wie gemeißelt—das Gesicht schmal und elegant, unleugbar den beeindruckenden Zügen seiner Mutter nachempfunden. Während Jihyun und Jisoo das breite, runde Gesicht ihres Vaters geerbt hatten, das einst einen Sinn vertrauenswürdiger Offenheit erweckte, war Jimin ganz nach Park Eun Ae gekommen; mit makellos plumpen, allzeit schimmernden Lippen, einer definierten Kinnlinie, die sich unter seiner schimmernden Haut entlangzog und dem festen, robusten Haar, das gegen keine Färbung protestierte. Im Augenblick trug er nicht seine schwarze Naturhaarfarbe, sondern ein silbriges-graues Blond, das an einem Punkt knapp über seine Stirn in dunklere Wurzeln ausartete. Von dieser Stelle zerstreute sich sein Scheitel in eine fransige Komposition aus wildem, ungebändigten Haar, das seine Schläfen umspielte und Teile seiner Augenbrauen verdeckte. Jimin war immer bewusst gewesen, dass er ein gewisses Potential erfüllte, trotz des ganz offenkundigen Mankos seiner zarten Körpergröße und er hatte es als Privileg gesehen, das Bestmögliche aus seiner Attraktivität zu machen—mit der Konsequenz, dass er jetzt, gerade zwanzig, kaum schöner hätte sein können.

Als es im Inneren des Autos zu dunkel wurde, um etwas fernab des Tachos am Armaturenbrett zu erkennen, legte Jimin seinen Kopf an die Scheibe, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen, während das sanfte Schaukeln der immer unebeneren Straße ihn umsichtig einlullte und ihm erlaubte, sich kurz in einem leichten, unruhigen Schlaf zu verlieren.

Er wachte erst wieder auf, als Jihyun versuchte, über seine Schulter hinweg die Autotür aufzustemmen und ihn dabei mit der ausgestreckten Hand am Kinn traf. Das Auto war nun am Straßenrand geparkt; inmitten der Dunkelheit, die von der fehlenden Straßenbeleuchtung in Sillim-Dong ausging.

„Beweg dich von der Stelle", beschied ihn sein kleiner Bruder autoritär und Jimin verdrehte lediglich die Augen, ehe er den Gurt aufschnappen ließ, die Tür öffnete und mit wackeligen Knien auf die Straße trat. Nun, da die Sonne vollkommen in der Bucht verschwunden war, hatten sich fürwahr eisige Temperaturen breitgemacht und er spürte, wie ihn die letzte Nuance des traumlosen, angenehmen Schlafes verließ, während er seinen Geschwistern zusah, wie sie nach ihm auf die Straße kletterten. Ihre Mutter sprach mit dem Fahrer an der Haustür ihres neuen Domizils, falls das schmutzige, winzige Reihenhaus überhaupt als ein solches durchgehen lassen konnte.

Die kaum eineinhalb Meter hohe Backsteinmauer vor dem winzigen Eingangsbereich war mit fremden Motorrädern gesäumt, und die Stimmen ihrer Besitzer drangen aus den anliegenden Häusern, streitend, lachend, fluchend—keineswegs so abgeschieden, wie man seine Familienangelegenheiten eigentlich halten sollte. Das schmale Tor in der Eingangspforte bestand aus grünem Hartschalenplastik, das sich an der Fassade des Haupthauses in einer abgerundeten Überdachung entlang der Backsteinhausmauer zog wie ein hässliches Loblied der Geschmacklosigkeit.

Jimin hatte in seinem Leben selten so viele freie Leitungen gesehen, die maßlos und unreguliert von den windschiefen Masten hingen, beinahe die Hausmauern streiften und in jeder Hinsicht den Eindruck von ungewollten Atavismus erweckten. Das einzige Licht in der engen Wohnstraße, die kaum breit genug war, als dass zwei Motorräder gleichzeitig passieren konnten, rührte aus den Fenstern der anliegenden Häuser und Jimin war sich beinahe hundertprozentig sicher, dass sie hinter den milchigen Fensterschreiben und speckigen Vorhängen beobachtet wurden.

Sie waren schon drei, viel Mal hier gewesen; das erste Mal um den Mietvertrag zu unterschreiben und später um die wichtigsten ihrer Habseligkeiten in die leerstehende Dreizimmerwohnung zu verladen. Jedes Mal wieder hatte Jimin sich an der rohen Hässlichkeit des Hauses, des Viertels und allgemein der Nachbarschaft gestört; er hatte seine Mutter angefleht, dass sie lieber nach Incheon in etwas Vernünftigeres ziehen sollten, aber sie hatte ihm mit leiser, resignierter Stimme versichert, dass die Entscheidung nicht bei ihr lag.

Jisoo stand etwas verloren mitten auf der Straße, ihre Unterlippe zitterte und ihr Blick blieb immer wieder konsterniert an der groben, schmutzigen Backsteinfassade hängen, die vom rauen Plastik des regensicheren Übergangs in ihrer Profanität nur unterstützt wurde. Das silberne Amulett in ihren Fingern wurde Opfer ihrer gesamten Körperkraft, während sie ihre Hände um das Metall presste, als erwartete sie, wie durch Zauberhand eine Illusion von der Fassade abzuschütteln, die ein hübsches Reihenhaus ans Licht bringen würde.

Der Fahrer verabschiedete sich mit einem knappen Nicken von ihrer Mutter und war kaum einen Wimpernschlag später wieder im Inneren seines warmen, behaglichen Autos abgetaucht. Er ließ den Motor an und die hellen Abblendlichter tauchten die schreckliche Kulisse in ein letztes, reines, helles Licht, bevor die Sonne in fast zehn Stunden wieder aufgehen würde. Als der schwarze Wagen die enge Straße im Retourgang zurückgefahren und am Ende der Biegung um die Ecke verschwunden war, lag es bei Jimin, auf das Gartentor zuzuschreiten und seiner Mutter den Schlüssel aus den widerstandslosen, klammen Fingern zu zupfen. Er schloss das Tor auf, dessen Angeln protestierend quietschten, als er es unwirsch aufstieß und er tastete sich im Dunklen voran, während seine Finger sich in die Rillen in der Backsteinmauer gruben und anhand der stufenförmig verlaufenden Formation den Weg nach oben fand. Jisoo folgte ihm wie ein verlorenes Hündchen, während Jihyun nicht recht zu wissen schien, ob er die Nacht nicht doch lieber bei kaum zehn Grad auf offener Straße verbringen würde.

Jisoo half ihm, die Heizung anzuwerfen und jedes auffindbare Licht in der Wohnung einzuschalten, um die Dunkelheit aus den Ecken zu bannen und zumindest auf diese Weise den Eindruck auf Geräumigkeit zu erwecken.

Ihre Mutter machte sich kaum die Mühe, ihren Mantel in der winzigen Garderobe aufzuhängen, ehe sie ohne ein weiteres Wort im anliegenden Schlafzimmer verschwand. Das Haar hing glanzlos und strähnig über ihre Stirn und Jimin war nie aufgefallen, wie wächsern ihre eigentlich so hübschen Gesichtszüge nun wirken.

„Eomma?", fragte er vorsichtig, wohl wissend, dass er die Male an seiner Hand abzählen konnte, die er sie so genannt hatte, während er sich gegen die geschlossene Tür lehnte. „Willst du etwas essen?"

Er bekam keine Antwort. Seufzend löste er sich vom dünnen Holz und kehrte in die Küche zurück, in der Jihyun den Kühlschrank gerade auf etwas Essbares untersuchte.

„Wir haben nichts hier", murrte er gerade und knallte die Tür zu. „Nicht mal Ramyeon. Wollen die, dass wir verhungern?"

Jisoo hatte sich auf die Küchenbank fallen gelassen und begutachtete die winzige, dürftige Küche mit großen Augen. Die Küchenzeile war kaum großer als diejenige Installation, in der sie früher ihren Puppen den Tee serviert hatte und Jimin dachte bei sich selbst, dass es wohl wirklich Jahre dauern würde, bis er sich an die neuen Größenverhältnisse gewöhnen würde.

Er zog sein Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. „Es ist noch nicht mal neunzehn Uhr. Ich kann in einen Gemischtwarenladen um die Ecke gehen und etwas kaufen. Wie wär's mit Kimchi-Spaghetti?"

Jihyun und Jisoo wechselten einen schnellen Blick, der ihm nicht entging. Er wünschte sich unmittelbar, er könnte die unterschwellige Bedeutung darin ausmachen und dechiffrieren.

„Okay", sagte seine Schwester schließlich zögerlich. „Kimchi-Spaghetti klingen gut."

Jihyun nickte ebenfalls, und weil es das erste Mal an diesem Abend war, dass er sich nicht aus Prinzip in Opposition gestellt hatte, blieb Jimin nichts anderes übrig, als den Inhalt seines Geldbeutels auf den ausreichenden Geldbetrag zu untersuchen. Ihm fiel ein einzelner, zerknitterter 50.000 Won-Schein entgegen, der im schmutzigen Licht der Deckenbeleuchtung nur noch trauriger aussah.

„Ach, fuck."

Fünfzigtausend Won. Sein letzter Schein. Er war nie gut mit Papiergeld gewesen, aber seit das Plastik in seinem Portmonee so wertlos wie sein Materialwert geworden war, hatte er zumindest eine latente Würdigung für Bargeld erlernt.

„Egal", sprach er sich selbst Mut zu. „Das sollte reichen. Ich bin in zwanzig Minuten wieder da. Jisoo, du kannst solange das Wasser für die Nudeln aufstellen, wie ich die Gaszufuhr hier einschätze, wird das ohnehin seine Zeit benötigen."

„Und ich?", fragte Jihyun, der an der Abwasch lehnte und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.

„Fass einfach nichts an, das zu Bruch gehen könnte", meinte er halb im Scherz, ehe den Raum in Richtung Tür durchquerte; ohne zu zögern wieder ins Freie trat und von dem unwilligen Schnauben seines kleines Bruders in die Nacht begleitet wurde. Sofort schlug er den Kragen seiner Jacke hoch, als er unter dem hässlichen Plastikdurchgang durch den Vorgarten eilte und das Tor anlehnte, sodass er nachher wieder hindurch schlüpfen konnte.

Er hatte schon bei ihrem ersten Besuch in Erfahrung gebracht, dass der nächste Lebensmittelladen sich ungefähr vierhundert Meter den Hügel hinauf in einer unscheinbaren Seitenstraße befand—und bei seinem Grad der Trainiertheit würde er kaum zwei Minuten dorthin brauchen; vorausgesetzt er verirrte sich nicht in dem unübersichtlichen Labyrinth dieser gleich hässlichen Seitengässchen.

Während er über den unebenen Asphalt hastete, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke, kam von hinten ein scharfer Nordwind auf; einer der Sorte, die es aus Sibirien in den Wintermonaten hierher verblies, wenn Jangma, die Regenperiode des Sommers sich endgültig ihrem Ende zuneigte. Obwohl die Luft ihm kleine Eisnadeln in den Nacken trieb, begrüßte er die Kälte als willkommene Abwechslung aus dem Grund, nicht seinen ewig kreisenden, düsteren Gedanken nachgehen zu müssen.

Die Straßen in Sillim-Dong, lediglich eine knappe Autostunde von Gangnam-Gu entfernt, hätten sich nicht diametraler zu der Tatsache verhalten können, dass sie trotz allem noch durch Seoul verliefen. Vielmehr erinnerte ihn die wohl jahrelang vernachlässigte Infrastruktur an Jeju, die tropische Insel im Süden des Landes, auf der er seine Abiturreise verbracht hatte. Auch wenn hinter den Fenstern der angrenzenden Reihenhäuser Licht brannte, das zweifelsfrei elektrischen Ursprungs war, fühlte Jimin sich in ein vergangenes Jahrhundert zurückversetzt; das unterschwellige Motorengeräusch der Autobahn so weit von den gottverlassenen Bauten entfernt, dass es sich dabei genauso gut um das Heulen des Winds handeln konnte. Der Haushaltsmüll stapelte sich in bunten Plastiksäcken vor den Pforten und Mauern, an denen er rasch vorbeieilte, und er scheuchte mindestens vier Katzen auf, die fauchend in die Dunkelheit davonstoben, nachdem sie ihn mit ihren gelben Taschenlampenaugen durchleuchtet hatten.

Er konnte nicht in Worte fassen, wie sehr er es hier hasste. Wie sehr er die Armut hasste, die jeder Ecke anzuhängen schien wie eine Schmutzschicht; wie sehr er die wenigen Menschen verabscheute, die aus ihren Fenstern nach draußen blickten und seinen Blick kreuzten—mit abweisenden Zügen um den Mund, misstrauisch verzogenen Augenbrauen und der eindeutigen Abneigung gegen das, wofür er stand.

Jimin hatte in seinem Leben keinen einzigen Tag Hunger gelitten; ganz im Gegenteil, er war verschwenderisch und hochmütig mit den Speisen umgegangen, die von der Haushälterin drei Mal am Tag serviert worden waren. Er war kaum einmal zu Fuß irgendwohin gegangen; der Chauffeur seines Vaters hatte ihn überall dort abgesetzt, wo er es gefordert hatte und selbst um vier Uhr morgens an den unmöglichsten Orten wieder aufgegabelt. Es hatte kaum eine Woche gegeben, in der er sich nicht etwas Teures, Überflüssiges und Idiotisches gekauft hatte—ob es eine viertausend-Dollar-Jacke von Balmain gewesen war, weil er sie an einem Popidol gesehen hatte, oder einen lederbezogenen Massagestuhl, diamantene Ohrstecker, Ringe, so viele Ringe—sündteure Platten, von denen er sich viele kein einziges Mal angehört hatte, Kopfhörer, Gras, Tabletten und Alkohol. Nicht zu vergessen den nicht unwesentlichen Betrag, den sein Vater für die diskrete Entzugsklinik hingeblättert hatte, als Jimin im Alter von siebzehn Jahren drei Mal im selben Monat den Magen ausgepumpt bekommen hatte. Seit dieser Erfahrung machte er einen großen Bogen um jegliche Rauschmittel, aber seine anderen Süchte waren ihm erhalten geblieben.

Und nun hatte er gerade noch fünfzigtausend Won in der Tasche.

Ein bitteres, raues Lachen löste sich aus seiner Kehle, wurde ihm vom eisigen Nordwind von den Lippen gerissen, ehe das Geräusch sich manifestieren konnte.

Fünfzigtausend Won? So viel hatte er noch vor rund einem Monat für einen Kaffee ausgegeben, wenn seine Freunde ihn in eines ihrer Stammlokale verzerrt hatten. Und jetzt sollte er davon ein Abendessen für sich und seine zwei Geschwister gewähren.

Komm schon, Jimin, beschwor er sich in Gedanken. Du hast doch nichts gegen eine kleine Herausforderung, oder? Zeig ihnen, dass du dazu fähig bist.

Das unbestimmte, kollektive Sie in seinem Appell bezog sich dabei auf die eifrigen Verfolger der Klatschpresse, die sich vermutlich jetzt schon das Maul über den tief gefallenen Sohn des größten Skandals der neuen Republik zerrissen. Auf seine Freunde, die seine Nachrichten in den letzten Wochen immer lapidarer beantwortet hatten; seine Lehrer, die gerade wohl ein Loblied auf Karma sangen, wenn sie sich daran erinnerten, wie unmöglich und hochmütig er sich all die Jahre im Klassenraum verhalten hatte. Als sei er etwas Besseres als sie. Damals hatte das tatsächlich noch der Wahrheit entsprochen—aber jetzt hatte Jimin Schwierigkeiten, noch jemanden zu finden, über den er sich hierarchisch stellen konnte.

Als er um die Ecke bog, an dessen Ende er den Lebensmittelladen vermutete, löste sich aus einem erleuchteten Hauseingang eine Gestalt, die mit eiligen und wütenden Schritten aus dem Hausinneren davonstob. Eine zornige Stimme wehte aus dem Torbogen und Jimin erkannte darunter eine ältere Frau, die ihre Faust furios erhoben hatte und dem Ausreißer hinterherschüttelte. „Lass dich hier bloß nicht mehr blicken!", keifte sie mit einer schrillen Stimme, die Jimin selbst als unbeteiligten Passanten durch Mark und Bein fuhr. „So ein Gesindel nenne ich nicht meinen Enkel!"

„Du kannst mich mal, Halmeoni!", rief die Gestalt zurück und sprang mühelos über das geschlossene Haustor. Er landete kaum zwei Meter von Jimin entfernt auf dem Asphalt der Straße. „Geld ist Geld, egal, wie ich es beschafft habe."

„Ich habe mir nicht jeden Won vom Mund für eine gute Schulausbildung abgespart, dass du in die Fänge dieses... dieses Teufels gerätst!", schrie die ältere Frau und Jimin verlangsamte seine Schritte, ungeachtet der beiden Streitenden. „Unsere Familie arbeitet ehrlich für ihr Geld, Jeongguk!"

Der Junge, der gerade noch elegant über das Gartentor gesprungen war, zog sich die schwarze Kapuze vom Haar, ein roter Schimmer des brodelnden Ärgers auf seinen Wangen. Er besaß ein ebenmäßiges, hübsches Gesicht mit riesigen braunen Augen, die Jimin entfernt an einen Labrador erinnerten, zusammen mit wildem, dunklen Haar und einer beeindruckend muskulösen Statur. Er wirkte harmlos, wie einer der Jungen, die sich in der Schule anstrengten, und im Bus aufstanden, um älteren Leuten ihren Sitzplatz zu überlassen.

„Komm erst zurück, wenn du diese gottlose Plage losgeworden bist, Junge! Davor will ich dich hier nicht mehr sehen!", zeterte die cholerische Frau im Türrahmen, deren graues Haar zu einem strengen Knoten zurückgekämmt war, ehe sie sich auf der Stelle umdrehte und die Tür ins Schloss knallen ließ. Der Junge auf der Straße zuckte unwesentlich zusammen, aber sein Kiefer presste sich determiniert zu einer klaren Linie. Er hatte Jimin immer noch nicht zur Kenntnis genommen und so beeilte sich dieser, seine Schritte zu beschleunigen und den exmittierten Jungen rasch hinter sich zurückzulassen. In welche Schwierigkeiten auch immer dieser sich manövriert hatte, Jimin war sich sicher, dass er damit nichts zu tun haben wollte.

Es war kein Geheimnis, dass sich fernab des Glamours und Sorglosigkeit seines ehemaligen Einzugsgebiet zwielichtige Gestalten auf den nächtlichen Straßen herumtrieben, um die man besser einen großen Bogen machte. Koreanische Straßengangs, Kkangpae, wie man sie auch nannte, herrschten über die Viertel, in die die Polizei sich seit der Kolonialzeit nicht mehr hineintraute. Üblicherweise blieben die primitiven, mordlustigen Straßenräuber und Drogendealer unter sich—für die allgemeine Politik waren sie kaum salonfähig—aber...

Jimin bemerkte, wie ein kaltes, humorloses Grinsen sich in seinen Zügen eingrub. Nun; man hatte schon von Politikern gehört, die geglaubt hatten, aufgrund ihrer eigenen Interessen mit Kkangpae verhandeln zu können. Der letzte ihrer Sorte war der vorherige Premierminister gewesen; ehe ihn das Einmischen in die Geschäfte dieser... unkultivierten Wilden mit einer Kugel im Kopf zurückgelassen hatte. Oder war es eine durchtrennte Halsschlagader gewesen?

Mit milder Interesse wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nicht wusste, was seinem Vater letztendlich das Leben gekostet hatte. Es war die Kugel in seinem Hinterkopf gewesen, oder? Aber auf den Pressebildern hatte man eindeutig eine blutige Trennlinie um den Hals ausmachen können. Vielleicht hatten die Kkangpae auf Nummer sicher gehen wollen, als sie das gemietete Penthouse gestürmt hatten und mit sämtlichen Gästen seines Vaters wie auch ihm selbst kurzen Prozess gemacht hatten.

Er schüttelte den Gedanken an die leeren, leblosen Augen seines Vaters ab, an den zur Seite gefallenen Kopf, die blutverkrustete Blessur um die Augen und den Mund. Wenn man nach der Öffentlichkeit ging, hatte er es ohnehin verdient—ein Politiker, der Premierminister zu allem Überfluss, der sich auf Kkangpae einließ, verdiente ein 9mm-Projektil in seinem Hinterkopf. Das war noch das Mindeste womit ein so offensichtlicher Gesetzesverstoß geächtet wurde.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Junge, der von seiner Großmutter soeben so unzeremoniell auf die Straße gesetzt worden war, ebenfalls zu solch einem strategischen Rachemord berufen wurde. Vermutlich würde er für jede Kugel mit einem beachtlichen Bündel Banknoten entlohnt werden; Geld, das seine Halmeoni zurecht nicht in ihrem Haushalt wissen wollte.

Jimin war ungemein erleichtert, als die erleuchtete Fassade des Gemischtwarenladens vor ihm in der Dunkelheit auftauchte. Aus dem Inneren drang leise Musik, die Fenster starrten vor Schmutz, unter einem fransigen Sonnenschirm vor der Tür lehnten zwei Jugendliche und amüsierten sich über den Inhalt eines Magazins, das sie zwischen sich ausgebreitet hatten. Sie nahmen Jimin mit einem lethargischen Blick zur Kenntnis und er beeilte sich, an ihnen vorbei ins Innere des Geschäfts zu schlüpfen, bevor ihre Apathie in etwas weniger Passives umschlug.

Kaum, dass er einen raschen Blick auf die Auslegung des Geschäfts geworfen hatte, wurden ihm zwei Dinge bewusst: Erstens würde er mit fünfzigtausend Won sehr wohl auskommen—und zweitens war die Auswahl so dürftig, dass es an ein Wunder grenzte, wenn er tatsächlich alle Zutaten für Kimchi-Spaghetti ausfindig machen würde.

Außer dem griesgrämigen Mann hinter der Kasse, höchstwahrscheinlich dem Ladeninhaber, hatten sich gut ein halbes Dutzend anderer Kunden auf die unübersichtlichen Gangreihen verteilt; und jeder einzelne von ihnen sah auf, als Jimin durch die Tür trat.

Er war es gewohnt, dass die Blicke sich automatisch auf ihn richteten, wenn er einen Raum betrat, aber diesmal war er sich ziemlich sicher, dass die Aufmerksamkeit nicht seinem attraktiven Äußeren geschuldet war.

Er war ein Eindringling hier in Sillim-Dong, mit seiner makellos schimmernden Haut und dem aufwendig gefärbten Haar, dem selbstsicheren Gang, den die vergangenen Wochen ihm nicht hatten austreiben können. Zudem war er sich ziemlich sicher, dass man ihn erkannt hatte; so leuchtete ihm selbst hier das schmerzvoll vertraute Gesicht seines Vaters von dem Zeitungsstand entgegen.

Sofort senkte er den Blick auf den Boden, und beeilte sich in die Sicherheit des Gemüsegangs abzutauchen, wo er eine Zwiebel aus dem Plastik der Verpackung löste und in den Plastikkorb fallen ließ. Während er so tat, als würde er das Preisschild entziffern, beobachtete er, wie ihm sechs stechende Blicke zuteil wurden, die jeden seiner Schritte zu verfolgen schienen.

Sein Nacken prickelte unangenehm und in seinem Magen machte sich eine plötzliche Übelkeit breit. Er hatte sich selten einmal so unwohl gefühlt, wie unter den forschenden Blicken der anderen Kunden, die ihm alleine durch Starren all seine Geheimnisse von der Haut ablesen zu können schienen. Mit zitternden Fingern griff er nach einer Packung Spaghetti, während er sich dafür verfluchte, nicht zusammen mit Jihyun losgezogen zu sein. Zu zweit war die eingehende Prüfung seiner Person wohl kaum so dramatisch; vielleicht würden sie sogar über die glotzenden Fischaugen der Einwohner lachen können.

So jedoch fühlte er sich wie auf einem Silberteller; beinahe schlimmer als im vollbesetzten Gerichtssaal, als tausende Kameras auf ihn gerichtet gewesen waren, während er im Zeugenstuhl seine Verteidigungsrede vorgebracht hatte. Damals hatte er geglaubt, er müsse sich erbrechen, es hatte sich so angefühlt, als würde ein brennendes Eisen gegen seine Magenwände drücken; aber jetzt—jetzt war er vollkommen alleine.

Jimin bemühte sich, seinen Einkäufen so rasch und unbehelligt wie möglich nachzugehen, und kaum, dass er den Plastikkorb gefüllt hatte, beeilte er sich, zur Kasse vorzudringen und die Artikel auf dem Tisch auszubreiten. Der Ladeninhaber musterte ihn kurz, ehe er sich seufzend daran machte, das Gemüse, die Dosen mit dem eingelegten Kimchi und die Nudeln in eine Plastiktüte zu verladen, die er ihm über den Ladentisch hinschob. „Vierzigtausend Won."

Jimin schlang die Plastikträger um sein Handgelenk, ehe er den Fünfzigtausend-Won-Schein über die Theke gehen ließ. Er bekam zwei fünftausend Won-Scheine zurück, die er mit einem leisen Dank auf den Lippen in den Taschen seiner Jacke versenkte. Ohne sich zu verabschieden, löste er sich von der Kasse, durchquerte das Ladeninnere und trat über die Schwelle ins Freie hinaus. Noch bevor die Erleichterung sich in ihm breit machen konnte, schoben sich die zwei Jugendlichen vor ihn, die zuvor noch gelangweilt in ihrem Magazin geblättert hatten.

Sie bildeten eine undurchlässige Mauer vor ihm und Jimins Herz sank.

„Entschuldigung...", murmelte er und versuchte, sich an ihnen vorbeizuschieben. Sein Fluchtversuch wurde jedoch durch das unwirsche Packen seines Arms vereitelt, als der Größere der beiden ihn gackernd zurückzog.

„Ach, wie süß. Ganz der höfliche Großstadtjunge", spottete der eine der beiden, der Jimin um gut einen Kopf überragte. „Deine guten Manieren werden dich hier nicht sehr weit bringen."

„Was wollt ihr?", fragte er wachsam, während ihm das Plastik der Einkaufstüte ins Handgelenk schnitt. „Ich hab kein Geld."

„Hey, wer sagt denn, dass wir dich abziehen wollen? Vielleicht haben wir nur Lust auf ein Gespräch mit dem hübschen Puppengesicht aus der Presse."

Der Typ hatte einen gedehnten, nördlichen Akzent, der Jimins Magen rebellieren ließ. Vor gut zwei Jahren waren er und seine Freunde einmal an eine Gruppe Schläger geraten und der träge, langgezogene Akzent seiner Sprecher verfolgte ihn noch heute.

„Es gibt nichts, das ihr nicht auch in einer Zeitung nachlesen könnt." Kaum, dass ihm die Worte entschlüpft waren, biss er sich auf die Zunge. Er sollte vielleicht einen Gang zurückschrauben, wenn er unverletzt aus der Sache gehen wollte.

„Aber, aber", sagte der Größere, der Jimin an der Jacke zurückgezogen hatte. „Wir wollen doch nur wissen, wie die Partys deines Vaters abgelaufen sind. Der Schnee, der rumging, war sicher von einer exquisiten Qualität."

Die beiden brachen in gackerndes Gelächter aus und Jimin konnte sie lediglich anstarren.

„Hast du auch mal eine der Nutten ausprobieren dürfen? Oder waren die strikt für deinen Daddy und seine korrupten Politikerfreunde?"

Jimin merkte, wie sein Blickfeld an den Seiten sich schwarz verfärbte. Ein alles verschlingendes Rauschen brandete in seinen Ohren auf und er gab die Kontrolle über seine Finger auf, die sich prompt zu Fäusten ballten. Er war kurz davor, zum zweiten Mal an diesem Tag die Beherrschung zu verlieren. Und das war sehr, sehr schlecht.

„...wusste immer, dass die dort oben genauso verdorben sind wie wir", fuhr der Typ fort und ein Ausdruck der Abscheu machte sich auf seinem reizlosen Gesicht breit. „Nur sind wir nicht so scheinheilig und verstecken uns hinter lachhaften Prinzipien."

Der andere brach prompt in dämliches Gelächter aus. „Schau dir sein ängstliches Gesicht an", prustete er. „Er überlegt wohl gerade, wie er seine operierte Fresse aus der Sache heil rauskriegt."

Seine Worte schlugen dem Fass endgültig den Boden aus und Jimins Lippen formten sich ganz von selbst zu einer scharfen Antwort: „Soll ich etwa meinen Chirurgen anrufen? Gegen deine ausgeprägten Hängelider kann er sicher noch etwas unternehmen."

Nein, Jimin, nein, stöhnte sein Unterbewusstsein.

„Was hast du gesagt?", fragte der Angesprochene gefährlich ruhig und Jimin verbiss sich mit letzter Kraft eine scharfzüngige Konter, die ihn gewiss mit einem zersplitterten Wangenknochen zurückgelassen hätte.

„Ich glaube, er hat impliziert, dass du hässlich bist, Chae", sagte der andere kopfschüttelnd und blickte Jimin aus mitleidlosen schwarzen Augen an. „Warum würde er so etwas tun?"

„Ich weiß es nicht, Doyon." Der Typ, der von Jimin beleidigt worden war, rollte langsam die Ärmel seiner Sweatshirtjacke nach oben. „Aber ich glaube es ist besser, wenn wir ihm ein wenig Respekt beibringen. Wir wollen doch nicht, dass er noch einmal in eine solche Situation gerät."

Jimin schloss die Augen und ließ Luft durch seine Lungen ziehen, ehe er sich gedanklich von der Ebenmäßigkeit seines Gesichts verabschiedete. Er war niemals wirklich bei einem Chirurgen gewesen; aber wenn die beiden mit ihm fertig waren, würde der Intervent vielleicht sogar von einer Krankenkasse gezahlt werden.

Er hörte Kleidung rascheln, als jemand ausholte, und eine Faust pfeifend durch die Luft vor ihm sauste. Ein Luftzug erwischte ihn an der Lippe; aber der erwartete Schlag gegen sein Kiefer blieb aus.

Stattdessen hörte er einen dumpfen Aufprall, als würde die Faust geradewegs in der Luft auf Widerstand treffen; fast so, als hätte sich ein Luftpolster zwischen ihn und die beiden Schläger geschoben—aber als er überrascht die Augen öffnete, stand dort stattdessen der exmittierte Junge und hielt das Handgelenk des Hässlichen gepackt, scheinbar ohne sichtliche Mühe. Unter seiner Haut zeichnete sich die Muskelarbeit aus, die es benötigte, Jimin die Faust vom Leib zu halten.

„Lasst eure schlechte Laune an jemand anderem aus, ihr minderbemittelten Bohnenstangen." Seine Stimme war weich und ruhig und Jimin stiegen beinahe die Tränen in die Augen, als er den melodischen Akzent seiner eigenen Heimatstadt daraus hörte. Es konnte nur ein himmlisches Zeichen sein, dass jemand aus Busan sich hierher verirrte und ihn aus seiner Misere erlöste.

Jimin erwartete, dass die beiden Schläger sich höchstens amüsiert von seinem Retter abwandten, um ihn weiter in die Mangel zu nehmen—(immerhin waren sie in der Überzahl); aber zu seiner grenzenlosen Überraschung standen sie vollkommen unbewegt vor ihm. Beide ihrer Blicke waren starr und fassungslos auf das Handgelenk des Jungen gerichtet. Zuerst verstand er kaum warum, aber als dieser die Faust des anderen losließ und der langgezogene, schwarze Schatten um seinen Puls nicht verwischte, wurde ihm bewusst, dass es sich dabei um ein Tattoo handelte.

In Südkorea waren Tätowierungen so verpönt, dass sie eigentlich illegal waren; ohne lizensierte Tattoostudios gab es kaum jemanden, der die soziale Ächtung auf sich nahm, der Ästhetik willen mit Tinte auf der Haut durch die Gegend zu marschieren.

Der Grund waren Kkangpae. Einzig sie trugen die Schwärze der Tinte unter den Ärmeln ihrer Jacken—als Erkennungssymbol, Zeichen ihrer Zugehörigkeit und Jimin wurde schlagartig bewusst, dass seine erste Vermutung ihn nicht getäuscht hatte. Der Junge vor ihm war von seiner Großmutter verstoßen worden, weil er sich einer Gang angeschlossen hatte und das Tattoo an seinem Handgelenk würde ihm wahrscheinlich sogar sagen, welcher, wenn er sich damit ein wenig besser auskennen würde.

Purple Rain", stieß derjenige hervor, den Jimin beleidigt hatte. „Du arbeitest für den verdammten Purple Rain von Daegu, Jeon, heilige verfickte Scheiße."

Der Junge lächelte liebeswürdig und Jimin fragte sich, ob er der einzige war, dem auffiel, wie jung er eigentlich wirkte. „Scheint ganz so, Chae." Er zwinkerte den beiden zu. „Und weißt du, mit wem ich gerade noch gesprochen habe?"

Chae schüttelte den Kopf, gelähmt vor unterdrückter Panik.

„Mit Victory."

„M-mit V?"

Der Junge summte zustimmend. „Er hat einen wirklich, wirklich ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Hasst Schläger, die grundlos Ärger machen."

Jimin hatte nicht den leisesten Schimmer, wer Victory war, dafür jedoch schien sein Name seinen beiden Angreifern sehr viel zu sagen, denn vor allem Chaes Augen weiteten sich vor stummer Angst.

„Außerdem hat er heute Abend äußerst schlechte Laune; ich bin sicher, wenn ich ihm sage, was für Dummheiten in unserer Zuständigkeitszone geschehen, wird er sich keine Sekunde zieren. Und ihr wisst ja, was er mit dem reichen Jungen aus Gangnam gemacht hat; ich kann euch aus erster Hand versichern, dass das Blut sich in den Griff seines Bowie-Messers gefressen hat wie sonst was."

Mehr Einschüchterungspolitik war wohl an die beiden verschwendet, denn Jimin konnte kaum einen zittrigen Atemzug tun, da hatten sie sich auf der Stelle umgedreht und waren schneller in der Dunkelheit der anliegenden Gasse verschwunden, als er es für möglich gehalten hatte.

Sein Retter schüttelte missbilligend den Kopf, ehe er sich das erste Mal an Jimin wandte: „Du musst vorsichtiger sein. Das ist nicht Gangnam."

„Ich war vorsichtig!", brauste Jimin auf, während er sich fragte, warum er jetzt schon wieder sein Mundwerk wiedergefunden hatte. „Was kann ich dafür, dass die beiden offensichtlich ein klein wenig zu fasziniert von meiner Familie sind?"

Sein Gegenüber grollte unwillig und Jimin schluckte, als ihm bewusst wurde, dass auch er ihn um einen halben Kopf überragte. „Du hast heute Abend Glück gehabt. Aber ich habe Besseres zu tun, als das Luftpolster deiner großen Klappe zu spielen, kapiert?"

„J-ja", murmelte Jimin trotzig und blickte zu Boden. Selbst er lernte aus seinen Fehlern; und nur, weil ihn der verstoßene Junge vor zwei Schlägertypen gerettet hatte, bedeutete das nicht, dass er nicht willig war, sich nicht in ebendem Aggressionsabbau zu betätigen.

„Pass auf dich auf, klar? Du bist nicht mehr im heilen, tadellosen Gangnam. Das Viertel hier untersteht meinem Boss, und er findet es garantiert nicht lustig, wenn du hier herumrennst und Unruhe stiftest."

„Ich hab nicht—", begann er verärgert, aber der Blick seines Gegenübers ließ seine Zunge erlahmen. „Ja. Okay."

Der Junge nickte, in Gedanken offenbar schon woanders. „Ich muss jetzt los. Geh nach Hause und lass dich heute nicht mehr hier sehen. Die beiden werden dich wahrscheinlich ab jetzt in Ruhe lassen."

Jimin nickte steif, während er den Plastikgriff der Tüte aus seinem Handgelenk löste und als der Junge sich schon umgedreht hatte, brachte er die Worte hervor, die ihm die längste Zeit auf der Zunge gelegen waren. „D-danke."

Er drehte sich überrascht um, beinahe so etwas wie ein Lächeln auf seinen Lippen. „Gern geschehen." Dann wandte er sich endgültig von Jimin ab, versenkte die Hände in den Taschen seiner Jacke und war keine Sekunde später von der Dunkelheit der Gasse verschluckt.

Jimin hatte sich schon vor Wochen mit bitterer Resignation eingestanden, wie schwer dieses neue Leben werden würde; aber es entmutigte ihn ungemein, dass er nicht einen einzigen Tag hinter sich bringen konnte, ohne beinahe das Zeitliche zu segnen.

- — -

( author's note)

Ich hoffe, das erste Kapitel hat euch gefallen. Purple Rain wird definitiv düsterer, als alles, was ich bisher geschrieben habe, weil ich merken musste, dass die Welt eben nicht so vanilla ist, wie ich das selbst in Crime-Storys angenommen habe.

Nun, wer Jimins Retter ist, wissen war ja schon, und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand nicht erraten hat, wer Victory ist. Bis Purple Rain höchstpersönlich auftaucht, wird es wohl noch ein bisschen dauern; aber hey, gut Ding braucht Weile. Und Jimins (ambiguer) Charakter muss noch erläutert werden.

Was sagt ihr? Ist Jimin ein guter oder schlechter Mensch?

Love y'all,
Rose.

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