Der Vergessene Prinz

By FrannySage

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Es ist nur der Zufall, der den einfachen Dorfjungen Taris und den fliehenden Prinzen seines gefallenen Königr... More

Der Junge in der Hütte
Der Junge auf dem Weg
Der Junge im Kampf
Der Junge in der Kälte
Der Junge und die Heilerin
Der Junge an der Arbeit
Der Junge im Aufbruch
Der Junge auf der Straße
Der Junge und Regen
Der Junge und die Hoffnung
Der Junge verloren in Schrift
Der Jüngling in der Weite
Der Jüngling zwischen Mauern
Der Jüngling schleichend
Der Jüngling und sein Sommer
Der Jüngling in der Dunkelheit
Der Jüngling in den Bergen
Der Jüngling und seine Aufgabe
Der Jüngling und der Prinz
Der Jüngling und die Leere
Der Jüngling und das Ende der Welt
Der Jüngling und der Blick zurück
Der Jüngling und die Erkenntnis
Der Mann und der Weg rückwärts
Der Mann und das Menschsein
Der Mann in der Flut
Der Mann und die Erinnerung
Der Mann und die letzten Schritte
Der Mann allein
Der Mann angekommen
Der Mann danach
Der Mann und die Jahre
Der Alte und die Ewigkeit
Spin-Off: Das Vergessene Kind

Der Jüngling in der Stadt

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By FrannySage

Die Siedlung im Norden sieht größer aus, als sie ist.

Die Menschen hier leben in den Überresten einer Stadt, die alte Stadtmauer unterstützt von grob aufgeschichteten Steinhaufen und einfachen Holzkonstruktionen, wo sie mit der Zeit niedergefallen ist. Anstelle der meisten Häuser finden sich kahle Flecken, wiedererobert von der Natur und zu kleinen, kaum ergiebigen Feldern bestellt, Efeu rankt sich wulstig um Säulen und krumme Birken ragen aus halb eingefallenen Häuserwänden.

Grimmig dreinblickende Wachen winken sie durch das schmale Tor herein und auf dem Weg durch die letzten Erinnerungen einer besseren Zeit wird Altair still und zögerlich, bis er nicht einmal mehr die Blicke der Bewohner wahrzunehmen scheint.

„Geht es dir gut?", fragt Taris besorgt und Altair nickt langsam, bleich um die Nasenspitze.

„Es erinnert mich nur", sagt er und muss nichts mehr hinzufügen, dass Taris weiß, woran. Diese Stadt hier ist keinen Flammen zum Opfer gefallen, aber es fühlt sich ganz ähnlich an, mit all den verlassenen und zerfallenen Häusern und Menschen, die sich so offensichtlich in Trümmern ein Leben aufgebaut haben.

Wer ihnen begegnet ist genauso grimmig wie die Wachen, bewaffnet und in grobe Felle eingepackt, in der Gesamtheit größer und gröber gebaut als übliche Stadtbewohner, selbst die Frauen. Erst um den alten Marktplatz kommt etwas mehr Leben auf, scheinen die Häuser bewohnt und ihre Bewohner wenigstens freundlich genug, hin und wieder mit ihren Nachbarn zu plaudern.

Ein einzelner, kräftiger Mann, der sein rechtes Auge mit einem Stück Stoff verbunden hat, sieht Altair und Taris auf den Marktplatz treten und kommt auf sie zu, selbst sein Lächeln nur bedingt einladend.

„Ihr seht aus, als wärt ihr gerade erst über die Steinwüste gekommen", begrüßt er sie ohne Umschweife und da wenden sich die anderen Leute und ihre neugierigen Blicke auch schon wieder ab. „Was kann ich für euch tun?"

„Wir suchen ein neues Zuhause", antwortet der Prinz rasch, noch bevor Taris sich eine Antwort überlegen kann.

Der Einäugige fragt nicht weiter nach, sondern winkt sie nur knapp mit sich, zwischen halbleeren Auslagen, schwatzenden Leuten und umher staksenden Ziegen hindurch. Ein kleines Kind rennt brüllend zwischen den Beinen herum, während seine Mutter versucht, es wieder einzufangen.

Es ist wie sein Dorf damals, denkt Taris. Ein Dorf in einer Stadt, ein Ort, der ihn und Altair zu gleichen Teilen an ein lange verlorenes Zuhause erinnert.

„Wir nehmen kein Gold", brummt der Mann auf dem Weg. „Wenn ihr arbeitet, dann bekommt ihr euren Lohn. Aber darüber werden wir morgen sprechen."

Er öffnet ihnen die Tür eines kleinen, engen Hauses, dessen oberes Stockwerk notdürftig mit halben Baumstämmen vernagelt ist, wo es einmal zerfallen war.

„Der hier kommt nicht wieder, da könnt ihr wohl bleiben."

Bevor er sie vorbeilässt, mustert er sie kurz.

„Freunde?", fragt er ohne wirkliches Interesse in der Stimme.

„Brüder", sagt Altair ohne zu zögern.

Der Einäugige nickt und ein Lächeln umspielt seine Lippen.

„So gehört sich das", sagt er. „Ohne Brüder und Schwestern wäre es hier ein graues Leben."

Er nickt hin zu einem Haus, nicht viel weiter in derselben Straße.

„Falls ihr etwas braucht, kommt ins Wirtshaus", sagt er, bevor er sich wieder auf den Weg macht. „Ich komme morgen noch einmal vorbei, bevor wir schauen, was wir mit euch anfangen können."

Der Einäugige verabschiedet sich nicht von ihnen, aber Taris hat auch nichts anderes von ihm erwartet. Die Menschen dieses Landes sind nicht herzlich, sie sind verbunden durch eine grimmige Notwendigkeit, eine Kameradschaft im Angesicht der ständig drohenden Freiheit. Es ergibt alles Sinn, aber Taris spürt dennoch eine unerwartete Sehnsucht nach mehr.

Er schimpft sich einen Narren dafür. Sie haben so viel mehr, als in den letzten Jahren. Hier können sie bleiben, hier können sie sich ein Zuhause aufbauen. Hier können sie leben. Ihre Betten sind warm, aber sein Schlaf ist trotzdem unruhiger als auf den kalten Ebenen da draußen.

***

Das Gefühl nimmt ihren Winter in der Stadt über nicht ab, obwohl sie ihre Einwohner nach und nach kennenlernen und verstehen, hinter ihren harten Blicken die gleichen Geschichten zu sehen, die ihnen selbst wiederfahren sind.

Manche von ihnen sind herzlich, wenn man sie einmal bei einem schlecht gebrauten Bier im Wirtshaus trifft und nach ihrer Herkunft fragt und andere sagen kein Wort mehr als nötig selbst zu ihren langjährigen Freunden. Nur wenige von ihnen sind Nachfahren der alten Bewohner des Landes, der Großteil von ihnen ist wie Taris und Altair aus den Königreichen gekommen, auf der Suche nach Schutz, nach Vergebung, nach Einsamkeit, nach Freiheit. Der Einäugige erzählt ihnen, wie er den königlichen Soldaten erschlagen hat, der ihm die Frau gestohlen hat und dafür fliehen musste, der Wirt hatte zu hohe Schulden, ein alter Zimmermann hat sich nach einem Leben gesehnt, in dem er nicht vom Gutdünken der Könige abhängig ist.

„Sie haben keine Ahnung, was sie alles anrichten, wenn sie ihre neuen Gesetze verkünden", schimpft er laut. „Nirgendwo ist man sicher von ihnen."

„Hört, hört", murmelt Altair in seinen Krug und seine Mundwinkel ziehen sich nach oben.

„Wenn sie auch nur einmal von ihren Schlössern herunterkommen würden, dann müsste man ihnen Manieren einprügeln", pflichtet der Wirt dem Zimmermann bei. „Anders bleiben sie nur gierige, schmarotzende Gockel."

„Wenigstens herrscht in den Reichen eine vernünftige Ordnung", mischt sich ein Schankweib aufbrausend ein und die beiden Männer versuchen sie niederzuschreien und dann brüllen sich alle gegenseitig an und Taris und Altair sehen sich an, trinken rasch aus und verlassen das Wirtshaus, um durch die leeren, dunklen Straßen zu streifen, die in der Nacht blass von den endlosen Sternen über ihnen erleuchtet werden. Sie entzünden keine Fackeln hier, damit umherziehende Horden sie nicht entdecken und plötzlich einfallen.

Wenn man den Bewohnern der Stadt Glauben schenken kann, so gibt es nur diese zwei Weisen, in der Ödnis zu leben: man schließt sich zusammen und versucht, der kargen Erde ein gewöhnliches Leben abzuringen, oder man beraubt diejenigen, die es geschafft haben ihrer Erzeugnisse. Die ehrlichen Bauern und die Plünderer, so heißt es, aber Altair glaubt nicht daran. Er hat sich für seinen Unterhalt den Soldaten angeschlossen, den Jägern, den Wachen, sie sind alles in einem und nichts richtig.

„Wenn die Beute knapp wird, reiten sie nicht weiter, um andere Jagdgründe zu ergründen", sagt er zu Taris, „Sondern um andere Dörfer wie dieses hier zu finden. Sie sprechen nicht darüber, aber du siehst es an dem, was sie zurückbringen."

Taris fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken, obgleich er versteht, was dahinter steckt. Das Recht des Stärkeren, hat Ilfrid gesagt und jede Siedlung ist ständig in Gefahr, überfallen zu werden. Sicher ist nur der, der zuerst überfällt.

„Ich weiß nicht, ob ich hier bleiben möchte", sagt er den leeren, dunklen Straßen. „Es muss auch anders gehen."

„Es geht anders", sagt Altair entschlossen.

Es ist für sie beide eine Erleichterung, nicht mehr so tun zu müssen, als hätten sie ihr Zuhause erreicht.

***

Sie bleiben den schneefreien, aber nicht minder harschen Winter über und bis in den verregneten Frühling hinein, bevor Taris dem Einäugigen von ihrem Entschluss berichtet.

Er nickt.

„Die Stadt ist nicht für jeden", sagt er. „Und wer weiß, vielleicht könnt ihr euch auch allein da draußen herumschlagen, jung wie ihr seid."

Es ist das nächste, was er hier je zu einem Kompliment gehört haben und für einen ganz kurzen Moment ist Taris traurig, die Menschen hier zu verlassen. Doch außer den Worten des Einäugigen scheint keiner auch nur zur Kenntnis zu nehmen, dass sie gehen. Sie werden für ihre Arbeit belohnt, indem sie Vorräte und Gepäck auffüllen dürfen und die Wachen, die sie nach draußen lassen, blicken genauso grimmig und unnahbar drein, wie am Tag ihrer Ankunft.

„Ich weiß, warum sie dieses Land die Ödnis nennen", sagt Altair, als sie wieder unterwegs sind, die Umrisse der Stadt im Dunst des Morgens nur noch verschwommen hinter ihnen zu sehen.

„Nicht wegen den unfruchtbaren Böden, sondern der Ödnis in den Herzen der Menschen."

Taris seufzt, weil er so Recht hat. Er denkt zurück und vermisst – seine Eltern, sein Dorf, Ilfrid, die Zeit in der Burg, Nemeris und ihre Hütte, selbst das Feuer, das in der Brust ihrer Verfolger gebrannt hat. Die Ödnis ist genau der Frieden, den sie auf ihrer Flucht gesucht haben und doch spürt er bis in seine Fingerspitzen, dass ein Ende in ihr, möge es auch Jahrzehnte in der Zukunft liegen, kein rechtes Ende wäre. 

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