Niramun I - Nachtschatten

By RoReRaven

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Niramun, die ewige Stadt, Kessel und Spitze, ein Schmelztiegel am Rande der Wüste. Ein Ort ohne Herrscher und... More

Kapitel 1 - Der Pfeiler
Kapitel 2 - Der Kessel
Kapitel 3 - Emila
Kapitel 4 - Jaz
Kapitel 5 - Ein Traum
Kapitel 6 - Ein Auftrag
Kapitel 7 - Vor der glühenden Sonne
Kapitel 8 - Mira
Kapitel 9 - Ratlos
Kapitel 10 - Die Schuld des Beobachters
Kapitel 11 - Jäger
Kapitel 12 - Ein Bad
Kapitel 13 - Oberst Mistrevillion
Kapitel 14 - Jaz' Fehler
Kapitel 15 - Die Konsequenzen
Kapitel 16 - Die Clique
Kapitel 17 - Laflabem
Kapitel 18 - Umvitar
Kapitel 19 - Die Schlacht von Iparte
Kapitel 20 - Zeiten
Kapitel 21 - Ein schwarzer Teufel
Kapitel 22 - Ein Deal
Kapitel 23 - Der Holzmarkt
Kapitel 24 - Hunger
Kapitel 25 - Bastard!
Kapitel 26 - Bierkrüge
Kapitel 27 - Ein- und Ausblicke
Kapitel 28 - Das Archiv
Kapitel 29 - Vasser
Kapitel 30 - Die Gespenster der Vergangenheit
Kapitel 31 - Mörder!
Kapitel 32 - Wie man einen Dolch führt
Kapitel 33 - Überleben
Kapitel 34 - Verfolgt
Kapitel 35 - Quitt
Kapitel 36 - Keine Angst
Kapitel 37 - Nicht nur ein Dieb
Kapitel 38 - Der Wolf und die Füchse
Kapitel 39 - Wahi
Kapitel 40 - Neue Fährten
Kapitel 41 - So funktioniert die Welt
Kapitel 42 - Zappa
Kapitel 43 - Bier und Geschichten
Kapitel 44 - Versickert im Sand
Kapitel 45 - Das ist Kämpfen
Kapitel 46 - Hass und Tränen
Kapitel 47 - Wie viele?
Kapitel 48 - Der Hopfentopf
Kapitel 49 - Dumme Ideen
Kapitel 50 - Auf der Lauer
Kapitel 51 - Ein Plan
Kapitel 52 - Alles ein Spiel
Kapitel 53 - Berechnen
Kapitel 54 - Füchse im Taubenhaus
Kapitel 55 - Die Geschichte mit Effie
Kapitel 56 - Auf die Gegenwart
Kapitel 57 - Helden und ähnliches
Kapitel 58 - Ebene 23
Kapitel 59 - Eine blutige Zeit
Kapitel 60 - Schweigen
Kapitel 61 - Wie findet man einen Tischler?
Kapitel 62 - Gewissen
Kapitel 63 - Der Wert eines Lebens
Kapitel 64 - Nemi
Kapitel 65 - (Un)gewissheit
Kapitel 66 - Ein Wiedersehen
Kapitel 67 - Der Hauch des Todes
Kapitel 68 - Hoffnungslos
Kapitel 69 - Sektenleute und andere Verrückte
Kapitel 70 - Die Macht eines Rufs
Kapitel 71 - Lehrlinge und Gesellen
Kapitel 72 - Vernunft
Kapitel 73 - Leben und Sterben
Kapitel 74 - Der Angriff auf Renard
Kapitel 75 - Emilas Geschichte
Kapitel 76 - Das Liliths
Kapitel 77 - Klein, schwach und unfähig
Kapitel 78 - Eine Erfolgsstory
Kapitel 79 -Mitwinter
Kapitel 80 - Feuer im Blut
Kapitel 81 - Die Angst zu Fallen
Kapitel 82 - Eine Gesellschaft
Kapitel 83 - Die Macht von Worten
Kapitel 84 - Ein Mann namens Umairat
Kapitel 86 - Lügen
Kapitel 87 - Die Maske
Kapitel 88 - Eine Klinge und schwarzes Eis
Kapitel 89 - Schmerz
Kapitel 90 - Verlorene Leben
Hinweis und Stuff

Kapitel 85 - Das Wesen einer Stadt

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By RoReRaven

Nach einer unüberschaubaren Anzahl Leitern, Treppen, Plattformen und Schächten, nach der Falrey erstens die Orientierung völlig verloren hatte und zweitens nach Luft japste, traten sie hinaus auf den Vorsprung. Es war derselbe, auf den Jaz ihn schon einmal geführt hatte, das war Falrey sofort klar. Wie beim letzten Mal nahm ihm die Aussicht erst einmal komplett den Atem. Es war heller geworden während ihrer Klettertour und vor ihnen lag die Senke des Kraters im ersten Schimmer des Morgenlichts. Noch war alles unscharf, in tiefes Blau getaucht, in dem man weder Konturen noch Formen festlegen konnte, aber allein die Weite war berauschend, als würde sie einen ziehen, einen locken darauf zuzulaufen und zu springen. Schnell setzte er sich hin.

Er hörte, wie Jaz sich neben ihm niederliess und so sassen sie da und blickten hinunter auf die Stadt, die der Morgen Schatten um Schatten der Dunkelheit entlockte und damit allmählich aus dem Schlaf rief.

„Erzähl mir etwas."

Falrey war sich einen Augenblick lang selbst nicht sicher, ob er die leisen Worte gesagt oder nur gedacht hatte. Aber Jaz antwortete darauf. „Worüber?"

„Über das", antwortete Falrey und breitete die Arme aus. „Über Niramun."

„Misty weiss mehr als ich."

„Über die Vergangenheit vielleicht. Aber nicht das Jetzt." Er war sich sicher, dass er damit recht hatte. Jaz war derjenige der Niramun kannte. Er war derjenige, der sich darin bewegte, und nicht dazwischen. Wenn irgendjemand verstand, wie diese Stadt lebte, dann er.

Jaz schwieg lange, und als er anfing zu sprechen, war seine Stimme leise. „Du kennst die Zeiten, und die Stadtteile, die nach ihnen benannt sind, die Speichen, die sie durchziehen. Elin, Somn, Pjar, der Aufstieg einer neuen Sonne. Het, der Strahl nach Norden. Epa, Silur, Jun, die heisse Brücke. Nale und Ore, wo die Schatten wachsen. Sek bis Hap, der dunkelste Teil der Nacht. Die Einteilung ist mehr regelmässig als sonstwas, sagt vor allem, wo etwas liegt, auch wenn manches merkwürdig stimmt."

Er holte einen Moment lang Luft. „Die Stadt ist komplexer als das. Kein Rad mit Speichen, sondern ein chaotisches Netzwerk mit Klumpen, die sich an manchen Stellen bilden. Wie ein Pilz. Jedes Gebiet hat seinen eigenen Charakter, der in die anderen fasert. Und das ist nur, was man sieht, wenn man von oben blickt, eine Ebene. Es gibt mehrere davon, übereinander und die wenigsten wissen etwas von den tieferen. Dann die Kreise, nicht örtlich, sondern im Verhalten der Leute, die nebeneinander leben, aber aneinander vorbei, sich kaum jemals begegnen. Und es gibt die Viertel, die alles zusammen sind und beschränken mit ihren unsichtbaren Grenzen."

Er machte Pausen zwischen den Sätzen, als würde er über jedes Wort nachdenken, das er sagte.

„Die Schichten sind am klarsten zu sehen, aber am merkwürdigsten zu begreifen, weil sie sind wie eine andere Stadt. Eine andere Zeit. Ein anderes Verständnis von Realität. Es gibt die Senke. Das ist das Normale. Es gibt den Übergang zu den Wänden. Er ist anders, unsicherer. Wo ein Boden zum Dach wird, wird ein Verbündeter zum Feind, sagt man. Die meisten Puppenspieler sitzen dort, weil zusätzliche Gebäude und Tunnel am wenigsten auffallen, weil immer alles im Wandel ist. Keine Gewissheiten. Keine Allianzen, die morgen noch genauso sind wie heute. Du musst die Strömung kennen, um nicht unterzugehen.

Dann gibt es die Häuser in den Wänden. Wie hier. Sie sind... Erinnerung. Verschachtelt und wirr wie ein Gedächtnis, das Gedächtnis einer Stadt. Ein Trödelladen, dessen Besitzer vergessen hat, wo er was hingestellt hat. Nur wenige leben noch hier oben, im Westen, Leute aus dem Westviertel, denen sich selbst das zu schnell verändert. Die meisten von ihnen wirken als hätten sie sich selbst verirrt in der Erinnerung.

Am Pfeiler sieht es etwas anders aus. Ich war nicht oft über dem Schmarotzerviertel, es sind eigene, kleine Quartiere. Zuoberst, wo die Häuser enden unter der Mauer, gibt es eine Sekte. Sie verehren die Bewohner der Oberstadt wie Götter, als Verkörperungen der Sonne, leben nur von ihrem Abfall." Die Abscheu war seiner Stimme anzumerken.

„Und darüber?", fragte Falrey leise.

„Was darüber?"

„Die Paläste. Die Burg."

„Ich war nie oben", antwortete Jaz. „Niemand von hier unten kommt jemals hoch, nicht mehr seit der Revolution. Vielleicht lebt da oben auch längst niemand mehr."

Falrey antwortete nichts darauf.

„Die Senke ist nicht der Grund der Stadt. Darunter, unter den Strassen und Häusern, liegen die Wasserwege, ein Netz das zu jedem Brunnen führt und an viele Orte mehr. Und nochmal tiefer die Katakomben."

„Misty sagt, sie sind älter als die Stadt."

„Kann sein. Nichts lebt dort. Sie sind einfach leer. Leer und staubig. Endlose Korridore und Räume, ohne irgendetwas. Von denen, die überhaupt wissen, dass sie existieren, weiss niemand, wozu. Und die Vermutungen, die ich gehört hab, sind völlig zufällig und absurd."

„Also gibt es eine normale Ebene und eine Menge komische", bemerkte Falrey.

Jaz nickte knapp und schwieg abermals eine Weile. „Von den Kreisen... du kennst die Bürger. Sie sind ein grosser, formloser Brei, der sich in der Senke verteilt. Die ganzen Leute bei Ela, ihre Patienten, die meisten Handwerker, Kleinhändler, Buchhalter. All die Normalen, die nichts anderes wollen als normal zu sein. Geboren werden, ein Handwerk lernen, heiraten, Bälger zeugen, alt werden, verrecken, und dabei nie mit etwas Gefährlichem zu tun haben, etwas, das sie nicht vorhersehen können. Nicht zu hoch aufsteigen, um nicht zu tief zu fallen.

Dann gibt es Leute wie mich, wie Poss, Tersavell. Wir tun das, was anderswo ein Verbrechen wäre. Die dreckige Arbeit. Eine Welt für sich. Die Puppenspieler halten sich gegenseitig in Schach. Jäger töten sich gegenseitig. Und die Bürger bekommen davon nichts mit, ausser sie wollen etwas von uns, Gewalt, Drogen, einen Mord. Wir sind das dunkle Überlaufbecken der Stadt. Der Ort, wo das hervortritt, was in den Häusern der Bürger, an den Tischen der Schmarotzer, nicht toleriert wird. Wir nehmen ihr Geld und lassen ihnen die Leichen liegen, damit sie nie ganz vergessen, wenn sie den Abfallwagen rufen."

„Den Abfallwagen?"

„Die Typen, die in der ganzen Stadt den Abfall sammeln."

„Wohin bringen sie ihn?"

„Das meiste wird bei den Hühnerställen verbrannt."

Falrey runzelte die Stirn. „Was haben sie davon, wenn sie das tun? Werden sie bezahlt?"

„Der Abfall, den sie sammeln, gehört ihnen", antwortete Jaz. „Sie können alles daraus nehmen, was Wert hat, und es wieder verkaufen."

Falrey schwieg. Er stellte es sich schrecklich vor, Berge voller Abfall und Leichen zu durchsuchen. Wenn man so etwas tun musste, um zu überleben, war man wohl ganz unten angelangt. Er fragte sich, ob das sein Schicksal gewesen wäre, hätte er Mesche nie getroffen, hätte er ihn nicht zu Emila gebracht. Wenn dich nicht gleich irgendwelche Menschenhändler erwischt hätten. „Was passiert eigentlich allgemein mit den Toten hier?"

„Du meinst die, die nicht im Abfall landen?"

„Ja."

„Werden verbrannt. Dort, wo der Fluss verschwindet. Und die Asche kippen sie ins Wasser."

„Es gibt keine Gräber?", fragte Falrey entsetzt.

„Wo denn?", erwiderte Jaz schnaubend. „Für so viele?"

Falrey versuchte den Gedanken zu verarbeiten. Eine Million Gräber. Natürlich, das hätte riesige Flächen zum Friedhof gemacht. Trotzdem verstörte ihn die Vorstellung. Dass jemand Geliebtes verstarb und man wusste danach nicht einmal, wo er lag. Das war irgendwie noch schlimmer und endgültiger als der Tod selbst. „Wissen die Bürger, dass es euch gibt?"

„Natürlich", schnaubte Jaz verächtlich. „Nicht wie viele natürlich, nichts genau. Und bei dem, was sie wissen, sind sie gut darin zu tun, als hätten sie keine Ahnung."

Falrey dachte an Emila.

„Dann gibt es die Huren und die Zuhälter", fuhr Jaz fort. „Sie bewegen sich an der Grenze. Manche fast akzeptiert, andere weit auf unserer Seite, je nach Angebot. Sie verdienen ihr Geld mit beiden Seiten. Es gibt die Schmarotzer. Sie sind eigentlich nur Bürger mit mehr Geld, aber das Geld verändert sie, macht sie zu etwas anderem. Sie haben ihre eigene vergiftete Gesellschaft, in der sie zusammen sitzen, spielen, teuren Wein trinken und auf den Rest hinunter blicken, während sie ihre Intrigen schmieden, um sich gegenseitig aus dem Verkehr zu ziehen. Aber sie tragen sich nicht selbst. Sie lassen sich tragen von anderen. Sie nutzen aus, aber es gibt niemand, dem sie etwas nützen. Die Schmarotzer nehmen nur und geben dem Rest nichts zurück. Jeder Falber, der ihnen gestohlen wird, jeder von ihnen, der verreckt, ist ein bisschen weniger Ungerechtigkeit, aber immer noch viel zu wenig." Er spuckte aus.

Es war immer noch merkwürdig, ausgerechnet Jaz über Recht und Unrecht reden zu hören. Auch wenn Falrey zugeben musste, dass er sich allmählich an den Gedanken gewöhnte, dass selbst ein Mörder Prinzipien haben konnte. Auch wenn die sich bei Jaz sehr in Grenzen hielten, was seine eigenen Handlungen betraf.

„Es gibt die Arbeiter in den Hochöfen, und die von den Minen. Leute wie Zappa und seine Freunde, die Wissen sammeln. Die Leute von den Hühnerställen. Die Händler, die selbst reisen, die Welt dort draussen sehen. Andere. Manche der Kreise überschneiden sich. Manche hören nie voneinander. Splitter der Gesellschaft, in sich geschlossen mit einer Ordnung, die klar ist für die, die dazugehören, von aussen betrachtet, als gesamtes, völlig chaotisch."

Er verstummte, die Hände halb erhoben, als wollte er damit aufzeichnen, was er meinte, fände aber nicht die richtigen Bewegungen dazu. Es war heller geworden, genug, dass man das Meer von Häusern in der Senke ausmachen konnte. Falrey war müde, aber irgendwie auch aufgekratzt. Jaz redete kaum jemals so viel an einem Stück wie gerade eben. Und vor allem hatte Falrey das Gefühl zu verstehen, was er sagte, zum ersten Mal zu begreifen, was diese Stadt war, jenseits der Gassen und verputzten Wände. Er wollte noch viel mehr wissen. „Was ist mit den Gebieten?"

Jaz beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände, die Beine über dem Abgrund baumelnd. Er schien überhaupt keine Angst zu haben vor der Tiefe. „Sie sind wie Inseln", sagte er nach einer Weile des Nachdenkens, den Blick auf die Stadt unter und vor ihnen gerichtet. „Wie Inseln einer anderen Farbe, eines anderen Geruchs, in einem Netz aus Grau. Zum Beispiel die Min Speiche mit den Saufhäusern, ein in die Länge gezogener Fleck, am dichtesten um den Runden Platz. Der mittlere Het mit all den Seilern und Wagenbauern. Der Strassenstrich, der nie schläft. Die Backsteinhallen der Werkgelände. Der Tuchmarkt. Das Gebiet um den Roten Platz. Die versteckten Gassen. Sie haben alle ihren eigenen Charakter, ihre eigene Atmosphäre. Ein Gefühl, das der Ort ausstrahlt, mit dem er diejenigen Bewohner anlockt, die zu ihm passen, oder sie verändert, bis sie es tun. Als würde die Farbe in einen hinein sickern."

„Was ist das Grau dazwischen?"

„Die Wohnquartiere", antwortete Jaz. „Die sind alle gleich. Ein Töpfer. Ein Bäcker. Ein kleiner Markt. Ein Laden für alles Mögliche. Ein paar Leute, die Hühner halten. Viele Bürger. Es gibt hunderte Gassen, die genau gleich sind wie die Steingasse." Er klang verächtlich.

Falrey sah ihn aus dem Augenwinkel an. „Warum lebst du da, wenn es dir nicht gefällt?"

„Ergab sich", murmelte Jaz. „Es ist sicher. Unauffällig. Es gefällt Ela." Den letzten Satz sagte er so leise, dass Farley ihn kaum hörte, dann richtete er sich auf, als wäre ihm eingefallen, wo er stehen geblieben war. „Über allem, den Gebieten, den Kreisen, sind die Viertel. Sie sind die wirklichen Grenzen innerhalb der Stadt. Das Nordviertel, das ist alles hier." Er deutete auf die Senke vor ihnen. „Handel und Handwerk, Kneipen, Bordelle. Das, was du kennst.

Das..." Er deutete nach links vorne, und Falrey brauchte einen Moment, bis ihm klar war, was er meinte. Ein Stadtteil, der sich auf den ersten Blick nicht wesentlich von dem auf der rechten Seite unterschied, auf den zweiten jedoch viel chaotischer und enger wirkte. Keine zwei Strassen schienen parallel und an manchen Orten waren überhaupt keine erkennbar. „...ist das Westviertel. Es heisst, es ist der älteste Stadtteil, der noch steht. Stiller. Versteckter. Wenn du es nicht kennst, wirst du dich verirren.

Am Pfeiler, im inneren Ring, das Schmarotzerviertel. Zumindest auf der Nord- und Westseite. Im Ostviertel die Felder. Ist eigentlich mehr als ein Drittel vom Kessel. Dort liegt der Fluss, und das Land gehört den Bauern. Du wirst als einer geboren, du stirbst als einer." Falrey folgte Jaz ausgestreckter Hand und sah den bekannten Nebel liegen über jenem Teil des Kraters.

„Weiter nach Südwesten kommt das Arbeiterviertel", fuhr Jaz fort. „Mit den Hochöfen und Minen. Wenn irgendein Handwerker aus dem Het meint, er arbeitet hart, schleif ihn dorthin, damit er sieht, was wirklich hart ist. Dahinter sind die Hühnerställe. Und dahinter der Sur."

„Der was?"

„Das Südviertel", antwortete Jaz. Dann sagte er nichts mehr.

„Irgendwann muss ich das alles auch mal sehen", murmelte Falrey gebannt. Er versuchte sich vorzustellen, dass dort auf der anderen Seite des Pfeilers nochmal so viel Stadt lag wie auf dieser, nochmal so viele Häuser und Strassen und Menschen, aber er schaffte es nicht. Eigentlich scheiterte er schon am Nordviertel und dabei lag das vor ihm ausgebreitet. Das Südviertel... er erinnerte sich daran, gehört zu haben, dass ein Teil davon überschwemmt worden war, zusammen mit den Feldern, bei dieser Überschwemmung, von der Emila erzählt hatte, und er fragte sich, was das hiess. Wasser auf den Strassen? Oder mehrere Schritte tief?

„Tritt der Fluss eigentlich oft über die Ufer?", fragte er.

„Nein", antwortete Jaz knapp. Einige Atemzüge wirkte es, als wäre das alles, was er zu sagen hatte, aber dann fügte er hinzu: „Früher schon, ganz früher. Bevor sie die Dämme gebaut haben. Seither kaum noch. Höchstens mal eine Handbreit oder so. Das vor achtzehn Jahren war die einzig wirkliche Überschwemmung der letzten fünfzig oder hundert. Da ist ein Damm gebrochen. Manche Gebiete stehen immer noch unter Wasser, weil sie tiefer liegen."

„Warum legt man sie nicht trocken?", fragte Falrey irritiert.

„Weil es keinen interessiert", antwortete Jaz. Er klang heiser und als hätte er keine Lust mehr zu sprechen. Allerdings hatte er in dieser Nacht auch verdammt viel geredet für seine Verhältnisse. Oder er mochte nicht darüber reden, wie sein Vater gestorben war...

Falrey wurde klar, was ihn an der Geschichte von Anfang an her irritiert hatte. „Emila hat mir einen totalen Blödsinn erzählt, oder?", fragte er leise.

Jaz sah ihn scharf an. „Worüber?"

„Über deine Eltern. Die Überschwemmung. Die Tante..."

Jaz Miene wurde kalt. „Was hat sie dir erzählt?"

Falrey wiederholte es, wie er es von Emila gehört hatte, obwohl er genau wusste, dass es nicht stimmen konnte. Emila hatte erzählt, ihrer und Jaz Vater sei Bauer gewesen und gestorben, als der Fluss die Felder an sich riss. Aber das musste über achtzehn Jahre her sein. Jaz konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gezeugt gewesen sein.

Als er geendet hatte, schnaubte Jaz nur. „Was ein beschissener Mist."

„Stimmt irgendetwas davon?", fragte Falrey.

Die Antwort war diejenige, die er insgeheim bereits erwartet hatte: „Nein."

Falrey verzog verwirrt das Gesicht. „Aber... warum... wie..."

Jaz gab ihm keine Antwort darauf, und Falrey wusste, dass er auch keine erhalten würde, wenn er ihn nach der Wahrheit fragte. Das war eben Jaz. Aber warum Emila? Warum log sie ihn an? Warum erfand sie so eine merkwürdige, dramatische Gesichte, anstatt ihm einfach die Wahrheit zu sagen? Vor allem, wenn so klar war, dass die Lüge auffliegen würde, sobald er irgendwann einmal sein Hirn einschaltete? Sie wäre nicht aufgeflogen, hättest du nicht gewusst, wie alt Jaz ist. Das stimmte. Man konnte ihn durchaus für achtzehn halten. Aber warum dachte sie sich überhaupt so etwas aus? Warum diese Heimlichtuerei? Hatte sie sich so daran gewöhnt, der Nachbarschaft Lügen über Jaz zu erzählen, dass es ihr geläufiger geworden war als die Wahrheit zu sagen? Dass sie nicht einmal mehr ihm gegenüber offen sprechen wollte?

Andererseits – sie leugnete sogar Jaz gegenüber, was er war. Das war idiotisch. Das war so verdammt idiotisch. Sie war so eine verdammt komische Person. Sie konnte ihn so aufregen damit. Weil er einfach nicht schlau wurde aus ihr, einfach den Sinn nicht verstand hinter dem, was sie tat. Wenn sie ihm etwas nicht erzählen wollte, ihre Entscheidung, jeder hatte seine Geheimnisse, aber wieso schwieg sie dann nicht einfach, wie Jaz? Wer waren die beiden? Wenn ihre Eltern keine Bauern waren, was waren sie dann? Wenn ihr Vater nicht bei der Überschwemmung ertrunken war, wo war er dann? Wenn da keine Tante war, wo hatten Jaz und Emila gelebt, vor der Steingasse? Er fühlte sich zurück bei Schritt Null.

Ein Ploppen riss ihn aus seinen Gedanken. Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten die Spitze des Pfeilers und tauchten die Türme der Burg in goldenes Licht. Jaz hielt seinen Flachmann in der Hand und der scharfe Geruch von Martenbrand wehte daraus zu Falrey hinüber. Er trank einen Schluck und spielte eine Weile lang um den Verschluss, dann fragte er heiser: „Diese Schule, wo du herkommst, ist die wirklich für alle?"

Die Frage überraschte Falrey. „Ja", antwortete er.

„Alle? Auch die ohne Geld oder gute Familie?"

„Ja", meinte er schulterzuckend und leiser: „Ich meine, die wollten sogar mich dort sehen."

Er spürte Jaz Blick von der Seite. „Wieso sogar dich?"

„Weil... ich bin..." Er starrte auf seine Hände. „Ich bin ein..." Er schaffte es nicht, es auszusprechen, obwohl er genau wusste, dass es wahr war.

„Was?", fragte Jaz.

„Bastard", sagte Falrey leise. Sogar aus seinem eigenen Mund liess ihn das Wort innerlich zusammenzucken wie ein Schlag.

Jaz schien einige Augenblicke zu zögern, dann hielt er ihm den Flachmann hin, aber Falrey schüttelte den Kopf. Jaz trank selber noch einen Schluck, bevor er ihn wieder verschloss und auf die Stadt hinunterblickte, die im Morgenlicht vor ihnen lag. „Wieso hast du so ein Problem damit, so genannt zu werden?", fragte er leise.

Für einmal war es Farley, der keine Antwort gab. Er dachte an einen Schmiedehammer und die Reflexion auf stillem Wasser und seine Kehle wurde zu eng für Worte.


Ich hab nach einigem hin- und herüberlegen beschlossen, das Glossar als ein eigenes Buch hochzuladen. Wen die Begriffe und Stadtbeschreibungen verwirren (oder wen es einfach interessiert), der kann gerne mal dort hineinschauen. Später werde ich vielleicht auch Zeichnungen der Charaktere oder der Stadt darin veröffentlichen.

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