Freya Winter - Mutant

By 00elem00

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Mutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia se... More

Prolog
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 4
Kapitel 5
Teil II
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil III
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 44.2 Lucius
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Teil IV
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 55.2 - Lucius
Kapitel 56 - Lucius
Kapitel 57 - Lucius
Kapitel 58 - Lucius
Kapitel 59 - Lucius
Kapitel 60 - Lucius
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 72.2
Kapitel 72.3
Kapitel 73
Kapitel 73.2
Teil V
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 75.2
Kapitel 76
Kapitel 76.2
Kapitel 77
Kapitel 77.2
Kapitel 78
Kapitel 78.2
Kapitel 79
Kapitel 79.2
Kapitel 80
Kapitel 80.2
Kapitel 81
Kapitel 81.2
Kapitel 82
Kapitel 82.2
Kapitel 83
Kapitel 83.2
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 85.2
Teil VI
Kapitel 86
Kapitel 86.2
Kapitel 87
Kapitel 87.2
Kapitel 87.3
Kapitel 88
Kapitel 88.2
Kapitel 88.3
Kapitel 89
Kapitel 89.2
Kapitel 90
Kapitel 90.1
Kapitel 90.2
Kapitel 90.3
Kapitel 90.4
Kapitel 91
Kapitel 91.2
Kapitel 91.3
Kapitel 91.4
Kapitel 91.5
Kapitel 92
Kapitel 92.2
Kapitel 92.3
Kapitel 92.4
Kapitel 92.5
Kapitel 93
Kapitel 93.2
Kapitel 93.3
Kapitel 93.4
Kapitel 93.5
Kapitel 94
Kapitel 94.2
Kapitel 94.3
Kapitel 94.4
Teil VII
Kapitel 95
Kapitel 95.2
Kapitel 95.3
Kapitel 95.4
Kapitel 95.5
Kapitel 95.6
Kapitel 95.7
Kapitel 96
Kapitel 96.2
Kapitel 96.3
Kapitel 96.4
Kapitel 97
Kapitel 97.2
Kapitel 97.3
Kapitel 97.4
Kapitel 98
Kapitel 98.2
Kapitel 98.3
Kapitel 98.4
Kapitel 98.5
Kapitel 99
Kapitel 99.2
Kapitel 100
Kapitel 100.2
Kapitel 100.3
Kapitel 100.4
Kapitel 101
Kapitel 101.2
Kapitel 101.3
Teil VIII
Kapitel 102
Kapitel 102.2
Kapitel 102.3
Kapitel 102.4
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Epilog
Schlusswort

Kapitel 3

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By 00elem00

Als ich mich immer noch nicht rührte, machte Mikéle einen entschiedenen Schritt auf mich zu. "Du lässt meine Schwester in Ruhe.", sagte er mit lauter Stimme und schubste mich erneut. Dieses Mal jedoch stolperte ich nach hinten, rutschte auf einem Stein aus, knickte um, wobei ein stechender Schmerz in meinem Knöchel entstand und fiel hin. Sofort schossen mir die Tränen in die Augen und als ich meinen Fall auch noch abbremsen wollte, schürfte ich mir die Hände auf. Meine Handflächen brannten.

Erschrocken rannte Lucius an Mikéle vorbei und ließ sich vor mir fallen. "Freya, ist alles okay?", rief er besorgt und nahm meine Hände in seine. Schluckend blinzelte ich ein paar neu aufkommende Tränen weg. Ich wollte aufstehen, doch sofort schoss ein brennender Schmerz in meinem Bein hoch, sodass ich doch lieber sitzen blieb.

"Es tut weh.", wimmerte ich und wischte mir die Tränen weg. Vor Jo und ihren Geschwistern wollte ich nicht weinen. Diese jedoch sahen erschrocken aus, da ich mich verletzt hatte. Das war noch nie passiert, wenn wir uns gegenseitig geärgert hatten. Und auch nicht, wenn Mikéle seiner Schwester geholfen hatte. Ich konnte sogar Schuldgefühle in Jos Augen sehen. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Es war wie ein kleiner Sieg für mich. Doch das Siegesgefühl blieb dieses Mal aus. Es fühlte sich dennoch wie eine Niederlage an, so hilflos am Boden zu liegen und nichts tun zu können. Dieser Hexe wollte ich nicht ausgeliefert sein.

„Du blutest, Frey.", sagte Lucius und stellte sich zwischen mich und die Reyes-Geschwister. Besorgt und sanft nahm er meine Hand und besah sich sorgfältig meine aufgeschürfte Handfläche. James strafte die Reyes mit einem Haufen Todesblicken.

Lucius' andere Hand glitt in seine Hosentasche und er zog ein buntes Pflaster hervor, das er mir dann vorsichtig auf die Wunde klebte. Er sah mir in die Augen, lächelte sanft und sagte, das würde schon wieder werden. Er zog den Ärmel seiner Jacke höher und tupfte mir damit vorsichtig das Blut von den Händen. Dabei sah er mir die ganze Zeit in die Augen, damit ich nicht auf meine Wunden achtete. Als er schließlich fertig war, meinte er, dass wir den Rest zu Hause machen müssten. Immerhin war irgendwas mit meinem Knöchel. Ich nickte. Dann zog mich mein Zwillingsbruder in eine vorsichtige Umarmung, die ich erwiderte sofort. Fest presste ich ihn an mich. Der Schock saß mir noch schwer in den Knochen. Ich blendete die Reyes aus und konzentrierte mich allein auf meinen Bruder.

Als wir uns lösten, sahen die Reyes uns immer noch an.

„Gehen wir?", fragte Lucius mich lächelnd und ich nickte leicht. James zog sich nun langsam zurück und kam wieder auf uns zu. Allerdings ohne die Reyes aus den Augen zu lassen.

Ich wollte loslaufen, doch keuchte unter dem Schmerz auf, der sich so anfühlte, als würde mein Bein brennen. Sofort waren Lucius und James da, um mich zu stützen. Doch das dauerte zu lange. Es war schon Nachmittag und wir mussten noch ein wenig laufen. Also nahm James mich Huckepack, während Lucius mir half, auf James' Rücken zu gelangen. Mein Knöchel brannte wie Feuer. Ich spürte ganz besonders Mikéles Blick in meinem Rücken, während wir davon gingen. Doch dann jedoch wandte Mikéle seinen Blick ab, auf seine Fäuste.

Der Weg nach Hause verlief schweigend, worüber ich eigentlich ganz froh war, denn ich war wirklich nicht in der Stimmung, zu reden. Wir kamen zu Hause an und ehe wir klingelten, wurde die Haustüre mit einem Ruck aufgerissen. Unsere Mutter stand dort. Unter ihren blauen Augen lagen tiefe Augenringe, bei denen ich an die Waschbären denken musste, die wir bei einem Schulausflug letztens im Zoo gesehen hatten. Sie sah ziemlich müde, aber auch ziemlich aufgebracht aus.

„Wo zum Teufel wart ihr beide?" Ihr Blick fiel auf James, der mich trug. Allein ihre hochgezogene Augenbraue verriet ihre Verwirrung, ein weiteres Kind zu sehen. „Und wer bist du?" James öffnete den Mund, um ihr eine Antwort zu geben, doch sie wartete gar nicht darauf. Nicht, nachdem sie mich gemustert hatte.

„Freya Winter, was hat das zu bedeuteten? Sag mir nicht, dass meine Tochter sich mit anderen geprügelt hat! Bist du etwa ein Junge?" Wütend sah sie mich an. Ihr Blick hätte selbst Mikéle auf der Stelle schrumpfen lassen. „Nicht einmal dein Bruder prügelt sich! Du solltest dir ein Beispiel an ihm nehmen! Er ist vernünftig!"

So etwas wollte man ganz sicher nicht von seiner Mutter hören, nachdem sie zum ersten Mal seit Monaten wieder zu Hause war. Schon gar nicht, wenn man ohnehin enttäuscht von ihr war. Außerdem hatte ich gerade ohnehin genug. Das Auftreten tat mir weh und am liebsten hätte ich schon wieder geweint. Hinzu kam die Wut. Wieso war Mom so gemein? Wieso hielt sie ihre Versprechen nicht? Mochte sie mich überhaupt? Wie oft hatte ich mir einfach gewünscht, dass sie mich nach einer langen Geschäftsreise lächelnd in ihre Arme schloss und fest an sich drückte? James Mutter tat das doch auch. Weshalb nicht meine?

Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und sah mich abwartend an. In ihren Augen funkelte die Wut. „Junge Dame, ich rede mit dir!"

„Ich aber nicht mit dir.", erwiderte ich verärgert. An James gewendet und um einiges freundlicher als zu meiner Mutter sagte ich: „Könntest du mich bitte runter lassen?" James nickte und gemeinsam mit Lucius schafften sie es, mich wieder auf den Boden zu bekommen.

Sie hatte nicht einmal gefragt, was passiert war. Sie hatte einfach gedacht, ich würde mich ohne Grund und zum Spaß prügeln. Dabei hatte ich mich nicht einmal geprügelt. Das tat ich nie. Sie kannte mich nicht. Wie also konnte sie so was über mich sagen? Das durfte sie nicht.

Lucius schienen meine Worte, die ich schon am Spielplatz zu ihm gesagt hatte, endlich zu verstehen und betrachtete unsere Mutter ebenso böse wie ich. Allerdings war in unseren Blicken auch Enttäuschung zu sehen. James sah sie und schenkte uns einen mitleidigen Blick. Nur Leute, die uns kannten, konnten die Enttäuschung wahrnehmen, die von uns ausging. Und unsere Mutter gehörte nicht dazu.

James verabschiedete sich noch von uns und mein Bruder half mir ins Haus. Unsere Mutter schlug die Tür mit einem Knall zu und fing schon an, zu schimpfen. Wie ich es wagen konnte, so mit ihr umzugehen, wo sie doch gerade erst zu Hause war und da platzte mir der Kragen. Ich drehte mich zu ihr um. In meinen Augen funkelte die Wut. Mein Blick glich einer grünen Flamme.

„Nach Monaten kommst du nach Hause. Du hast nicht angerufen. Nicht einmal! Es interessiert dich doch sonst nicht, was mit uns ist, also lass es einfach! Du kennst mich nicht."

Nicht minder wütend fiel sie mir ins Wort. „Und ob ich dich kenne, Freya Winter! Ich bin deine Mutter!" Wie ich sie in diesem Moment hasste!

Wütend funkelte ich sie an. „Ach ja? Und wo warst du, wenn ich dich brauchte? Wenn Lucius dich brauchte? Du bist doch nie da! Du warst nicht auf unserer Einschulung, nicht auf unseren Geburtstagen! Und wenn du da bist, bist du direkt wieder weg. Ich bin nicht mehr klein! Ich verstehe, dass du eine Lügnerin bist! Und du bist nicht meine Mama." Mit diesen Worten ließ ich eine geschockte Mutter zurück, humpelte ohne ein weiteres Wort in mein Zimmer, obwohl es sich bei jedem Schritt, den ich tat, so anfühlte, als stünde mein Knöchel in Flammen und als würde gleich auch der Rest abbrennen und mich gleich mit in Flammen aufgehen lassen.

Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen und unterdrückte die aufkommenden Tränen. Irgendwann hatte ich aufgehört, auf Mom zu warten. Irgendwann hatte ich aufgehört, zu hoffen, dass sie sich an ihre Versprechen hielt. Versprechen waren nur leere Worte. Worte, die niemals einen Wert gehabt hatten. Und irgendwann schließlich hatte ich aufgehört, an meine Mutter zu glauben. Wieso machte Dad das eigentlich noch mit? War er nicht traurig, immer allein zu sein?

Selbst später, wenn ich an diese Zeit zurückdachte, würde ich nie verstehen, wie mein Vater das ausgehalten hatte. Liebe konnte es nicht gewesen sein. Denn wie liebte man eine Frau, die nie da war?

Vorsichtig klopfte es an der Zimmertür und Lucius erschien im Türrahmen.

„Kann ich reinkommen?"

„Das ist auch dein Zimmer."

Er lächelte, trat ein und ich rutschte ein wenig auf meinem Bett zur Seite, sodass er auch Platz nehmen konnte. Eine Weile schwiegen wir. Dann sagte er: „Du hattest recht. Mit Mom."

Ich nickte nur.

„Du hast sie ziemlich geschockt mit deinen Worten.", sagte er und legte seinen Arm um mich.

„Aber sie hat es verdient.", sagte ich.

Lucius nickte. „Aber sie hat es verdient.", stimmte er mir zu.

„Es war die Wahrheit.", fügte ich etwas leiser hinzu.

Lucius nickte in Gedanken versunken. „Ja, das war es."

Wieder ging die Tür auf und unser Vater steckte vorsichtig den Kopf zu uns herein. Er sah sich suchend um und als er uns entdeckte, kam er auf uns zu. Besorgt sah er mich an.

„Geht es dir gut, Stöpsel? Tut es irgendwo weh?" Sein Blick fiel auf meinen Knöchel und verzog vor Sorge das Gesicht. „Wir sollten ins Krankenhaus. Lucius hat mir von deinem Knöchel erzählt." Er kam auf mich zu und hob mich sanft hoch. „Du solltest deinen Fuß nicht belasten." Ich nickte nur und umschlang mit meinen Armen seinen Hals, um mich festhalten zu können. Sofort sprang Lucius auf.

„Ich komme mit!" Unser Vater nickte bloß und wir gingen los. Vorbei an unserer Mutter, die ein wenig verloren auf der Treppe saß und anscheinend nachzudenken schien. Unser Vater schien sie nicht einmal zu bemerken, denn er war viel zu besorgt um mich. Lucius hielt ihm die Tür auf und schnappte sich die Autoschlüssel, die am Schlüsselhalter an der Wand befestigt waren. Dad setzte mich im Auto ab und Lucius ließ sich neben mich auf den Sitz fallen. Dad startete das Auto.

Als wir schon eine Weile schweigend fuhren, wollte er wissen, wie das alles überhaupt passiert sei. Also sagte ich ihm, dass Jo mich provoziert, ich mich auf sie geworfen und mich dann ihr großer Bruder geschubst habe. Dad seufzte bloß, als er das hörte.

„Jo Reyes? Schon wieder?"

Überrascht sah ich ihn an. „Du kennst sie?"

Er nickte. „Beim letzten Elternsprechtag war Mrs. Reyes mit den drei Kindern da. Außerdem hat deine Klassenlehrerin von Jo und dir erzählt." Bei der Erwähnung von Miss Magpie verdüsterte sich meine Miene und ich unterdrückte ein abschätzendes Schnauben. Ich hätte es mir denken können. Schweigend fuhren wir weiter.

„Bitte sei nicht sauer auf deine Mutter. Sie ist nur ziemlich erschöpft.", sagte er dann. Ich konnte ihn nur verständnislos anstarren. Er nahm sie in Schutz! Wieso tat er das? Mir sagte er immer, ich solle für meine Fehler einstehen. Galten für sie etwa andere Regeln? Das war nicht fair!

Ich sagte gar nichts. Obwohl ich ihm nur zu gerne meine Meinung gesagt hätte. Aber es reichte, dass ich meine Mutter geschockt hatte. Da musste ich jetzt nicht auch meinen Vater ärgern. Die restliche Autofahrt verlief vollkommen wortlos. Dad parkte das Auto und trug mich wieder. Lucius folgte uns.

Am Ende stellte sich das heraus, dass ich mir den Knöchel verdreht hatte. In meinen Ohren klang das ganz schrecklich und zitternd griff ich nach Lusiuc' Hand. Doch der Arzt meinte, es würde alles wieder verheilen und ich hätte Glück gehabt, mir nichts gebrochen zu haben. Ich bekam eine Schiene. Erst wollte er mir eine blaue Schiene geben, doch ich wollte eine Weiße.

Der Arzt war verwundert. „Weiß? Einfach nur weiß? Magst du denn kein blau?"

„Doch. Ich mag blau. Ich mag auch Schnee und der ist weiß." Außerdem mochten Drachen keinen Schnee, denn dann war ihnen so kalt, dass sie kein Feuer mehr spucken konnten. Ob Hexen Schnee mochten, wusste ich nicht. Hoffentlich nicht.

Schließlich bekam ich eine weiße Schiene. Der Arzt gab mir noch Krücken und dann konnten wir endlich gehen, worüber ich wirklich froh war, denn Krankenhäuser machten mir Angst. Es roch seltsam und es hatte nie etwas Gutes, hier zu sein.

Zu Hause humpelte ich sofort in mein Zimmer und Lucius kam mit mir. Unsere Mutter hatte ich nicht gesehen. Wahrscheinlich lag sie wieder oben in ihrem Bett und schlief. In drei Tagen würde sie uns sowieso wieder verlassen. Für fünf Monate. Schon wieder. Und schon wieder würde sie Weihnachten und an unserem Geburtstag nicht da sein. Wieso konnte nicht die Mutter von James unsere Mutter sein? Die hatte ich nämlich viel lieber.

Am nächsten Tag wurden wir wegen mir zur Schule gefahren. James nahmen wir gleich mit, da er ja nur eine Straße weiter wohnte. Dieses Mal hatte er mich nicht so stürmisch begrüßt wie sonst, da er sich um meinen Knöchel sorgte. Dabei war ich doch nicht aus Glas! So schnell würde ich nicht kaputt gehen.

Dad setzte uns an der Schule ab und wünschte uns einen schönen Tag. Dann fuhr er direkt weiter zu seiner Arbeit. Die Jungs liefen rechts und links von mir, während ich mich auf meine Krücken stützte. Schon als ich den Schulhof betrat spürte ich ihre Blicke auf mir. Schuldbewusst. Aber nicht genug, um es auch zu zeigen. Doch mir fiel es dennoch auch.

Dort hinten standen sie. Unter dem großen Baum, der wunderbar zum Klettern einlud, warteten Jo und Mikéle auf das Schrillen der Klingel. Und sie sahen mich an. Natürlich entging ihnen nicht, dass ich auf Krücken lief. Das konnte man schließlich auch nicht so leicht übersehen.

Aber sie waren nicht die Einzigen, die mich beobachteten. Da war noch Miss Magpie. Wie jeden Tag in der Schule. Immer noch hatte sie dieses seltsame Lächeln auf den Lippen. Auch ihr entgingen meine Krücken nicht, doch sie sah keineswegs verwundert oder geschockt aus oder gar mitleidig. Nein. Ich konnte sehen, dass sie sich wegen irgendetwas freute. Plötzlich erinnerte sie mich an eine Hyäne. Wieder überkam mich dieses ungute Gefühl. Aber ich durfte keine Angst haben.

Im Unterricht war es merkwürdig. Miss Magpie wirkte ungewöhnlich still, im Gegensatz zu sonst. Sie schien in Gedanken vertieft und gab uns einfach ein paar Aufgaben aus dem Buch, die wir lösen sollten. Dann setzte sie sich auf ihren Stuhl hinter ihr Pult und schrieb irgendetwas in ein schwarzes Buch mit silbernen Lettern, die ich als „M-Project98" entziffern konnte. Aber was ein M-Project98 war, konnte ich nicht sagen. Vielleicht handelte es sich dabei um irgendein Unterrichtsthema, das erst in den höheren Klassen drangenommen wurde. Während sie in das Buch schrieb, sah sie immer mal wieder kurz zu mir auf. Doch es lag kein Lächeln mehr auf ihrem Gesicht und auch sonst ließ sich nichts hinterhältiges mehr finden. Stattdessen war da Entschlossenheit.

So war ich froh, als es endlich zur Pause klingelte. James und mein Bruder gingen mit mir auf den Schulhof. Doch statt wie sonst als erstes zu den Schaukeln zu gehen, setzten sie sich mit mir auf eine der hölzernen Bänke.

„Was macht ihr denn? Geht doch ruhig zu den Schaukeln!", sagte ich.

Doch beide schüttelten den Kopf.

„Wenn du nicht schaukelst, schaukeln wir auch nicht.", entschied James.

Mein Bruder nickte. „Ja! Also sitzen wir mit dir hier!"

Ich lächelte. Dass sie extra wegen mir auf ihre Schaukeln verzichteten bedeutete mir viel.

Vom Weiten konnte ich Jo sehen, die bei Mikéle stand. Beide wirkten heute ungewöhnlich ruhig. Sie standen nicht wie sonst bei ihren Freunden, sondern beieinander. Mikéle, so hart wie er auch sonst sein mochte, heute war er es nicht. Ich sah nicht die Härte in seinen Augen, wie ich sie sonst immer gesehen hatte. Anstelle dessen konnte ich ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle erblicken. Jo dagegen schien dieses Mal nachdenklich.

„Meinst du, er wird sich entschuldigen?", riss Lucius mich aus meinen Gedanken.

„Nein.", meinte ich. „Wieso sollte er? Jo hat es ja auch noch nie getan."

„Ich weiß.", sagte Lucius und musterte Jo und Mikéle.

Ich seufzte. „Er wird sich nicht entschuldigen." Und irgendwie wollte ich, dass er es tat. Immerhin war er Schuld. Dabei war mir klar, dass Mikéle Reyes sich niemals entschuldigen würde. Vor allem nicht bei mir. Lieber würde er seine Hausaufgaben essen.

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