Freya Winter - Mutant

By 00elem00

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Mutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia se... More

Prolog
Teil I
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Teil II
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil III
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 44.2 Lucius
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Teil IV
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 55.2 - Lucius
Kapitel 56 - Lucius
Kapitel 57 - Lucius
Kapitel 58 - Lucius
Kapitel 59 - Lucius
Kapitel 60 - Lucius
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 72.2
Kapitel 72.3
Kapitel 73
Kapitel 73.2
Teil V
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 75.2
Kapitel 76
Kapitel 76.2
Kapitel 77
Kapitel 77.2
Kapitel 78
Kapitel 78.2
Kapitel 79
Kapitel 79.2
Kapitel 80
Kapitel 80.2
Kapitel 81
Kapitel 81.2
Kapitel 82
Kapitel 82.2
Kapitel 83
Kapitel 83.2
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 85.2
Teil VI
Kapitel 86
Kapitel 86.2
Kapitel 87
Kapitel 87.2
Kapitel 87.3
Kapitel 88
Kapitel 88.2
Kapitel 88.3
Kapitel 89
Kapitel 89.2
Kapitel 90
Kapitel 90.1
Kapitel 90.2
Kapitel 90.3
Kapitel 90.4
Kapitel 91
Kapitel 91.2
Kapitel 91.3
Kapitel 91.4
Kapitel 91.5
Kapitel 92
Kapitel 92.2
Kapitel 92.3
Kapitel 92.4
Kapitel 92.5
Kapitel 93
Kapitel 93.2
Kapitel 93.3
Kapitel 93.4
Kapitel 93.5
Kapitel 94
Kapitel 94.2
Kapitel 94.3
Kapitel 94.4
Teil VII
Kapitel 95
Kapitel 95.2
Kapitel 95.3
Kapitel 95.4
Kapitel 95.5
Kapitel 95.6
Kapitel 95.7
Kapitel 96
Kapitel 96.2
Kapitel 96.3
Kapitel 96.4
Kapitel 97
Kapitel 97.2
Kapitel 97.3
Kapitel 97.4
Kapitel 98
Kapitel 98.2
Kapitel 98.3
Kapitel 98.4
Kapitel 98.5
Kapitel 99
Kapitel 99.2
Kapitel 100
Kapitel 100.2
Kapitel 100.3
Kapitel 100.4
Kapitel 101
Kapitel 101.2
Kapitel 101.3
Teil VIII
Kapitel 102
Kapitel 102.2
Kapitel 102.3
Kapitel 102.4
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Epilog
Schlusswort

Kapitel 1

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By 00elem00

Solange ich mich erinnern konnte, war ich schon immer ein zurückgezogenes Mädchen gewesen. Selbst damals, als noch alles gut war. Damals, als Mensch. Anderen Kindern hatte ich nur wenig Sympathie entgegengebracht. Dennoch hatte es welche gegeben, die ich von ganzen Herzen liebte.

„Freya! Freya!", hörte ich meinen Bruder rufen. Zu dem Zeitpunkt war ich sechs Jahre alt. Sofort blickte ich von meinem Bilderbuch auf. Meine grünen Augen fanden ihn sofort. Obwohl wir beide an diesem Tag in die Schule kommen sollten, weigerte ich mich noch immer stur, richtige Bücher zu lesen und widmete mich stattdessen weiterhin meinen Bilderbüchern. Nicht, weil mir richtige Bücher zu anstrengend waren und ich mich lieber an den vielen bunten Bildchen erfreute. Nein, meine Mutter hatte mir ein Versprechen gegeben. Und das bedeutete mir so unheimlich viel. Meine Mutter war eine beschäftigte Frau, ständig auf Reisen und ich glaubte, sie hatte bereits alle Ecken der Erde gesehen. Dennoch hatte sie mir versprochen, mir das Lesen beizubringen. Bisher war sie aufgrund ihrer Arbeit noch nicht dazu gekommen, da sie noch irgendetwas auf ihrer Arbeit zu erledigen hatte. Eigentlich war sie nie da, wenn ich so darüber nachdachte.

Aber ich war noch ein kleines Kind gewesen und wie ein Kind nun einmal war, strahlte meine Hoffnung hell. War nicht zu löschen, eine große Flamme, der nicht einmal Wasser etwas anhaben konnte.

Mein Bruder Lucius kam in unser Zimmer geschlittert. Er und ich waren Zwillinge, weshalb wir einander ziemlich ähnlich sahen. Wäre ich kein Mädchen gewesen, hätte ich so tun können, als sei ich sein Spiegelbild.

„Kommst du, Frey?" Aus großen runden Kinderaugen blickte er mich an. Sein tiefschwarzes Haar stand ungebändigt in alle Richtungen ab, dass man glauben konnte, er wäre in einen Sturm geraten. Einen Kontrast zu seinem dunklen Haar bildete seine helle Haut. Lucius war ein lebhaftes Kind. Zumindest, wenn es nur wir beide waren.

„Ja.", sagte ich und legte das Bilderbuch weg. Lucius konnte noch kurz einen Blick darauf werfen. Anklagend schüttelte er seinen Kopf.

„Dad sagt, du sollst anfangen zu lesen."

„Ich will aber nicht." Ich würde Mom nicht enttäuschen. Was, wenn sie zurückkehrte und feststellen musste, dass ich ohne sie angefangen hatte? Außerdem war das meine Gelegenheit, Zeit mit ihr zu verbringen. Sie hatte es versprochen und Versprechen wurden nicht gebrochen.

Auch mein Bruder sah schnell ein, dass ich da nicht mit mir reden lassen würde. Seufzend gab er nach und gemeinsam liefen wir in unser Wohnzimmer, um unserem Vater Bescheid zu geben, dass wir auf unserer Straße spielen gehen wollten. Unser Wohnzimmer war der größte Raum im Haus, aber meist spielten wir dort nicht. Laut unseres Vaters brachten wir solch ein Chaos, dass das Wohnzimmer nicht mehr als solchen zu erkennen sei, hätten wir erst einmal dort gewütet. Darum verlegten wir das meist auf unser Zimmer.

Unser Vater saß auf seinem Lieblingssessel vor dem Fernseher. Seinen Sessel hatte ich immer gemocht, da es sich anfühlte, als würde man sich auf eine Wolke legen, sank man in das weiche Polster ein. Außerdem hatte er eine Massagefunktion und das kitzelte immer so lustig.

Der Fernseher war ausgeschaltet. Stattdessen hielt unser Vater sein Tablet in der Hand. Eine hauchdünne Platte mit schneeweißer Rückseite, an die er uns nur noch unter seiner Beobachtung ließ, seit Lucius sie aus Versehen einmal fallen lassen und zerbrochen hatte.

Neugierig hing ich mich an die Rückenlehne des Sessels und zog mich hoch, um einen besseren Blick auf das zu werfen, was mein Vater gerade tat. Obwohl ich noch nicht lesen konnte, erkannte ich schnell, dass es sich um einen Zeitungsartikel handelte. Wie langweilig. Er hatte so vertieft darin ausgesehen, dass ich geglaubt hatte, er hätte vielleicht ein neues Spiel gefunden, das er mir irgendwann mal zeigen würde.

„Oh." Kopfschüttelnd schloss er den Tab mit der Tageszeitung.

„Was denn?", wollte Lucius neugierig wissen. Er näherte sich dem Tisch und nahm das Tablet in seine kleinen Hände, doch unser Vater hatte es bereits ausgeschaltet.

„Ach, irgendwelche Wissenschaftler haben wohl eine neue Idee, um die Welt zu verbessern.", spottete er. Mein Bruder und ich wussten bereits, dass er nicht viel von Wissenschaft und Technologie hielt. Ständig erwischten wir ihn dabei, dass er wieder einmal Science-Fiction Romane aus dem vergangenen Jahrhundert oder vom Anfang dieses Jahrhunderts las. Und jedes Mal war er danach enttäuscht, dass keine der Visionen in den Romanen bis heute Realität geworden war. Ich verstand zwar nicht, weshalb ihn das so traurig stimmte, da es schließlich nur Geschichten waren, aber ich versuchte dann trotzdem immer, ihn aufzuheitern, indem ich ihm Bilder voller Raumschiffe, Aliens und fliegenden Autos malte. Über jedes einzelne davon freute er sich und das erfüllte das mich mit unbändigem Stolz. Manchmal hing er meine Bilder auch am Kühlschrank auf und ich fühlte mich, als hätte ich eine besondere Auszeichnung gewonnen.

„Die Welt verbessern?", echote Lucius. „Kommen dann endlich deine fliegenden Autos und können wir dann andere Planeten besuchen?"

Adam, unser Vater, lachte leise und wuschelte seinem Sohn wohlwollend durch das dunkle Haar. „Ich hoffe doch.", meinte er. Dann klatschte er in seine Hände. „Jetzt aber los! Ich will euch doch nicht weiter langweilen!"

„Vielleicht ist es nicht langweilig.", meinte ich und rutschte von der Lehne. Die Geschichten, die er las, verstand ich nicht, aber er wirkte immer so glücklich, wenn er in ihnen abtauchen konnte. Wovon ich allerdings sehr wohl etwas verstand, waren fliegende Autos. Das stellte ich mir ziemlich spannend vor. „Was meinst du, mit ‚Welt verbessern'?" Aus großen Augen sahen Lucius und ich ihn an.

Aber zu meiner Enttäuschung schüttelte er den Kopf. „Das verstehst du noch nicht, Kurze."

„Und was, wenn doch?" Ich schenkte ihm mein breitestes Grinsen, um ihm zu zeigen, dass ich mittlerweile schon so groß war, dass er es mir erzählen konnte. Mein Bruder neben mir tat es mir gleich.

Jetzt musste er lachen. „Okay. Ihr habt es so gewollt. Aber verstehen werdet ihr es trotzdem nicht."

„Mir egal.", erwiderte ich trotzig, bereit ihm das Gegenteil zu beweisen. Ich war sechs Jahre alt und wie alle Sechsjährigen hielt ich mich bereits für unheimlich erwachsen. Dabei hätte ich froh um die Kindheit sein sollen, die ich hatte.

Unser Vater seufzte. „Die Wissenschaftler haben wohl an irgendetwas herum geforscht, um die Menschheit zu verbessern. Was genau die meinen, weiß ich nicht, aber es ist irgendetwas Großes."

Fragend sah ich ihn an. „Und was genau?"

„Das, Stöpsel, kann ich dir leider auch nicht beantworten. Da fragt man sich doch, weshalb man solch eine Meldung rausbringt, ohne wirklich Informationen zu geben." Er schaltete den Fernseher an und nun konnte ich eine Horde Menschen sehen, die über ein Feld rannten und einen Ball jagte und umher schossen. Ab und zu gab es ein paar Kommentare. Desinteressiert wandte ich meinen Blick ab. Gerade als es spannend zu werden schien, musste er das Thema wechseln. Dabei klang das doch nach einem wunderbaren Geheimnis, das gelüftet werden wollte.

„ ... Und er schieeeeeßt uuunnnd ... JAA! Es ist kaum zu fassen! TOOOR! TOOOR! ER HAT GETROFFEN! DAS IST JA KAUM ZU FASSEN, LEUTE! TOR!"

„Meine Güte.", hörte ich meinen Vater murmeln, „Er hat diese Saison noch nicht einmal getroffen."

Hastig verzogen Lucius und ich uns schnell nach draußen. Wir beide konnten darauf verzichten, uns vor dem Fernseher zu Tode zu langweilen. Draußen liefen wir beide dann unsere Straße ab. Unsere Gedanken schweiften jeweils in ihre eigenen Richtungen davon. Das Wetter war gut. Perfekt, um den Spielplatz aufzusuchen. Die Sonne stand hoch am Himmel, ihre Strahlen liebkosten sanft unsere Gesichter und der Wind spielte sanft mit meinem langen dunklen Haar.

„Was glaubst du? Wie wird das morgen?" Etwas ängstlich sah mein Zwilling mich an.

„Die Einschulung?" Schlagartig zog sich etwas in mir zusammen. Er nickte.

„Das wird schon. Man wird uns ja schon nicht auffressen.", überspielte ich grinsend mein Unbehagen. Es war nicht so, dass ich mich vor der Schule fürchtete. Ich wollte bloß nicht, dass sich etwas veränderte. Eigentlich mochte ich es, wie es jetzt war. Wenn ich heute an diesen Tag vor so vielen Jahren zurückdachte, konnte ich nur bitter lachen. Was für ein naives Kind ich doch gewesen war. Die Einschulung war ein solch winziges Problem. So winzig, dass es noch nicht einmal das Wort „Problem" verdient hatte. Aber damals glaubte ich, dieser Tag würde meine ganze Welt auf den Kopf stellen.

„Du bist blöd!", sagte Lucuis, grinste aber auch.

Nachdenklich gingen wir weiter in Richtung Spielplatz. „Denkst du, Mom wird morgen auch kommen?", fragte ich meinen Bruder nervös. Seit Wochen hatten wir sie nicht mehr gesehen und in meinem sechsjährigen Leben kamen mir Wochen beinahe wie Jahre vor.

Mein Bruder zuckte mit den Schultern. „Sie arbeitet viel." Ich nickte nur. Aber würde sie auch unsere Einschulung verpassen? Das würde sie doch nicht, oder? Quälend nagte mir ihr Versprechen im Hinterkopf. Sie wollte mir das Lesen beibringen. Aber ab morgen würde ich bereits eine Schule besuchen. Versprechen durften doch nicht gebrochen werden.

Wir erreichten den Spielplatz. Weicher Sand umschloss die Schaukeln, Rutschen und Klettertürme wie ein goldenes Meer. Ein Meer, ganz allein für uns. Trotz des wunderbaren Wetters schienen wir die einzigen Kinder zu sein, die hier waren.

„Kannst du denn überhaupt lesen?", fragte mich Lucius zögerlich. Er wusste von dem Versprechen unserer Mutter. Und er wusste, was es mir bedeutete.

„Weiß ich nicht. Ich habe es noch nicht ausprobiert. Aber Mom hat mir schon mal die Buchstaben beigebracht." Mir war nicht klargewesen, dass ein Versprechen nur aus Worten bestand. Kaum mehr als Luft. Aber ich war ein Kind und ein Versprechen glich etwas Heiligem. Ich glaubte, meine Mutter müsste sich daran halten.

Lucius schüttelte über mich nur den Kopf. „Du bist unmöglich, Frey. Weißt du das? Dass du dich auch immer überall herausreden kannst ... Wie machst du das nur?"

Ich grinste stolz. „Ich kann sehr überzeugend sein." Überzeugend. Unser Vater meinte das mal zu mir. Und er meinte, dass das gut sei. Wenn er das sagte, dann musste das stimmen. Selbst, wenn mir das Wort an sich noch nicht viel sagte.

„Ich weiß." Lucuis lief zu der Schiffschaukel. „Komm." Der Sand knirschte unter meinen Füßen, als ich ihm folgte. Gemeinsam kletterten wir auf die Schaukel und ließen uns in die Höhe schwingen.

Es war merkwürdig, ab morgen nicht mehr in den Kindergarten zu gehen. Ich hatte noch nie Freunde gehabt. Immer nur meinen Zwillingsbruder. Lucius hätte Freunde haben können. Es gab genug Jungen, die ihn immer gefragt hatten, ob er mit ihnen spielen wollte. Aber er hatte jedes Mal abgelehnt und zwar nur, damit ich nicht alleine dastand. Ich nahm das hin, ahnte nicht, was ihm damit vielleicht genommen hatte. Mit sechs Jahren dachte man nicht großartig darüber nach.

Abends liefen wir in unser Zimmer. Besorgt stellte ich fest, dass unsere Mutter noch immer nicht zurück war. Sie würde uns morgen doch nicht alleine lassen, oder? Manchmal kam in mir das Gefühl auf, dass sie lieber auf der Arbeit war, als zu Hause und ich musste an die schönen Bilder denken, die ich gesehen hatte. Ausladende Palmen, funkelndes Wasser. Exotische Strände. Wieso nahm sie uns denn nicht mit, wenn sie nicht hier sein konnte? Was gab es dort Tolles, was es hier nicht gab?

Unser Vater kam herein und lächelte uns aufmunternd zu. „Das wird schon, morgen. Vertraut mir." Erst ging e zu mir ans Bett und gab mir einen Gutenachtkuss, dann ging er zu Lucius. Seine Worte konnten mir das unangenehme Gefühl nicht nehmen, das meinen Magen in einen Knoten verwandelte. Am Ende wünschte er uns noch schöne Träume, löschte das Licht und schloss die Tür hinter sich. Eine Weile lang war es still.

Dann ertönte eine Stimme in der Dunkelheit: „Freya?" Ich wandte mein Gesicht zu Lucius' Zimmerhälfte. „Kann ich rüber kommen?" Ich bejahte nur zu gern und vernahm Lucius' tapsende Schritte auf dem Fußboden. Unter mir gab kurz die Matratze nach und mein Bruder zog meine Decke ein wenig mit zu sich hin.

„Freya?"

„Ja?"

„Ich hab dich lieb."

„Ich hab dich auch lieb."

Voller Erwartung an morgen kuschelten wir uns nebeneinander in meine Decke. Seine Nähe beruhigte mich so weit, dass ich merklich ruhiger wurde. Dann schliefen wir ein.

Schnee. Überall weiß funkelnder Schnee. Als hätte jemand Glitzer auf eine riesige Bettdecke gestreut. Es war kalt, doch es störte mich nicht. So weit ich sehen konnte war die Landschaft weiß. Als hätte sich ein weißes, flauschiges Laken über das Land gelegt. Nun begannen weiße Flocken vom Himmel zu regnen. Ich schloss die Augen und atmete den Duft der Kälte ein. Wunderschön. Als ich sie wieder öffnete, war es nicht bloß noch eine schneebedeckte Landschaft. Vor mir erstreckte sich der größte See, den ich jemals gesehen hatte. Wie Glas hatte sich eine Eisschicht über die spiegelglatte Wasseroberfläche gelegt.

Neugierig setzte mein nackter Fuß auf dem Eis auf. Dann der andere. Erfreut bückte ich mich und tauchte meine Hand in das weiße Puder, das in der Sonne wie Diamanten funkelte. Wieder schloss ich meine Augen. Nie wieder wollte ich fort von hier. Es war wundervoll. Doch plötzlich erschütterte eine Explosion diese wunderbare Ruhe und ich blickte auf, wie ein aufgescheuchtes Reh. Aber dann sagte ich mir, ich solle keine Angst haben. Das hier war meins. Und niemand hatte ein Recht darauf. Niemand sollte es mir wegnehmen.

„Aufwachen!", ertönte die gut gelaunte Stimme unseres Vaters. Grummelnd wälzte ich mich auf die andere Seite. Lucius zog mich mit seinen Armen grummelnd zu sich und umklammerte mich wie sein Stofftier. Er war nun wieder deutlich ruhiger. Ich auch.

Unser Vater seufzte. „Aufstehen, ihr habt heute eure Einschulung!"

Dennoch machte keiner von uns Anstalten aufzustehen.

„Ist Mom da?", murmelte ich müde und weigerte mich, meine Augen zu öffnen. Würde ich erst das Licht sehen, gab es kein Zurück mehr und ich war doch so müde.

Mein Vater schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Nein." In mir zerbrach etwas. Kleine Scherben fielen klirrend zu Boden. Ein Gefühl der Leere nahm mich ein.

„Gut. Dann bleibe ich hier. Lass mich schlafen. Ich will nicht.", murmelte ich und zog die Decke höher. Ich hörte meinen Vater seufzen. Aber auch Lucius schien nicht aufstehen zu wollen.

„Ihr müsst aber aufstehen!", sagte unser Vater. „Ich kann verstehen, dass ihr enttäuscht von eurer Mutter seid und euch erhofft habt, dass sie wenigstens heute da ist." Seine eigene Traurigkeit verlieh seiner Stimme einen seltsamen Klang. „Bitte, macht euch fertig." Das leise Knarzen der Tür verriet mir, dass er uns allein gelassen hatte.

Lucius neben mir grummelte und schälte sich aus der Bettdecke. Ich dagegen blieb einfach liegen. Noch fünf Minuten. Als ich jedoch schließlich meine Augen öffnete, fiel mir auf, dass er bereits seine neue Uniform anhatte. Ihm war anzusehen, dass er sich freute, während mir war, als schnürte mir etwas die Brust zu und hinderte mich daran, vernünftig zu atmen. Heute war der große Tag. Heute würden wir beide eingeschult werden.

Stolz trug Lucius die Schuluniform, die aus einem schwarzen Blazer, einem weißen Hemd, einer rot und silbern gestreiften Krawatte, sowie einer schwarzen Hose und schwarzen Schuhen bestand. Meine Uniform dagegen hing unberührt über einem Stuhl. Alles in mir sträubte sich. Bei dem Gedanken daran, dass meine Mutter nicht hier war und mit uns kommen würde, wurde mir nur noch mehr die Luft abgeschnürt.

„Ich will nicht.", flüsterte ich in mein Kissen. Immerhin hatte meine Mutter es mir versprochen. Sie würde mir das Lesen beibringen. Nur war es dafür schon fast zu spät. In wenigen Stunden wäre ich eingeschult und wie sollte meine Mutter mir das Lesen beibringen, wenn ich schon morgen richtig zur Schule ging? Oder reichte es aus, wenn sie heute Abend Heim kam? Ging Lesen lernen so schnell?

„Papa will, dass du dich umziehst.", informierte Lucius mich und ich nickte betrübt. Unsere Mutter war noch immer nicht von ihrer Geschäftsreise zurück. Dabei hatte sie doch versprochen, an diesem wichtigen Tag bei uns zu sein. Ein weiteres Versprechen, das sie gebrochen hatte. Gebrochen. Versprechen wurden nicht gebrochen. Das machte man nicht.

Eigentlich wollte ich mich einfach nur wieder in mein Bett legen und schlafen, bis Mom mich wieder weckte und sagte, dass sie wieder da sei. Aber das würde nicht geschehen. Unser Vater würde das nicht zulassen. Also zwang ich mich auf die Beine und streifte mir lustlos die Uniform über. Missmutig stellte ich fest, dass sie kratzte und ich fragte mich, wieso Lucius so glücklich darüber war, dieses blöde Ding zu tragen.

„Ach, komm schon!", maulte Lucius, als er meinen Blick sah. „Lächle! Das wird super!" Schon lange freute er sich darauf, die Schule besuchen zu können. Er sah das als seine große Chance, Freunde zu finden. Bisher hatte er dafür leider nicht die Gelegenheit gehabt, da es uns immer bloß im Doppelpack gegeben hatte und keines der anderen Kinder mich wirklich mochte. Darum waren wir immer allein gewesen. Und mir tat das für meinen Bruder ein bisschen leid. Jedenfalls in dem Ausmaß, indem eine baldige Grundschülerin begreifen konnte. Aber ich war auch froh, denn so hatten wir einander und mussten nicht alleine sein.

Gut gelaunt schnappte Lucius sich meine und ehe ich mich beschweren oder weiter in Trübsal versinken konnte, hatte er mich auch schon aus dem gemeinsamen Zimmer geschleift.

„Ah, da sind meine beiden Schulkinder ja!", rief unser Vater begeistert, als wir ins Wohnzimmer traten. „Lasst euch ansehen!" Stolz musterte er die Schuluniformen und zog Lucius und mich in eine feste Umarmung. Während Lucius erfreut lachte, verzog ich mein Gesicht. Es wäre ein deutlich besserer Tag, wenn auch unsere Mutter hier wäre. Aber das sprach ich nicht aus. Schließlich wollte ich unseren Vater nicht verletzen. Immerhin versuchte er sein Bestes, damit uns das Fehlen unserer Mutter so wenig wie möglich auffiel.

„Wunderbar!" Er nickte zufrieden. Auch er hatte sich für den heutigen Anlass entsprechend gekleidet. Nur selten hatte ich ihn in Anzug und Krawatte gesehen. Wäre ich nicht so traurig, hätte ich mich über ihn lustig gemacht und ihn einen Pinguin genannt. Aber heute war mir nicht danach. „Dann können wir ja los!" Er hastete zum Wohnzimmertisch, um die Schlüssel zu schnappen.

Dabei hätte ich liebend gerne noch gewartet. Schließlich könnte unsere Mutter jeden Moment durch die Tür kommen. „Aber was ist mit Mama?", fragte ich. Nervös flatterten meine Augen zu der Uhr, die über dem Fernseher hing.

Augenblicklich hielt Dad inne und unterdrückte ein Seufzen. Mit aufgesetzt zuversichtlichem Lächeln drehte er sich zu mir um. „Sie kommt bestimmt nach.", tröstete er mich. Jung wie ich war konnte ich sein aufgesetztes nicht von einem echten Lächeln unterscheiden.

Hoffnungsvoll sah ich ihn an. „Bestimmt?", harkte ich nach.

„Ja, Stöpsel.", antwortete er. „Nun aber los!" Sanft nahm er mich bei der Hand und zog mich aus dem Haus. Zu dritt setzten wir uns in das Auto. Wie unser Vater sich schon oft genug beschwert hatte, konnte es leider nicht fliegen.

„Was glaubst du? Wie wird das?" Die anfängliche Freude meines Bruders war mit einem Mal der Angst gewichen. Unsicher sah er mich an.

„Die Einschulung?" Er nickte. Seinetwillen lächelte ich. Er war schon immer ängstlich gewesen. Und ich würde ihm diese Angst nehmen. Gestern erst hatte er dieselbe Frage gestellt und ich gab ihm die Antwort, die ich ihm am vorherigen Tag schon gegeben hatte.

„Das wird schon. Man wird uns ja nicht fressen." Ich stieß ihm scherzhaft in die Seite.

„Du bist blöd!", sagte Lucius, lachte aber.

„Aber lieb.", neckte ich ihn.

„Manchmal.", gestand er mir zu. Wir beide lachten und versuchten uns gegenseitig, den Zeigefinger in die Seite zu piksen. Aus dem Rückspiegel betrachtete unser Vater uns lächelnd. Er liebte uns beide abgöttisch. Damals wusste ich nicht, wie weh es ihm in der Seele tat, dass Charlotte, unsere Mutter, uns so oft im Stich ließ. Unsere Mutter sah es vielleicht nicht, er dafür sehr wohl. Wir litten unter ihrer ständigen Abwesenheit. Darum war er froh, dass Lucius und ich wenigstens einander hatten.

Während Lucius und ich auf dem Rücksitz noch immer herumalberten, erreichten wir auch schon die Schule. Dabei handelte es sich um ein großes Gebäude, das bereits lange vor der Geburt unserer Eltern errichtet worden war. Zwischen den ganzen modernen Gebäuden mit den großen Glasfronten, Solardächern und grün bepflanzten Flachdächern stach es deutlich heraus.

Abrupt hielten mein Bruder und ich inne und bestaunten mit großen Augen die Schule.

„Das ist ja ein Schloss!", rief ich erstaunt. Dad schüttelte nur den Kopf. Ich übertrieb maßlos. Dennoch erschien mir die Schule in diesem Moment genau so.

„Bin ich jetzt ein Prinz?", wollte Lucius staunend wissen.

Ich lachte. „Du doch nicht!"

„Hey!" Lucius schmollte. Das Gebäude fütterte unsere Fantasie geradezu mit Ideen. Er konnte sich bestimmt gut vorstellen, dass man dort wunderbar spielen konnte. Wenn er ein Prinz sein konnte, würde es auch einen Drachen geben und ich wäre die Prinzessin. Dieses Mal könnte er mich retten, statt ich ihn. Das würde er wunderbar finden, denn ich tat das ständig. Jetzt wollte er an der Reihe sein. Ich kannte meinen Bruder gut genug, um zu wissen, was in ihm vorging.

Ich dagegen dachte nicht an Prinzen, Drachen und Prinzessinnen. Bestimmt war diese Schule in Wahrheit eine Zauberschule und Lucius und ich waren Magier, ohne es zu wissen. Bis jetzt. Meine Traurigkeit rückte immer mehr in den Hintergrund und die Vorfreute schob sich vor. Selbst ich konnte es jetzt kaum erwarten, eingeschult zu werden. In diesem Gebäude würde es so viele Geheimnisse zu entdecken geben!

Das Gebäude, wie auch der Schulhof, waren groß. Ich konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Größeres gesehen zu haben. Der Hof war voller Familien und mir wurde wieder klar, dass meine und die von den anderen sich unterschieden. Die anderen Kinder hatten ihre Eltern, Geschwister, Großeltern und andere Verwandten dabei. Lucius und ich jedoch nur unseren Vater. Wieder wurde ich an das Fehlen unserer Mutter erinnert und die gute Laune verging. Immer brach sie ihre Versprechen. So ungern ich das einsah. Es war nicht das erste Mal.

Lucius, der bemerkte, was in mir vorging, griff nach meiner Hand und drückte sie beruhigend, wobei er mir ein Lächeln schenkte.

„Ich hab dich lieb.", sagte er und tatsächlich half er mir dabei, meine trüben Gedanken zu vertreiben.

„Ich dich auch.", sagte ich mit einem leichten Lächeln.

„Ja, lächeln!", rief unser Vater. In der Hand hielt er sein Smartphone. Also grinsten wir und er schoss ein Foto. „Sieht klasse aus!", lobte er, als er es betrachtete. „Wollt ihr auch sehen?"

„Ja!", kam es zugleich Lucius und mir und wir stürzten sich förmlich auf ihn. Dad lachte nur.

Plötzlich ertönte eine Durchsage, in der es hieß, dass wir alle in die Sporthalle gehen sollten, um in unsere Klassen eingeteilt zu werden. Diese Aussage brachte Lucius dazu, sich zu versteifen.

„Ist alles gut?", fragte ich ihn besorgt, da mir das natürlich nicht entgangen war.

Besorgt knetete mein Bruder seine Hände. „Was, wenn wir nicht in der gleichen Klasse sind?", fragte er leise. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Was sollte er nur tun, wenn er alleine war? Ich war mir sicher, dass er sich gar nicht erst vorstellen wollte, wie es wäre, sich den ganzen fremden Kindern allein stellen zu müssen.

„Wir sind bestimmt in einer Klasse.", versuchte ich ihn zu beruhigen. „Und selbst, wenn nicht, sind wir in den Pausen zusammen!" Nichts würde mich davon abhalten, mit Lucius Zeit zu verbringen. Nicht einmal getrennte Klassen. Auch, wenn ich mir sicher war, dass es bestimmt unangenehm sein würde, allein in einer Klasse zu sein. Doch das sprach ich nicht aus. Ich wollte Lucius mit meiner Sorge nicht noch mehr beunruhigen. Ich musste stark sein. Für ihn.

Obwohl wir beide anfangs wie auf heißen Kohlen saßen, stellten wir recht bald fest, dass das Ganze so langweilig war, dass sich sogar unsere Sorge wegen der verschiedenen Klassen verflüchtigte. Zumindest für den Moment. Der Schuldirektor hielt eine Rede, bei der ich nicht feststellen konnte, dass die Kinder ihm wirklich zuhörten. Tatsächlich lauschten nur die Eltern gebannt.

Doch schon bald ging es los und die Sorge kehrte schnell zurück und verursachte mir Bauchschmerzen. Aber ich ließ mir nichts anmerken.

„Klasse 1c Miss Magpie, folgende Kinder:" Es folgte eine lange Namensliste. „Frexa Winter und Lucius Winter!" Meine Miene verfinsterte sich, trotz der Erleichterung, mit Lucius in der gleichen Klasse zu sein. Ein Stein war mir vom Herzen gefallen und so konnte ich mich wieder auf alles andere konzentrieren. Die Angst hielt mich nicht mehr in ihrem Griff gefangen.

Gemeinsam mit meinem Bruder ging ich nach vorne, wo schon Miss Magpie und einige andere Kinder standen. Als ich beim Direktor vorbei ging, sagte ich: „Freya. Ich heiße Freya." Nicht Frexa. Mir war es unangenehm, dass der Direktor vor versammelter Mannschaft meinen Namen falsch ausgesprochen hatte. Bestimmt würden sich einige Kinder daran erinnern und mich damit aufziehen.

Dem Direktor schien das Ganze peinlich zu sein. Man hörte leises Gelächter. Ich verzog meine Miene nicht, obwohl ich sah, dass selbst Lucius versuchte, sich sein schüchternes Lächeln zu verkneifen. Aber so war er eben. Manchmal wunderte ich mich, dass wir Zwillinge waren. Er war so ganz anders als ich. Schüchtern und zurückhaltend. Immerzu orientierte er sich an den anderen. Hauptsächlich an mir. Ich dagegen war das komplette Gegenteil. Nicht schüchtern, aber zurückhaltend. Anders als mein Bruder fürchtete ich mich nicht davor, auf andere Kinder zuzugehen.

Lucius fühlte sich hier vorne, wo ihn alle anstarren konnten, sichtlich unwohl und tastete nach meiner Hand. Als er sie fand, verschränkten sich unsere Finger miteinander. Lucius warf mir einen kurzen fragenden Blick zu und ich nickte. Er schien erleichtert und versuchte seine Nervosität zu verstecken. Beruhigend drückte ich seine Hand fester. Ich würde immer für ihn da sein. Das stand für mich außer Frage.

Kurz darauf führte sie die Lehrerin in ihre Klasse.

„Sucht euch bitte einen Platz.", sagte sie. Lucius und ich setzten sich in der letzten Reihe nebeneinander. Ich musterte Miss Magpie. Irgendetwas an ihr verursachte mir Unbehagen, doch ich konnte nicht genau sagen, was es war. Die Frau sah streng aus. Ihr angegrautes, wohl einst dunkles, Haar hatte sie zu einem strengen Knoten zusammengebunden. Ihre Haut wies Falten auf, die sich an ihrem Mundwinkel nach unten zogen. Ihre Augen waren ein kaltes, totes grau, das über die Schüler glitt und uns alle genauestens musterte. Ich kam sich mit einem Mal vor wie ein Tier im Zoo. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit.

„Luc." Mein Zwillingsbruder sah zu mir. „Ich mag sie nicht."

Lucius lächelte und drückte meine Hand. „Keine Angst, Frey, das ist doch nur eine Lehrerin."

Nein. Er verstand mich falsch. Ich hatte keine Angst vor der Frau. Ich mochte sie ganz einfach nicht. Irgendetwas hatte diese Lehrerin an sich, das mir nicht gefiel. Aber ich widersprach ihm nicht. Ich wollte ihm den Moment lassen, in dem er dachte, ich hätte Angst. Denn sonst war es immer er.

Er drückte meine Hand. „Ich passe auf dich auf. Wenn du mal mit ihr reden musst, kann ich das für dich machen." Sanft lächelte er mich an und ich lächelte zurück. Das Angebot, das er mir machte, war von großer Bedeutung. Für mich würde er über seinen Schatten springen und sich seiner Angst stellen. Mit anderen - vor allem fremden - Leuten zu reden, war für ihn eine große Sache. Und ich wusste das zu schätzen. Ich war stolz, dass er bereit wäre, das für mich zu tun.

Aber das wäre nicht nötig. Außerdem wollte ich ihn nicht absichtlich dazu zwingen, etwas zu tun, das er nicht wollte, wenn ich dazu doch selbst in der Lage war.

In unserer ersten Unterrichtsstunde ging es erst einmal darum, einander kennen zu lernen. Ich fand dieses Spiel total nervig. Aber Lucius schien es zu gefallen. Besonders gut verstand er sich mit einem Jungen namens James. Und wie der Tag so verging, bemerkte ich, dass mein Zwillingsbruder die ganze Zeit nur etwas mit diesem James machte und ich dabei immer weiter in den Hintergrund rückte. Und er bemerkte es nicht einmal. Ich fühlte mich außen vor gelassen und vergessen, doch ich sprach ihn nicht darauf an. Es war das erste Mal, dass er von sich aus jemanden angesprochen hatte und ehrlich gesagt wollte ich mich jetzt auch nicht einfach dazwischenschieben. Das wäre seltsam.

Dennoch kroch langsam die Angst in mir hoch. Unbemerkt hatte sie sich um mich gelegt. Bisher waren Lucius und ich immer das perfekte Zweierteam gewesen. Nichts und niemand hatte uns trennen können. Aber jetzt? Jetzt ließ er mich allein. Und ich konnte von mir nicht behaupten, dass ich ein Kind war, das sich leicht mit anderen anfreundete. Damit hatte ich schon immer meine liebe Mühe gehabt.

Es war gerade Pause. Ich saß auf einem Baum, die raue Rinde unter meinen Fingern und ließ die Beine baumeln. Währenddessen beobachtete ich wie mein Zwillingsbruder mit James auf der Schaukel saß und mit ihm um die Wette schaukelte. Er sah glücklich aus. Das machte mich ein wenig traurig. Brauchte Lucius mich jetzt nicht mehr? Aber vielleicht war das auch okay. Vielleicht würde James Lucius stark machen, sodass dieser dann keine Angst mehr hatte.

Ich musterte James. James hatte dunkles Haar und klare blaue Augen. Aber war er gut genug für meinen Bruder? Ich konnte nur hoffen. Geschickt sprang ich vom Baum und landete dabei beinahe auf einem Mädchen, das auch in meine Klasse ging. Sie erschrak sich offensichtlich, doch versuchte das zu unterdrücken, indem sie mir einen bösen Blick zuwarf. Aber ich ignorierte sie.

„Hey du!", rief sie mir hinterher. Ich lief einfach weiter. „Hey du, ich rede mit dir! Du bist die, mit dem Zwilling, richtig? Hat dich sitzen gelassen, was?" Wie erstarrt blieb ich stehen. Das hatte wehgetan. Ich konnte ihr Lachen hören. Hinterhältig und böse. Wie eine dieser Hexen aus den Märchen, die unser Vater uns mal vorgelesen hatte. Natürlich wusste ich, dass es keine bösen Hexen gab. Doch dieses andere Kind war eine. Sie grinste einfach nur fies, während ich mich zu ihr umdrehte. Na warte! Von der würde ich mir doch nichts gefallen lassen! Sie grinste einfach nur böse, während ich mich entschlossen zu ihr umdrehte.

„Freya, richtig?" Ihre Augen funkelten hinterhältig. Meine Augen suchten sie nach einem Zauberstab ab, bis mir einfiel, dass Hexen gar keinen brauchten. Ohne ein Wort zu sagen, griff das Mädchen nach meinen langen Haaren, doch ich wich rechtzeitig aus. Überrascht starrte ich sie an. Mein Herz machte einen wilden Hüpfer. Kurz huschten meine Augen zu Lucius, der weiter fröhlich schaukelte.

„Feigling!", motzte das Mädchen und wollte noch einmal an meinen Haaren ziehen. Doch dieses Mal griff ich nach ihrem Handgelenk, um sie daran zu hindern. Das gefiel ihr gar nicht. Verärgert verzog sie ihr Gesicht und versuchte ihr Handgelenk zu befreien. Deshalb schubste ich sie leicht zurück, damit sie nicht mehr so nah bei mir war. Allerdings stolperte sie dabei über einen Stein. Erschrocken weiteten sich ihre Augen und sie fiel. Ein leises Jammern kam von ihr, als sie das Blut an ihren Ellbogen sah. Aus weit aufgerissenen, glasigen Augen sah sie mich an.

Ihr Blick fiel auf irgendetwas hinter mir. Sie schenkte mir noch einmal ein Grinsen, das einer Hexe würdig war, ehe sie eine weinerliche Miene zog und sich jammerte über die Ellbogen rieb. Gespielt sank sie zu Boden. Dann fing sie jämmerlich an zu weinen. Verdutzt starrte ich sie an. Dann hörte ich Schritte hinter mir. Miss Magpie kam auf uns zu gehastet und beugte sich zu dem Mädchen.

„Jo, alles in Ordnung?" Sie sah das brünette Mädchen besorgt an. Das Mädchen, das anscheinend Jo hieß, nickte verheult. Dann nahm sie ihre Hand von ihrer Nase. Irritiert blinzelte ich. Was sollte das werden? Was tat sie da?

Miss Magpies Miene wurde ernst. „Wer war das?"

„D-Die!", sagte Jo mit zitternder Stimme und deutete mit einem ebenso zittrigen Finger auf mich, „Die hat mich beleidigt!"

Miss Magpie kam drohend auf mich zu. „Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?"

Etwas verloren schaute ich die Lehrerin an. Was sollte ich tun? In einer solchen Situation hatte ich mich noch nie befunden. Und diese Frau hatte etwas an sich, das mir eine Gänsehaut bereitete. Doch klein beigeben würde ich nicht.

„Nur dass Jo eine miese Schlange und eine schlechte Verliererin ist.", erklärte ich nüchtern, wandte mich von den beiden ab und ging eilig in Richtung Bänke. Keine Sekunde länger wollte ich bei den beiden bleiben. Eigentlich wollte ich nur noch zu Lucius, aber der war beschäftigt.

„Du bleibst hier!", rief Miss Magpie mir hinterher, doch ich ignorierte sie. Sie verstummte und ich spürte nur noch ihren nachdenklichen Blick in meinem Rücken. Erleichtert, dass sie mir nicht nachlief, entspannte ich mich merklich.

Lucius hatte von all dem nichts bemerkt. Obwohl er nur wenige Meter entfernt geschaukelt hatte. Dabei sollte man doch meinen, dass Zwillinge merkten, wenn etwas mit dem anderen nicht stimmte. Obwohl er nichts dafür konnte, war ich beleidigt und enttäuscht.

Damals konnte ich es noch nicht wissen. Aber hätte ich gewusst, was die kleine Auseinandersetzung mit Jo für mich bedeuten würde, hätte ich mich ganz sicher nicht darauf eingelassen.

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