Die Verlierer - Herz aus Beton

By traumjaegerin

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[TEIL 3] Jay gehört die Unterwelt. Von der Siedlung über die Bahntrassen bis zum Görli, dort, wo sich die Dea... More

1 | Meine Welt, meine Regeln
2 | Saufen in Theorie und Praxis
3 | Farbe auf das Elend
4 | Todesmut oder Idealismus
5 | Unser süßes Geheimnis
6 | Die Welt ist käuflich
7 | Tote Augen, tote Seelen
8 | Spielplatzabende
9 | Flaschenpost ohne Message
10 | Scherben und Alkohol
11 | Kontrollverlust
12 | Eklige Idylle
13 | Sicherheit
14 | Du lügst mich nicht an
15 | Kein Grund nüchtern zu bleiben
16 | Welt in Scherben
Triggerwarnung

17 | Viel zu viel Blut

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By traumjaegerin

Die nächsten Minuten zogen wie ein Film an mir vorbei, der vorgespult wird. Sanis liefen mit der Trage vorbei, dann kamen sie schon wieder runter. Leonardo lag auf der Trage und an seinem Arm befand sich ein knallweißer Verband, der so sauber ist, dass er nicht in dieses Viertel passte. Zigarettenrauch, noch ein Zug. Fede und die Mutter der beiden stürmten hinterher. Beruhigend redet Fede auf sie ein, während sie irgendwas vor sich her murmelte. Die Sanis trugen Leonardo in den Wagen, die Mutter wackelte auf ihren dicken Beinen hinterher. Türen wurden zugeschlagen.

Fede blieb verloren stehen und sah dem Rettungswagen hinterher, wie zu dem Blaulicht nun auch noch der laute Sirenenklang dazu kam. Schnell verschwanden sie die Straße runter und waren außer Sichtweite.

In diesem Moment wurde auf Play gedrückt und die Welt lief wieder in normaler Geschwindigkeit. »Was is jetzt mit ihm?«, fragte ich Fede und zog ihn ohne zu zögern in meine Arme. Drückte ihn noch fester, als ich spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. Fuck, ey. Ich hatte ihn noch nie so erlebt.

Ich bemerkte, wie er seine Arme enger um mich schlang. Richtig zudrückte. Wie er sich an mir festhielt, wie er meinen Halt zu gebrauchen schien. Und fuck, das fühlte sich gut an. Fede brauchte mich. Ich konnte Fede das geben, das ihm gerade fehlte. Das war gut, verdammt gut. Dann würde der vielleicht endlich mal checken, was ich ihm alles bot. Und vielleicht mal drüber nachdenken, dass das mit uns ja doch mehr sein könnte.

Da war ich kurz richtig froh drüber, dass Leonardo seine komische Emo-Nummer durchgezogen hatte. Und seien wir mal ehrlich, auch wenn ich mir vorher Sorgen gemacht hatte. Der war doch ein viel zu großer Feigling, um das wirklich zu vollbringen.

»Ich weiß es nich«, brachte Fede erstickt hervor. »Er hat so geblutet. Ich glaub, ich hab noch nie so viel Blut gesehen.«

»Scheiße, ey.« Ich fuhr mit einer Hand durch seine Haare, die im Nacken kurzrasiert waren.

Kurz tauchten vor meinem inneren Auge die vielen Situationen auf aus den letzten Jahren, in denen ich Blut gesehen hatte, viel Blut gesehen hatte. Schlägereien, Messerstechereien. So viele Menschen, von denen ich nicht wusste, ob sie's geschafft haben. Was mir an sich auch egal war, aber ja. Die Bilder. Zuletzt der Typ, den Tarek erschossen hatte.

»Und sonst so? Also war er bei Bewusstsein?«

»Glaub schon. Die mussten auf jeden Fall nicht wiederbeleben. Keine Ahnung.« Seine Stimme klang wie mechanisch, als trüge er auswendig gelernte Worte vor, die nichts mit seinem Leben zu tun hatten.

»Und wo steckt eigentlich dein Vater? Und deine Schwestern?«

»Frühschicht. Und Alessia und Gloria pennen heute bei Lorena. Das is 'ne Freundin meiner Mutter, die zwei Töchter in deren Alter hat. Die sind oft bei denen. Ich will Lorena gleich schreiben, dass die sich morgen auch noch länger um die beiden kümmert. Die sollen das erst mitkriegen, wenn Leonardo einigermaßen stabil ist. Die sind zu jung«, erklärte er, noch immer in dieser seltsamen Roboterstimme.

»Und dein Vater? Kommt der?«

»Ich ruf ihn gleich an. Ich hoffe, der kann von Arbeit weg. Weiße, sein Chef ist ein richtiges Arschloch, der kriegt das noch hin, ihn nicht gehen zu lassen.«

»Deswegen kann ich Selbstständigkeit nur so empfehlen«, versuchte ich mich an einem Joke.

»Ha ha«, machte Fede. Er seufzte und ließ seinen Kopf gegen meinen sinken. »Kommst du mit? Ins Krankenhaus?«

»Klar, Fede. Ey ... ich lass dich nich allein. Das weiße, oder?« Mit meinen Fingerkuppen strich ich über seinen Rücken. Es fühlte sich gut an, das zu sagen. Endlich hatten wir mal einen Moment, in dem er nicht derjenige war, der Macht über mich ausüben konnte. Endlich war ich nicht mehr der einzige, der bei ihm angekrochen kam, weils ihm scheiße ging, und er sich gerade mit Alk und Drogen den letzten Gedanken aus dem Hirn gehämmert hatte.

»Mhm«, machte Fede. »Okay, wollen wir los? Lass uns mit der Bahn fahren, ich hab keine Lust, mich mit fremden Menschen auseinander zu setzen.«


Krankenhäuser waren immer so eine Sache für sich. So ein besonderes Feeling irgendwie. Eine eigene Welt. Während draußen sich das Viertel bekriegte, Menschen sich in abgeranzten Clubs die Kante gaben und die Klobrille küssten, manche sich im Park den goldenen Schuss setzten, weil sie in ihrer Jagd nach Glück zerbrochen waren, herrschte hier Ruhe. Und doch kamen sie hier alle zusammen, die gescheiterten Schicksale. Die H-Junks mit ihrer Überdosis, die Alkleichen. Die Jungs ausm Park, die von einem konkurrierenden Dealer das Messer die zwischen die Rippen gerammt bekamen. Sie alle landeten an diesem Ort, in irgendeinem Zwischenstadium zwischen Tot und Lebendig. Und hier war auf einmal alles klinisch steril, so sauber und weiß. Ein Ort, der keinen Platz für Emotionen bot, obwohl sie alle hier hervorkamen.

Schnurstracks ging ich auf den Empfang zu. Wollte Fede das Gefühl geben, dass ich den ganzen Scheiß in der Hand hatte, ihm zeigen, dass er loslassen konnte. Dass er sich auf mich verlassen konnte.

»Ey«, sprach ich die Frau an, die ihren Blick vom Bildschirm hob. Sie wirkte übernächtigt. »Sein Bruder wurde hier eben eingeliefert. Wo sollen wir hin?«

»Notaufnahme.« Sie deutete auf einen Gang zur linken Seite, der mit einem entsprechenden Schild ausgeschildert war. »Da runter.«

Unsere Schritte hallten den Gang entlang und während wir liefen, griff ich nach Fedes Hand. Strich über seine Finger und drückte sie kurz. Der Blick, den er mir zuwarf, spiegelte Dankbarkeit wieder. Im Wartebereich angekommen fanden wir uns in einem vollen Raum wieder. Gedämpftes Murmeln, ein Typ, der auf seinem Stuhl eingenickt war. Ein Baby, das schrie. Ein Mann mit verzotteltem Bart, der mit dem Fuß stampfte und irgendetwas auf einer mir unbekannten Sprache vor sich hinschimpfte.

Okay, scheiß auf das, was ich gerade gesagt hatte. Ruhig war hier rein gar nichts.

Die Mutter von Fede saß im Eck, ihre Füße steckten in dicken Wollsocken und flauschigen Hausschuhen. Ihren Mantel hatte sie lediglich über eine dünne Hose drüber gezogen, die eher nach Schlafhose als sonst was aussah. Auf ihr befanden sich ein paar Flecken. Untypisch für sie, die im Gegensatz zu meiner Alten schon darauf achtete, wie sie aussah. »Federico!«, sagte sie erleichtert, als sie uns beide reinkommen sah. Erhob sich etwas schwerfällig und kam uns entgegen, legte die Arme um Fede. Aufgeregt begann sie ihm auf Italienisch etwas zu erzählen.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und ließ meinen Blick durch den Wartebereich gleiten. Da wandte sich Fede mir wieder zu: »Sie weiß noch nicht mehr von Leonardo. Sie haben ihn in ein Zimmer gebracht und sie durfte noch nicht zu ihm. Aber er lebt.«

»Das ist doch schon mal die Hauptsache.«

Dann hieß es Warten. Nach einer Weile wurden neben dem Stuhl der Mutter noch zwei weitere frei und Fede und ich ließen uns dort nieder. Unauffällig streifte ich mit meinen Fingern über seinen Oberschenkel. Kurz huschte Fedes Blick von meiner Hand zu mir, auf seinen Lippen tauchte ein unscheinbares Grinsen auf. Tja, das schien jemandem zu gefallen.

»Scheiß drauf, ich geh da jetzt nachfragen«, sagte Fede mit einem Mal entschieden und stand auf, so schwungvoll, dass der blaue Stuhl rumpelnd ein wenig zurückrückte.

»Vernünftig' Idee«, stimmte die Mutter mit anerkennendem Nicken zu und kurz musste ich daran denken, was Leonardo auf dem Spielplatz erzählt hatte. Wie er immer in Fedes Schatten stand. Mit schnellen Schritten ging Fede auf eine Krankenpflegerin zu, die gerade den Raum durchquerte.

»Entschuldigung? Ich wollte mal wissen, wie's jetzt um meinen Bruder steht. Michele di Benedetto. Er wurde hier heute eingeliefert.«

»Dazu kann ich nichts sagen, ich schicke gleich meine Kollegin zu Ihnen«, erwiderte die Schwester, während ich mich zu den beiden gesellte, mich aber ein wenig im Hintergrund hielt. Nachher wollten die nichts sagen, weil jemand dabei war, der nicht zur Familie gehörte.

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis eine jüngere Frau mit hohem, schwingenden Zopf zu uns kam. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit einem leichten osteuropäischen Akzent.

Fede wiederholte seine Frage.

»Das dauert noch. Bis Sie zu ihm können. Der Junge braucht jetzt erstmal Ruhe«, erklärte die Frau, hatte sich schon halb abgewandt.

»Aber ihm geht es gut?«, erkundigte sich die Mutter nervös und raufte sich die schwarzen Locken, die heute schon etwas wirr waren.

»Ja, den Umständen entsprechend. Die Ärztin wird Ihnen später mehr sagen. Bitte gedulden Sie sich«, erwiderte sie, da ging sie schon mit großen Schritten weiter. Rot hob sich ihr Zopf von dem weißen Kittel ab.

»Das kann doch nicht sein«, erwiderte Fede aufgebracht, während wir zu unseren Plätzen zurückgingen. Hinter der Frau schwang die Glastür zu. »Dass die uns gar nichts sagen! Wer weiß, vielleicht geht's ihm viel schlechter.«

»Spero che andrà tutto bene ... mio caro ragazzo«, murmelte die Mutter besorgt.

»Jetzt chill mal, das ist ja normal, dass die nicht viel sagen kann«, werfe ich ein. »Meine Alte arbeitet ja auch im Krankenhaus und die hat auch schon gesagt, wie oft Leute die anlabern und dass die da halt keine Zeit haben, Auskunft zu geben.«

Hatte sie so nicht wirklich gesagt und falls doch, zugehört hatte ich eh nicht, aber ich fand, das klang nach einer Antwort, die Fede beruhigen könnte. Wir ließen uns auf unseren Plätzen nieder und die Mutter nahm ihr Handy raus, das in einer abgenutzten dunkelroten Klapphülle steckte. Diese Dinger, die auch nur Boomer hatten. Sie drückte aufs Display und begann mit leiser Stimme eine aufgebrachte Sprachmemo aufzunehmen.

»Die nähen gerade meinen Bruder, weil er sich die Pulsadern aufgeschnitzt hat, also keine Ahnung, warum du glaubst, ich kann einfach chillen!«, fuhr Fede mich heftig an.

Ich wartete noch einen Moment, dann legte ich meinen Arm um ihn und zog ihn ein wenig näher an mich ran. Bei Fede hatte ich alles erwartet, vor allem in diesem Moment. Dass er mich wegschlagen würde.

Am wenigsten hatte ich erwartet, dass er es zulassen würde. Atmete seinen Duft nach frisch gewaschenen Haaren und irgendeinem Parfum ein. Eigentlich waren Parfums ein richtiger Opfer-Move, aber bei Fede war das ganz süß.

Ein leises Pling verkündete, dass die Mutter ihre Sprachnachricht abgeschickt hatte. Sie nahm im Anschluss direkt die nächste auf. Ihre Stimme vermischte sich mit den vielen anderen des Krankenhauses. Der noch immer schimpfende Mann. Das Baby, das leise wimmerte. Irgendeine besoffene Frau, die lautstark die Frau am Tresen beleidigte und nach ein paar Augenblicken hinaus eskortiert wurde.

»Kippe zur Beruhigung?«, bot ich leise an. Seine Locken kitzelten mich an der Nase.

»Vergiss es, Jay. Hab ich dir doch schon in der Achten gesagt. Ich nehm keine Kippen von dir an.«

»Du bist ganz schön unflexibel.«

»Mh.«

»Kommse trotzdem mit raus, rauchen?«, fragte ich und er stimmte mit einem Nicken zu. Sagte auf Italienisch seiner Mutter Bescheid. Gemeinsam gingen wir den langen Gang nach draußen, stellten uns vor das Gebäude. Ich zündete mir eine Zigarette an und ließ meinen Blick über das umliegende Gelände schweifen. Dunkel lag die Nacht über uns, hatte alles in Beschlag genommen. Nur ein paar wenige Lichter erwehrten sich ihr, kämpften gegen die Dunkelheit an. Ein paar Bäume, die sich im Wind wandten, die die Sicht auf die umliegenden Häuser verbargen. Ein kleiner Park mit Laternen, bei dem an Tag sicher die Patienten ihre Zeit totschlugen.

Und dann auf einmal küsste Fede mich. Küsste mich, als würde er in diesem Kuss alles an Halt finden, das er gerade bekommen konnte. Überrascht fand ich seine Zunge, während die Kippe zwischen meinen Fingern abbrannte. 

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