F*ck Growing up

By 07nia11

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May will nichts lieber, als ihr letztes Schuljahr richtig mit ihren Freunden zu genießen. Das gestaltet sich... More

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Danksagung

Kapitel 24

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By 07nia11


Ich muss gefühlte Ewigkeiten einfach nur dagesessen und ins Nichts gestarrt haben, als ein leises Rascheln hinter mir mich aufschrecken lässt. Mit steifen Gliedern lasse ich den Blick durch die Dunkelheit gleiten, während sich die folgende Stille unheimlich um mich legt. Ist da wer? Angespannt spitze ich die Ohren, während mir nur zu deutlich bewusst wird, dass ich allein an einem verlassenen See sitze, ohne dass auch nur jemand weiß, wo ich bin. Aber bestimmt habe ich nur ein Tier gehört, welches durch das Unterholz huscht. Ein Igel oder... erneut erklingt ein Rascheln gefolgt von einem Fluch, der unmöglich von einem Tier stammen kann.

Erschrocken fahre ich hoch und nehme meine Hände aus den Jackentaschen, auch wenn ich bezweifle, mich gegen irgendjemanden verteidigen zu können. Wer treibt sich mitten in der Nacht bei eisigen Temperaturen an einem See herum? Nun ja, abgesehen von verzweifelten Mädchen, die von zu Hause weggelaufen sind.

Alle Antworten, die mir auf diese Frage einfallen, lassen das ungute Gefühl in meiner Magengegend nicht verblassen. Ganz im Gegenteil. Mein Blick huscht zu dem Weg, auf dem ich hierhergekommen bin. Mein Fahrrad liegt ein gutes Stück entfernt und als ein weiterer Fluch erklingt, muss ich feststellen, dass wer auch immer mir hier Gesellschaft leisten will, aus der gleichen Richtung kommt. Einfach verschwinden kommt also nicht in Frage und ein Blick um mich, offenbart mir, dass verstecken wohl auch nicht funktionieren wird. Außer dem Schilf gibt es weit und breit nichts und ins Wasser zu waten hört sich nach keiner guten Idee an. Mei Herz will gerade einen Schlag zulegen, als ein erneuter Fluch erklingt und mir die Stimme seltsam vertraut vorkommt. Das kann doch nicht...?

„Tim?" Die Fassungslosigkeit ist mir anzuhören, als ich eine dunkle Gestalt einige Meter entfernt erspähe.

„May? Gott verdammt, endlich habe ich dich!"

Es braucht, bis ich mehr als dunkle Schemen ausmachen kann und tatsächlich in das grimmige Gesicht meines Bruders blicke.

„Kannst du dich vielleicht das nächste Mal an einen nicht ganz so weitläufigen Ort verstecken? Dich hier zu finden hat Ewigkeiten gedauert."

Genervt schüttelt er den Kopf, als er den Strand betritt und mit etwas Abstand zu mir stehen bleibt. Ich kann ihn nur ungläubig anstarren, während ich mich wieder auf mein Treibholz plumpsen lasse.

„Ja klar, dein Wunsch ist mir Befehl." Der beißende Ton hilft mir, meine Fassung wiederzugewinnen, und als ich meinen Bruder erneut mustere, bin ich dieses Mal diejenige, die den Kopf schüttelt. „Was machst du hier?"

„Ach, ich habe mir gedacht eine nächtliche Runde Schwimmen tut bestimmt gut, wenn meine Schwester verschwunden ist und zuhause alles Kopf steht." Tims Augenrollen macht klar, dass er kein einziges Wort ernst meint. „Ich habe natürlich nach dir gesucht, du Dummkopf."

Ich schnaube. „Du weißt genau, wie die Frage gemeint war. Wie hast du mich hier gefunden?"

„Du hast mich mal vor Jahren hierhergebracht, als Mom und Dad sich böse in den Haaren lagen." Tim zuckt mit den Schultern und ich kann ihn nur überrascht anschauen, während er fortfährt. „Da habe ich mir gedacht, es wäre einen Versuch wert, hier nach dir zu suchen. Du und dieser See scheint irgendwie ein Ding zu sein."

Die Worte rufen Erinnerungen hervor, an die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe. Ich kann mich an den Tag erinnern. Wie Mom und Dad durchs Haus gebrüllt haben und Tim mich mit seinen acht Jahren aus großen Augen angeschaut hat. Ich wollte ihn einfach nur weg bringen, damit er sich nicht anhören muss, was unsere Eltern sich an den Kopf warfen. Wir sind hier her geradelt und um diesen kummervollen Ausdruck von Tims Gesicht zu wischen, haben wir angefangen ein Unterschlupf im Waldstück zu bauen. Den halben Tag haben wir Hölzer gesammelt, bis wir ein kleines Tipi unser Eigen nennen konnten und breit lächelnd darin Pläne geschmiedet haben. Erst der Hunger hat uns wieder nach Hause getrieben, wo Mom und Dad vor lauter Sorge aufgehört hatten zu streiten.

Als ich den Blick wieder auf Tim richte, brennen meine Augen. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet mein kleiner nerviger Bruder mich so gut kennt, dass er mich hier findet? Manchmal vergesse ich, wie viel wir miteinander teilen und die Erkenntnis berührt mich auf eine Weise, die mich befürchten lässt, gleich in Tränen auszubrechen. Doch um uns beiden dieses Schicksal zu ersparen, fliehe ich mich in den altbewehrten Sarkasmus.

„Wow, ich habe nicht gedacht, dass du noch etwas anderes in deinem Kopf hast, außer diesen Computerspielen."

Mit einem Stöhnen rollt Tim die Augen. „Musst du darauf immer herumhaken?"

„Sorry, Reflex." Mein Lächeln fällt etwas zu zittrig aus, um meinen inneren Aufruhr zu verstecken. Also drehe ich mich um und blicke wieder auf den stillen See hinaus. Tim setzt sich ohne eine Erwiderung neben mich und für eine Weile sind wir einfach beieinander.

„Tut mir leid, dass es zwischen Mom und dir so gekracht hat."

Ich schnaube, weil gekracht nicht mal ansatzweise reicht, um zu beschreiben wie Mom und ich aneinandergeraten sind.

„Musste wohl früher oder später passieren. Hast du viel mitbekommen?"

Mein schlechtes Gewissen regt sich, als ich das Profil meines Bruders betrachte und er die Nase rümpft. „Ein bisschen."

Ein Bisschen bedeutet wohl alles und ich fühle mich mies, als ich daran zurückdenke, was Mom und ich über Tim gesagt haben. Es stimmt, dass ich in seinem Alter schon mehr im Haushalt anpacken musste, aber das macht mich noch lange nicht zum besseren Kind. „Tim, ich..."

„Lass es", mein Bruder schüttelt entschieden den Kopf und greift nach einem Stein zu seinen Füßen, um ihn über den See springen zu lassen. Früher hat es mich verrückt gemacht, wie leicht er das hinbekommt, während meine Steine stets wie ein Anker versinken. „Ich habe nichts gehört, was ich nicht schon wusste. Die letzten Monate hat es sich so gut angefühlt, einfach auf alles zu scheißen. Haushalt, die Schule, Mom und du. Ich wollte einfach nur meine Ruhe." Er zuckt mit den Schultern, doch so locker die Geste wirken soll, sehe ich doch den Schmerz in seinen Augen. „Dabei wohne ich genauso in diesem Haus wie ihr. Tut mir leid, wenn du alles abbekommen hast."

Mir stockt der Atem bei Tims Worten und obwohl ich mich so oft über ihn aufgeregt habe, dass ich es nicht mehr zählen kann, fehlt mir in diesem Moment jegliche Wut auf ihn. „Du musst dich nicht entschuldigen. Mir tut es leid, dass ich dich nie gefragt habe, wie es dir mit dem Ganzen geht."

Ich fühle mich schrecklich, laut einzugestehen, was für eine beschissene große Schwester ich gewesen bin. Wäre ich einfach über meinen Schatten gesprungen und hätte mit Tim das Gespräch gesucht, hätte ich vielleicht früher gesehen, was sein Trotz eigentlich zu bedeuten hat. Dass ich nicht die Einzige bin, die sich in all dem Chaos verloren fühlt.

Tim wirft mir ein trauriges Lächeln zu. „Tja, wir hätten wohl beide die Dinge besser angehen können."

Das Lächeln erwidernd stupse ich ihn mit der Schulter an. „Besser spät wie nie."

Nach einer kurzen Pause beiße ich mir auf die Lippen und hänge etwas an, das mir schon seit Wochen auf der Seele brennt. „Eins musst du mir verraten: Wie schaffst du das? Die ganze Sache mit Dad einfach an dir abperlen zu lassen? Nicht wütend auf ihn zu sein, dass er uns verlassen hat?"

Tim schaut überrascht zu mir, was an meinem verständnislosen Tonfall liegen könnte. Aber ich meine die Worte nicht als Angriff. Ich bin einfach nur neugierig, in der Hoffnung, etwas von meinem kleinen Bruder lernen zu können.

„Am Anfang gar nicht." Tim zuckt erneut mit den Schultern. „Mom war so in ihrem eigenen Schmerz gefangen und du hast alles daran gesetzt ihr zu helfen, da habe ich die Dinge einfach mit mir selbst ausgemacht." Ein verkniffenes Lächeln huscht über sein Gesicht. „Zu erst habe ich viel Dampf abgelassen. Habe einfach das gemacht worauf ich Bock habe, weil es sowieso niemanden geschert hat. Aber irgendwann ist mir klar geworden, dass ich entweder mein Leben lang wütend sein kann, oder akzeptiere wie es ist und mich damit zurecht finde."

So wie Tim es sagt, hört es sich nach dem einfachsten der Welt an. Dabei steigt mir schon fast der Rauch aus den Ohren, wenn ich auch nur daran denke, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.

„Verletzt es mich, wenn Dad uns einfach am Tag, den er mit uns verbringen wollte, stehen lässt? Klar. Habe ich dich innerlich angefeuert, als du ihm die Meinung gegeigt hast? Aber hallo." Als ich überrascht zu ihm blicke, grinst mich Tim frech an. Dann wird sein Gesichtsausdruck jedoch wieder ernst und er zuckt mit den Schultern. „Aber was habe ich davon, mir deswegen all die schönen Momente mit ihm zerstören zu lassen? Klar ist im letzten Jahr alles komplizierter geworden, aber wenn du Dad lässt, zeigt er dir auf seine Weise, dass er dich noch genauso liebt wie früher. Er schenkt mir Computerspiele, von denen ich nur in einem Nebensatz gesprochen habe, und er fragt nach wie mein Tag war, wenn Mom zu gestresst ist, um es zu tun. Er ist da. Anders als früher, aber er ist da."

Tims Worte wirken nach, während ich nachdenklich auf das sanfte Schwappen des Sees am Ufer starre.

„Ich wünschte, ich könnte Dad verzeihen. Der Ausflug letzten Samstag...", ich unterbreche mich mit einem Seufzen. „Ich hatte echt gedacht, es könnte wieder wie früher sein. Einfach nur wir drei und jede Menge Spaß. Doch dann sagt er Dinge oder tut Dinge und... die Wut platzt einfach aus mir heraus!" Ich spreize meine Hände, um eine Explosion zu symbolisieren, bevor ich sie ineinander verschränke. „War das Leben mit uns so schlimm? War es so unerträglich, bei seiner Familie zu bleiben?"

Meine Stimme zittert, weil auch in diesem Moment die Wut wieder in mir hochsteigt. Wieso ist er gegangen? Wieso hat er uns nicht die Chance gegeben, gemeinsam eine Lösung zu finden?

„May", Tim legt zögerlich eine Hand auf meinen Arm. Es ist offensichtlich, dass wir beide nicht gut hierin sind. Geschwister zu sein, die füreinander da sind. „Dass Dad gegangen ist, hat nichts mit uns zu tun. Es ging um Mom und Dad und dass ihre Beziehung nicht mehr funktioniert hat. Wir wissen beide, dass das schon lange so war."

Ich zucke zusammen, weil Tim recht hat. Wenn ich an Noahs Eltern denke und wie sie sich anschauen... ich kann mich nicht daran erinnern, wann das zwischen Mom und Dad das letzte Mal so war.

„Und wieso musste er dann direkt das Land verlassen? Er hat uns im Stich gelassen."

Die Zähne zusammengebissen sammle ich die Wut in mir, um den darunterliegenden Schmerz zu verdrängen.

„Was hätte Dad denn tun sollen? Mom hätte ihn vom Grundstück gejagt, wenn er sich dem Haus auch nur genähert hätte, und du hast kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Ich glaube er wollte erst mit sich selbst ins Reine kommen, bevor er versucht, die Beziehung mit dir wieder zu kitten."

Ein Schnauben entfährt mir. Das hat er auf jeden Fall toll hinbekommen. Gleichzeitig gibt bei Tims Worten etwas in meinem Inneren nach. Die ersten Wochen nach der Trennung unserer Eltern sind in meinem Kopf ein verschwommenes Durcheinander. Ich erinnere mich an Mom und wie fertig sie war. An Nächte, die ich durchgeweint habe, weil ich nicht wusste, wie es weitergehen würde. Und ich erinnere mich daran, wie ich Dad angeschrien habe. Jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe. Ich versuche mich daran zu erinnern, was er getan hat. Wie er reagiert hat. Doch das einzige Bild, das mir in den Kopf steigt, ist Dad mit einer ruhigen Miene, während er alles über sich ergehen lässt. Als wäre es ihm egal. Oder als würde er mir den Raum lassen, um meine Wut und meinen Schmerz loszuwerden.

Die Gedanken verunsichern mich. Ich habe immer auf Moms Seite gestanden, weil ich mir sicher war, dass es die einzig richtige ist. Seinen Partner zu betrügen kann egal in welchem Fall nicht richtig sein. Aber vielleicht war nicht die Affäre das ursächliche Problem. Und vielleicht hat Dad hingenommen, der Bösewicht zu sein, weil er sich selbst Vorwürfe macht und nicht darauf hoffen wollte, dass wir auch seine Seite verstehen.

All das verknotet mir den Kopf jedoch nur noch mehr. Irgendwann werde ich mir die Zeit nehmen, mich damit auseinanderzusetzen. Mit Dad zu reden. Doch für den Moment ist es eigentlich auch egal.

„Wie auch immer. Bevor ich meine Beziehung zu Dad fixe, muss ich wohl erstmal das mit Mom wieder auf die Reihe bekommen." Mit einem Seufzen fahre ich mir durch die Haare.

„Hast du dir wirklich einfach das Auto genommen?" Die Belustigung ist Tims Stimme anzuhören und treibt mir die Röte in die Wangen. Doch als ich den Kopf zu ihn wende, ist Tims Blick nicht anklagend, sondern voller diebischer Freude. Und so kommt es, dass ich seit der Panne und allem was folgte, das erste Mal über das Geschehene lache.

„Tja, das hast du von deiner langweiligen großen Schwester nicht erwartet, was?"

Tim grinst. „Oh, eigentlich schon. Immerhin ist die gleiche langweilige große Schwester ein halbes Jahr immer wieder aufs Dach geklettert."

Baff starre ich Tim mit offenem Mund an, der eindeutig genießt, mich mit seinen Worten unerwartet erwischt zu haben. „Das wusstest du?"

„Also bitte", überheblich zieht mein Bruder die Augenbrauen hoch. „Mom braucht ein Hörgerät, dass sie das nicht mitbekommen hat."

Mit einem breiten Grinsen schüttle ich den Kopf. „Du steckst voller Überraschungen, kleiner Bruder."

„Dito, große Schwester."

Für einen Moment lächeln wir uns einfach an, bevor Tim sich mit einem Seufzen erhebt. „So schön es ist, mit dir zu reden, mir ist arschkalt. Können wir jetzt wieder heim?"

Die Worte lassen die Kälte auch unter meinen Mantel kriechen und mit einem Schaudern muss ich Tim recht geben. Ich spüre meine Zehen schon nicht mehr. Trotzdem verziehe ich aus anderem Grund das Gesicht, als ich ebenfalls aufstehe.

„Wie schlimm ist es denn zu Hause?"

„Oh, halb so wild." Tim schlägt ein Plauderton an, während wir gemeinsam durch den Sand Richtung Weg stapfen. „Als ich gegangen bin, haben Mom und Dad gerade darüber diskutiert, die Polizei zu rufen."

„Was?!" Entsetzt halte ich inne und weiß nicht mal, was mich mehr schockiert: Dass Dad da ist oder die Sache mit der Polizei.

Tim läuft nur ungerührt weiter. „Klar, was denkst du denn? Du gehst nicht an dein Handy und Mom und Dad sind beide ganz außer sich vor Sorge. Ich glaube sie befürchten, du sitzt auf der Straße und pfeifst dir irgendwelche Drogen rein, und nicht, dass du an einem See schmollst."

Mit einem Kopfschütteln reiße ich mich selbst aus meiner Starre und beeile mich aufzuholen. „He, ich schmolle nicht!"

Ich boxe Tim gegen die Schulter und er schenkt mir ein spitzbübisches Grinsen. „Klar, wenn du dir das einreden willst."

Daraufhin verdrehe ich nur die Augen, doch zumindest ist die Panik in meiner Brust wieder abgeklungen. Gott, was wenn die Polizei vor unserer Haustür steht, wenn wir zurückkommen? Schnell ziehe ich mein Handy aus meiner Hosentasche und erschrecke, bei der Anzahl an Nachrichten und Anrufe, die mir angezeigt werden. Ein Großteil ist von Mom, die zunächst befiehlt, dass ich nach Hause kommen soll. Doch je weiter ich nach unten scrolle, desto emotionaler werden die Nachrichten. Sie fragt, wo ich bin. Ob es mir gut geht. Bittet zumindest um ein kurzes Lebenszeichen. Und dann sind da die entscheidenden Worte:

Mom: Es tut mir leid, May. Komm bitte nach Hause und lass uns über alles reden. Wir machen uns schreckliche Sorgen um dich.

Mein Hals wird eng und bevor ich es mir anders überlegen kann, tippe ich eine schnelle Antwort.

Ich: Tim und ich sind in einer halben Stunde zu Hause.

Ich schaffe es nicht, mich ebenfalls zu einer Entschuldigung zu überwinden. Noch ist da zu viel Wut in meinem Bauch. Doch ich will auch nicht, dass Mom sich solche Sorgen macht.

Danach werfe ich einen kurzen Blick auf die anderen Nachrichten. Dad hat mir ebenfalls geschrieben. Dass ich zu ihm kann, wenn ich Abstand von zu Hause brauche. Dass ich nicht einfach mitten in der Nacht weglaufen soll. Kurz will ich mich darüber aufregen, dass ausgerechnet er meint, mir etwas übers Weglaufen sagen zu wollen. Doch dann bleiben meine Augen an den letzten Zeilen hängen und alles andere ist vergessen.

Dad: Ich bin immer für dich da, egal was los ist. Keine Reisen mehr, keine Ausflüchte. Bitte gib mir noch eine Chance.

Ich würde gerne behaupten, es sind nur leere Worte. Dass mein Herz gar nicht erst so hochschlagen muss. Aber etwas tief in mir, weiß, dass dem nicht so ist. Ich will schon das Handy wieder einpacken, weil mein Hals gefährlich zusammengeschnürt ist, da fällt mein Blick auf einen dritten Namen.

Noah: May, sag mir bitte, wo du bist, und ich komme dich holen. Du musst mit niemandem reden. Wir können einfach im Auto sitzen, bis du so weit bist. Aber bitte sag mir, wo du bist.

Er hat mich bestimmt ein dutzend Mal angerufen, das letzte Mal vor nur wenigen Minuten. Hat er sich etwa auch Sorgen gemacht? Oder haben Mom und Dad ihn in die Sache mit reingezogen, in der Hoffnung ich würde meinem Jugendschwarm vielleicht eher antworten? Die zweite Möglichkeit schmerzt, weil mein bescheuertes Herz noch immer auf ein Happy End hofft. Dabei weiß ich es besser: Noah kann sich auch um mich Sorgen und meinen Eltern helfen wollen, ohne plötzlich in mich verliebt zu sein. Die Wahrheit fühlt sich viel zu erwachsen an. Denn Menschen küssen sich und mögen sich, ohne deswegen für immer zusammenzubleiben. Eltern trennen sich. Jugendschwärme gehen nicht in Erfüllung. Komm damit klar, May.

Mit einem tiefen Atemzug stecke ich das Handy weg und folge neben Tim dem Weg, bis wir an meinem Fahrrad ankommen. Daneben im Gras liegt auch Tims Fahrrad und als er dieses aufhebt, schaut er mich mit einem prüfenden Blick an. „Bereit?"

Ich tue es ihm gleich, auch wenn es sich verkehrt anfühlt, wie mein kleiner Bruder in die Rolle des verantwortungsvollen Erwachsenen schlüpft, während ich mich wie ein unvernünftiges Kleinkind fühle. So sollte das nicht sein. Also knüpfe ich an eine alte Tradition zwischen uns an, als ich mich auf meinen Sattel schwinge. „Klar. Wer als erstes am Waldrand ist!"

Und dann rase ich los, das empörte „He!" meines Bruders im Ohr. Doch er braucht nicht lang, um aufzuholen, und als wir Nase an Nase aus dem Waldstück heraus auf den Feldweg brechen, strahlt mein ganzes Gesicht, während das Brennen in meinen Lungen und die Euphorie des Wettrennens sich wie in den guten alten Zeiten anfühlt.

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