Tollpatschige Liebe

By Quzelkurt

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Shirin ist auf dem Weg einen neuen Abschnitt in ihrem Leben zu beginnen. Weg aus der Kleinstadt, welche man s... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49

Kapitel 33

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By Quzelkurt

Ich habe mich die gesamte Woche tapfer mit meinen Haaren geschlagen. Mich bringen die Blicke zwar immer noch ins Schwitzen, aber mich überkommt immer eine Woge der Erleichterung, wenn sie mir dann ein Kompliment machen. Gestern habe ich sogar die gute, alte Marianne getroffen, die ganz entzückt von meinen Locken war. Nach außen habe ich mich nur für das Kompliment bedankt, innerlich jedoch tausendfach für den Kuss im Gartencenter, der dank ihr und ihrer Freundin entstanden ist. Es war eine kleine Herausforderung, allein mit einem Kunden zu sein, aber auch das habe ich gemeistert und dieses Mal war es von mir gewollt, dass Miran nicht dabei ist. Er hatte sich zwar dagegen gewehrt, aber für mich ist es wichtig, jetzt zu wachsen. Ich begleite meinen älteren Kunden noch zum Aufzug und drehe mich dann grinsend zu Narin. "Die Kooperation steht!", grinse ich und hebe beide Daumen hoch. Sie lächelt breit, sodass ich ihr Zahnsteinchen auf ihrem linken Eckzahn sehen kann. "Wenn nicht du, wer dann? Ich will jetzt schon am liebsten Schluss machen." Heute findet unsere Pyjamaparty statt. Auch ich denke die ganze Zeit daran und habe fast mit meinem Kunden darüber gesprochen, als er mich gefragt hat, wie es mir geht. "Ich auch. Was wollen wir essen?" "Ich schaue gerade. Sushi oder doch etwas Frittiertes?" Ich spitze nachdenklich meine Lippen und trete beim Hören des Aufzuges zur Seite, der sich jetzt öffnet.

"Shirin, kommen Sie bitte mit." Mir wird ganz kalt, als ich mich verdutzt zu meinem Chef drehe, der an mir vorbeiläuft. Er wirkt so kühl ... das macht mich nervös. Ich schaue unsicher zu Narin, die mich mit angezogenen Augenbrauen betrachtet. Auch sie scheint keine Ahnung zu haben, was los ist. Daher gehe ich seiner Bitte nach und trete mit gesenktem Blick durch die Tür, die er aber netterweise für mich aufhält. Habe ich heute etwas Wichtiges vergessen? Unmöglich. "Hab' ich was falsch gemacht?", murmele ich leise, als er die Tür schließt. "Nein", erwidert er leise raunend. Meine angespannten Schultern fallen, als er seine Hand auf mein Kreuz legt. Ich habe also nichts Schlimmes getan. "Komm." Verwirrt bleibe ich dennoch den ganzen Weg über zu seinem Tisch. Mein Blick gleitet immer wieder zu ihm, bis ich von seinen Händen zu ihm gedreht werde und überraschenderweise seine Lippen auf meinen spüre. Im ersten Moment bin ich verdutzt, im zweiten erwidere ich, doch im dritten wird mir klar, dass wir auf der Arbeit sind. "Miran", murmele ich. "Es könnte jemand-," "Niemand kommt rein", unterbricht er mich fest und sicher. Seine Hände umschließen unterhalb meiner Ohren meinen Hinterkopf samt Locken. Mir bleibt keine Chance zu widersprechen bei seinen hungrigen Lippen. Die Wucht dahinter drückt mich auf seinen weichen Bürosessel.

Ich keuche erschreckt, doch das hält ihn nicht davon ab, über mich herzufallen. Es ist ein wunderschöner und intensiver Kuss, aber ich komme kaum hinterher. "Atempause", flüstere ich. Wenn ich weitermache, dann kippe ich um. Puh! Für sein Alter hat er noch echt gute Lungen. Wir atmen beide tief ein und aus - ich stärker als er. Seine Lippen sind ein wenig dunkel von meinem Lippenstift, daher winke ich ihn zu mir. "Du hast da Lippenstift", flüstere ich, als er sich vor mich hinhockt. "Dir steht es, auf meinem Stuhl zu sitzen." Hoffentlich haben wir uns nicht so laut geküsst, dass die anderen es gehört haben. "Ich muss aber wieder arbeiten." "Das Relevante hast du abgehakt. Vielen Dank für die Kooperation." Ich lächele verlegen, als ich seine Lippen von der Farbe befreie. Es freut mich immer sehr, wenn ich gelobt werde. Es füllt die kleine Lücke der Anerkennung für meine Mühe. Auch Miran lächelt zufrieden, als er meine Lippenränder für mich korrigiert. "Wenn du nichts mehr zu tun hast, dann geh nach Hause." "Ich möchte gleichzeitig mit Narin gehen. Sie übernachtet heute bei mir." "Das gesamte Wochenende?" "Ich hoffe doch." Wenn sie nicht kann, dann ist das auch okay, aber wenn sie bleiben möchte, dann können wir gemeinsam am Sonntag einen Fresh-Day machen. Wir können auch gemeinsam am Montag zur Arbeit.

"Wie steht es mit dem nächsten Wochenende?" "Aktuell habe ich nichts geplant, aber ich sollte dringend meine Familie wieder besuchen. Sie vermissen mich." Ich habe noch gestern vor dem Schlafengehen mit ihnen gesprochen. Vielleicht sollte ich meine Mutter schon einmal vorwarnen, dass ich einen Mann gefunden habe. "Das tue ich ebenso, Shirin. Du bist sehr seriös, was das Trennen deines Privat- und Arbeitslebens angeht." Ich plappere zwar viel mit den Kollegen über einige Erlebnisse, aber bis jetzt habe ich noch nie verraten, dass ich mit unserem Chef zusammen bin. Daher grinse ich stolz. "Betriebsgeheimnis." "Wahrlich." Miran dreht eine Locke über meiner Schulter. "Ich würde es meiner Mutter dieses Wochenende sagen." Daraufhin heben sich seine Augenbrauen überrascht. Warum? "Zu früh?", murmele ich unsicher. Bin ich zu aufdringlich? "Nein, das ist es nicht. Nur bin ich überrascht, weil du sonst so verschwiegen zu dem Thema bist." "Ja, aber ... das ist meine Mama." Miran schmunzelt bei meinem Argument. "Das stimmt. Dennoch dachte ich, dass du es erst deiner Freundin beichten wirst." Da ist was dran. Ich senke nachdenklich den Blick deshalb. Meine Gedanken überschlagen sich mit Pro und Kontra. Narins Aufgeschlossenheit gibt mir das Gefühl, dass sie sich freuen würde, aber was ist, wenn sie doch anders bei unserem Vorgesetzten denkt?

"Ja ... schon", murmele ich. "Zerbrich dir deshalb nicht den Kopf, Shirin." Er nimmt mein Gesicht in seine großen Hände, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. "Ich freue mich, dass du es deiner Mutter erzählen möchtest." "Also findest du es nicht zu schnell?" "Absolut nicht", versichert er mir. In seinen hellen Augen leuchtet Zufriedenheit. "Und die Hochzeit?" Und jetzt Überraschung. Mir wird ganz heiß deshalb. War das jetzt doch zu schnell? Mein Muttermal juckt schon alarmierend. "Willst du mich so schnell für dich haben?" "Du etwa nicht?", frage ich, als ich meine Nasenspitze kratze. Meine Gegenfrage scheint ihm zu gefallen, so wie er schmunzelt. "Ich muss anscheinend jetzt schon mit den Planungen beginnen." Doch sein Lächeln nimmt ab, als er den Blick auf meine Hände senkt. "Was ist?" "Wann fühlst du dich bereit, meine Eltern kennenlernen zu wollen?" Mir sollte eigentlich gar nicht so kalt werden bei der Frage, doch das unwohle Gefühl beruht einzig auf der Tatsache, dass ich auch seinen Vater kennenlernen muss. Ich halte inne, zu unfähig, eine Antwort anzusetzen. Was kann ich sagen, dass ihn nicht betrübt oder verunsichert? Und nicht seinen Vater beleidigt? "Wir ... wir können auch mit der Hochzeit noch ein wenig warten." Das war doch gut. Diskret und ohne eine Beleidigung.

Mirans Lippen zucken voller unterdrückter Belustigung. War es doch beleidigend? "Gut." Er drückt nachträglich meine Hände. "Vielleicht ist es auch nicht der richtige Ort für dieses Thema." Ich nicke. Am besten wäre es, wenn sein Vater nie davon mitbekommt. Vielleicht geht er ja mal in den Urlaub oder so. Oh Mann, ich hickse jetzt schon bei dem Gedanken, auf ihn treffen zu müssen. "Ich muss los. Ich muss noch später zur Apotheke." "Wieso?" Miran hält meine Hände, bis ich wieder am Stehen bin. "Brauche einen neuen Epipen. Der alte ist bald nicht mehr haltbar. Innerhalb der Woche bin ich nicht dazu gekommen, das Rezept einzulösen." "Warum sagst du mir nichts? Sowas geht vor, Shirin. Geh jetzt." Na gut. Miran begleitet mich noch zur Tür und reicht mir seine Kreditkarte. Das verstehe ich jetzt nicht und schaue ihn dementsprechend an. "Für die Gebühr." "Aber ich habe auch Geld." "Nimm, Shirin." Ich verziehe das Gesicht. Nicht so nah an der Tür! "Diskretion!", murre ich leise und drücke ihn zurück. Dass ich diejenige bin, die bei dem Druck eher nach hinten geschoben wird als er, ignoriere ich. Er hingegen schmunzelt darüber. "Gehen Sie arbeiten. Zeit ist Geld." "Natürlich, Shirin." Seine Hand nimmt meine, um sie zu küssen. Ich möchte weiterhin streng bleiben, daher presse ich meine Lippen aufeinander, damit er mein Lächeln nicht sieht. Er beeinflusst mich. Ich sage während der Arbeitszeit nämlich seinen Namen in meinen Gedanken. Das ist nicht gut.

Zu Hause bereite ich die letzten Sachen für die Pyjamaparty vor, während Narin ihre Sachen packt. Morgen gehen wir Shoppen und sie ist sehr begeistert von der Idee, am Sonntag mit mir meinen Fresh-Day zu machen. Das ist das erste Mal, dass eine Freundin ein gesamtes Wochenende bei mir bleibt und ich habe gerade meiner Mutter davon erzählt ... von Miran aber nicht. Nächste Woche! Heute war er sehr kurz-gierig. Jedes Mal, wenn er mich in sein Büro gerufen hat, dann hatte es gar nichts mit der Arbeit zu tun. Der Lümmel hat mich immer in eine Falle gelockt, um mich zu küssen! Für Narin habe ich auch eine Tüte mit Erdnüssen im Teigmantel gekauft, nur habe ich sie noch nicht geöffnet. Beim Einkauf habe ich die Tüte auch nur mit bedeckten Händen gekauft und jetzt wasche ich mir wieder die Hände, nachdem ich die Tüte auf den Tisch lege. Es klingelt schon! Perfekt! Ich renne zur Tür und warte aufgeregt auf Narin, die mich schon grinsend ansieht. Mein Herz pocht vor Freude. Mein Bauch kribbelt. Ich fühle mich so erfüllt, dass ich vor Freude wirklich weinen könnte. "Heute wird nicht geschlafen, Shirin." Ich nicke energisch, als ich zur Seite für sie trete. Mir ist alles recht. Bei der Euphorie in meinem Körper kommt Schlaf auch nicht infrage.

Narin kreischt erfreut beim Erblicken des Wohnzimmertisches. "Aber sind das keine Erdnüsse? Du bist doch allergisch dagegen." Sie dreht sich verwundert zu mir. Ich dagegen zucke nur mit meinen Schultern. "Für dich." "Ja, aber du reagierst doch extrem stark. Was ist, wenn nur kleine Partikel reichen?" "Ich setze mich weiter weg." Narin zieht verärgert die Augenbrauen zusammen. "Du bist du wahnsinnig? Ich esse das doch nicht in deiner Wohnung." "Aber ich habe sie für dich geholt." "Shirin ..." Sie lacht ergebend auf. Das erinnert mich an Miran. "Danke, aber ich bin nicht so asozial und gefährde deine Gesundheit. Ich nehme die dann mit, aber hier esse ich die ganz sicher nicht. Ich habe uns Sushi bestellt und uns Gesichtsmasken gekauft." Diese zeigt sie mir voller Stolz. Heilerde! Sehr gut. Ich liebe Heilerde. "Welchen Film sollen wir uns anschauen? Veer und Zaara oder vielleicht doch Om Shanti Om?" Narin grübelt, doch das Klingeln unterbricht uns. "Das Sushi ist da!", sagt sie. Besser kann es gar nicht laufen. Wir laufen gemeinsam zur Tür. Anscheinend hat Narin viel bestellt, dass sie mir folgt.

Ich öffne die Tür, doch beim Erblicken eisblauer Augen schreie ich schneller und lauter, als ich denken kann und schlage die Tür vor seiner Nase zu. Ist er wahnsinnig?! Was sucht er hier? Narin schaut mich erschreckt an. Gott, hat sie ihn gesehen? Weiß sie jetzt, was zwischen uns ist? Mein Herz rast. Ich kann nicht mehr denken. Was mache ich jetzt? "War das?", flüstert Narin und beugt sich zu mir vor. "War das unser Chef?" Meine Augen weiten sich. Sie hat ihn gesehen! "Ich weiß es nicht", flüstere ich zurück. "Was will er hier?" "Vielleicht arbeitet er nebenberuflich als Lieferant", erwidere ich verzweifelt. Meine Stimme bricht beim Flüstern. Ich kann das nicht mehr. Warum ist er hier? "Shirin." Gott! Warum sagt er meinen Namen? Und warum klopft er? Ich mache nicht auf. Das kann er vergessen! Ich schüttele vehement den Kopf. "Hast du dich heute mit ihm gestritten?", flüstert Narin wieder und es schüttelt sich weiterhin mein Kopf. "Shirin, öffnen Sie die Tür. Sie haben Ihr Medikament im Büro gelassen." Oh! Mein Epipen! Ich atme erleichtert durch. Mein Körper schleift sich die Tür hinab, bis ich auf den Boden plumpse. "Ich kann nicht mehr", murmele ich verzweifelt. Konnte er mir nicht schreiben? Oder mich anrufen?

Ich rappele mich langsam auf, schaffe es am Ende aber nur stabil auf den Knien zu bleiben und öffne langsam die Tür. Mein riesiger Chef steht vor mir und schaut mich irritiert an, wie ich auf Knien mit einer Hand die Tür und mit der anderen die Zarge festhalte. "Ist alles in Ordnung?" Bitte. Sprich nicht so viel. Ich nicke nur. Mein Hickser spricht für mich. Seine Augen gleiten an mir vorbei zu Narin und zurück zu mir. "Hier." Er überreicht mir die Apothekentüte. "Ich hätte ihn auch Montag abholen können. Dafür hätten Sie nicht hier hinfahren müssen." "Sie leiden an Anaphylaxie. Da zählt jede Sekunde." Innerlich murre ich. Er soll aufhören, mit mir zu diskutieren, wenn Narin hinter uns ist! Ein wenig mehr Diskretion! "Dankeschön", hickse ich. So werde ich ihn schneller los. Ich höre weitere Schritte im Treppenhaus und sehe dann den eigentlichen Lieferanten, der ahnungslos durch den Flur guckt und uns anscheinend sucht. Ist heute Tag der offenen Tür oder warum können alle rein, ohne unten zu klingeln? Wie hat Miran es überhaupt geschafft? "Bestellung für Shirin Din?" Sein Blick fällt verwirrt auf mich. Er könnte ein Student oder Schüler sein, so jung ist er. "Ja." Ich hickse nachträglich und das so laut, dass es im Hausflur widerhallt.

Mein Blick senkt sich peinlich berührt, als sich der Lieferant näher zu uns stellt und Narin die Bestellung entgegennimmt. Ich sehe im Augenwinkel, dass Miran sein Portmonee zückt und greife deshalb nach seiner Anzughose. "Die Bestellung wurde schon gezahlt", sagt Narin dann und ich lasse von ihm ab. "Schönen Tag noch." Wahrscheinlich wird der Lieferant auf der Arbeit erzählen, dass irgendeine komische Frau auf dem Boden lag und nur am Hicksen war, als er die Bestellung ausgeliefert hat. Diese Stille macht mich fix und fertig. Mein hallendes Hicksen macht es kein Stück besser. "Sind Sie fertig, Herr Chef?", murmele ich ergebend. Ich trinke auch eine Tasse bitteren, widerlichen, seelenlosen Kaffee, wenn er jetzt geht und nie wiederkommt. "Bin ich, Shirin. Wollen Sie nicht langsam aufstehen? Geht es Ihnen nicht gut?" "Nein", erwidere ich leiser. Ich stehe nicht auf und wende den Blick nicht von seinen Lackschuhen ab, bis er geht. Nur Gott weiß, was passiert, wenn ich ihm in die Augen sehe. Das kann ich gerade nicht riskieren.

Aber was macht er da?! Er kann mich vor seiner Mitarbeiterin doch nicht einfach so indiskret an den Unterarmen greifen und mir hochhelfen! Ich schaue ihn mit aufgerissenen Augen an. Das wird er bereuen. Am Montag hat er Zucker in seinem Kaffee, darauf kann er Gift nehmen! "Danke, geht schon", kommt es pampig von mir. Ich bin zu nervös. Meine Hände zittern schon. Das ist alles zu viel für mich. Mein Hicksen hört nicht auf. Erst jetzt spüre ich den geschwollenen Striemen auf meiner Nase, die sicherlich durch das unbewusste Kratzen rot ist. Wenn ich diesen hübschen Mann noch eine Minute länger ertragen muss, dann lande ich höchstwahrscheinlich im Krankenhaus. Ob durch einen gefährlich hohen Blutdruck oder durch einen tollpatschigen Unfall kann ich nicht sagen. Er muss aber weg. Jetzt. "Tschüss", ist das Letzte, was ich von mir gebe, ehe ich die Tür vor seiner Nase zuknalle. Hat Narin verstanden, dass wir ein Paar sind? Ich traue mich kaum, mich zu ihr zu drehen. Erst, als sie prustet, schaue ich zu ihr. Sie kann sich gar nicht mehr halten und schreit sogar, weil sie es lustig findet. So lustig, dass ihre Stimme einer alten, pfeifenden Teekanne ähnelt. Narin läuft schon rot an, weil sie sich kaum beruhigen kann und ist nun diejenige, die langsam zu Boden gleitet. Ein Glück hat sie die Alu-Verpackungen schon abgelegt.

"Shirin!", keucht sie atemlos. "Was war das? Ich kann nicht mehr!" Ich kann auch nicht mehr, aber du sicherlich auf eine andere Art und Weise. Das Beste, was ich in dieser Lage tun kann, ist es zu fliehen. Daher nehme ich die gesamte Bestellung an mich und trotte meinen Schandweg ins Wohnzimmer, während Narin immer noch im Flur liegt und sich nicht von ihrem Lachanfall erholen kann. Ich sehe auch jetzt erst die ganzen Nachrichten, die Miran mir gesendet hat. Er hat mich sogar viermal angerufen!

'Shirin, du hast deinen Epipen vergessen.'

'Bist du schon am Fahren?'

'Ist Narin schon bei dir?'

'Shirin, wenn du nicht antwortest, bringe ich ihn dir.'

'Ich will keinen Allergieschock riskieren.'

'Bis gleich.'

Ich seufze, als ich mein Handy wieder sperre. Passend dazu scheint auch Narin sich endlich erholt zu haben und sich zu mir gesellen zu wollen. "Das war mein Highlight der Woche, Shirin. Ich dachte einen Moment, ein Mörder steht vor der Tür." Ich werde zur Mörderin mutieren, wenn das jemals wieder vorkommen sollte. Ich summe nur wenig begeistert, als ich mich hinsetze und die Verpackungen öffne. Hoffentlich bemerkt sie das Zittern meiner Finger nicht. "Welchen Film sollen wir schauen?" "Lass uns erst etwas quatschen. Gerade habe ich nicht so viel Lust auf einen Film." Das macht es nicht gerade besser. Dann muss ich mich eben mit Sushi vollstopfen und hoffen, dass ich es durch meine Hickser nicht wieder ausspucke. "Hast du schon einen Mann kennengelernt?", nuschele ich mit vollem Mund. "Nein, ich habe da zu viel Pech. Wie geht es Guacamole?" Warum habe ich auch dieses Thema gewählt? "Ganz gut. Viel zu tun." Ich kaue mit sehr viel Bedacht jedes einzelne Reismolekül, bevor ich mein Stück runterschlucke. "Ich will ihn endlich kennenlernen", schmollt sie. Hast du schon, Narin. "Aktuell ist es ganz schlecht. Es stehen viele Kooperationen und eine Fusion an." Ich habe absolut keine Ahnung, was ich da gerade sage. Ich hoffe bloß, dass Narin still ist und das Thema wechselt. "Also trefft ihr euch aktuell nicht?" Ich verneine es und sie seufzt betrübt, bevor sie schmollt.

"Schreibt ihr?" Auch das verneine ich. "Ich finde das nicht so gut." "Er hat halt keine Zeit." Miran nimmt sich immer Zeit für mich. "Ja, aber Zeit hat man nicht. Zeit nimmt man sich." Da hat sie recht. Er hat sich die Zeit genommen, mir mein Medikament zu bringen. Ich nehme mir eine Frühlingsrolle, bevor ich meine Frage ansetze. "Wie stehst du dazu, wenn jemand ein Verhältnis mit dem Vorgesetzten hat?" Daraufhin zieht sie hysterisch die Luft ein und mein Herz setzt aus. Ich habe mich verraten. "Du kennst die Geschichte ja gar nicht! Vor einem Jahr hatten wir eine Praktikantin, die versucht hat, sich an den Chef ranzumachen. Shirin, sie hat alles versucht, um seine Aufmerksamkeit zu kriegen. Das war ein Förderungsprojekt, was Miran angenommen hatte und danach hat er es auch wieder beendet." Sie prustet. Ich hingegen kann nur verlegen lachen. Das bestärkt mich absolut nicht. Warum stelle ich auch immer die dümmsten Fragen? "Wie lange war sie denn da?" "Eigentlich sollte sie ein Jahr bleiben, aber durch die Vorfälle blieb sie nur fünf Monate. Sie war sicherlich selbst froh, weg zu sein." "Mhm", summe ich leise. "Scheint wohl nichts Gutes zu sein, wenn man mit dem Chef zusammenkommt." "Also ich verstehe ihr Ziel", setzt Narin dann an. "Aber oft geht es einfach in die Hose und meistens mischen sich dann die anderen ein und zerstören das Leben der Frau. Lieber einen Chef aus einem anderen Abteil oder einer anderen Firma." Hm.

Ich lasse Narin den aktiven Teil der Unterhaltung. Ich stresse mich innerlich zu sehr, um energiegeladen mitzureden. Gleichzeitig habe ich aber auch die Sorge, dass es ihr deshalb hier nicht gefällt. Ich hätte die Frage niemals stellen dürfen. Oft kann ich lachen, aber beim Schauen von Om Shanti Om schweife ich ab. Wenn heute jemand bemerkt hätte, dass Miran mich immer zu sich gerufen hat, um sich einen Kuss abzuholen, dann hätten sie mich wie die Praktikantin abgestempelt. Meine Lippen zucken missmutig. Ich muss das mit Miran besprechen, sonst platze ich. Weil ich jetzt schon keine Geduld habe, nehme ich mir mein Handy zur Hand und schreibe ihm heimlich.

'Miran.' Er kommt sofort online.

'Ja, Shirin?'

'Ich muss dringend mit dir sprechen.'

'Ist Narin gegangen?'

'Nein. Am Montag muss ich spätestens die Sorgen bei dir ablassen.'

'Hat Narin irgendetwas gesagt? Was ist passiert?' Die Frage schafft es immer wieder, für Tränen in meinen Augen zu sorgen.

'Ich mache mir Sorgen.'

'Ich bin immer für dich da, Shirin.'

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