F*ck Growing up

By 07nia11

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May will nichts lieber, als ihr letztes Schuljahr richtig mit ihren Freunden zu genießen. Das gestaltet sich... More

Playlist
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Danksagung

Kapitel 6

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By 07nia11


Ich ignoriere alles was mit Noah zu tun hat, als ich am Sonntag aufstehe. Was auch gar nicht so schwierig ist, immerhin gibt es genug andere Probleme, mit denen ich mich beschäftigen kann. Zum Beispiel mein vermasselter Mathetest, den ich Mom letztendlich beichten muss, als sie mich am Frühstückstisch direkt darauf anspricht.

Die Reaktion fällt wie erwartet aus. Ihr freundliches Lächeln wird zu einem strengen Blick und die restliche Zeit darf ich mit ihr aufarbeiten, was in dem Test schief gelaufen ist. Meine Ausrede, dass der Taschenrechner einen Zahlendreher gehabt haben muss, bringt sie leider nicht zum Lachen. Stattdessen werde ich mit einem rügenden „May" zur Ordnung gerufen und muss genau erzählen, wo meine Fehler lagen. Das fühlt sich ungefähr so gut an wie eine Wurzelbehandlung und am Ende zweifle ich an meinem allgemeinen Matheverständnis. Früher hätte sich Dad eingemischt und Mom in ihrer Tirade über die Wichtigkeit der Schule unterbrochen. Er hätte ihr eine Hand auf den Arm gelegt und ganz ruhig angeboten, dass er sich heute Mittag etwas Zeit nimmt und sich zusammen mit mir die Aufgaben anschaut. Er war quasi seit der vierten Klasse mein persönlicher Mathenachhilfelehrer und auch wenn das Letzte was ich will ist, ihn zu vermissen oder gar zu brauchen, merke ich ein beklemmendes Engegefühl in meinem Hals, während ich mein Brötchen runterwürge.

Aber jemand, der seine Familie für etwas Spaß aufgibt, hat keine Trauer verdient und so setze ich jedem traurigen Gedanken einen wütenden entgegen, bis ich Zähne knirschend hoch in mein Zimmer stapfe und mich an den Schreibtisch setze. Ich werde dieses Zeug schon irgendwie verstehen, auch ohne Dad. Ohne seine geduldige Art, während er mir alles nochmal von vorne erklärt, oder sein leises Räusperern, um mich auf einen Fehler beim Rechnen aufmerksam zu machen, damit ich ihn selbst finden kann, anstatt Mal wieder eine Aufgabe falsch zu haben.

Ich brauche ihn nicht, auch nicht als ich zwei Stunden später wütend meinen Stift durchs Zimmer pfeffere und mich mit brennenden Augen ins Bett fallen lasse, um nicht mehr die zig durchgestrichenen Rechenwege auf dem Arbeitsblatt zu sehen. Für was braucht man schon Mathe? Ich kann addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Das reicht, um durchs Leben zu kommen, zumal es heutzutage doch eh Handys mit Rechenfunktion gibt. Aber Vektoren und Matrizen? Ich habe nicht vor, einen Job zu verfolgen, wo so ein Mist relevant ist. Da werde ich lieber Putzkraft.

Ich ignoriere das Brennen in meinen Augen, als ich mich auf die Seite wälze und mein Handy entsperre.

Ich: Lust auf einen Eiskaffee?

Evas Antwort lässt kaum eine Minute auf sich warten.

Eva: Ähm... immer!

Mit einem Lächeln richte ich mich auf und schicke ihr den Screenshot von einer Verbindung, mit der ich zu ihr fahren kann. Ihren Daumen nach oben warte ich erst gar nicht ab, sondern suche mir eine zerrissene Jeans zusammen mit einem weißen kurzgeschnittenen Top aus meinem Kleiderschrank heraus. Dazu meine Sonnenbrille und eine kleine schwarze Tasche und schon bin ich auf dem Weg nach unten, ohne einen weiteren Blick auf meinen Schreibtisch zu werfen.

Aus dem Wohnzimmer ist meine Mom zu hören, wie sie mit jemandem telefoniert, was in mir die Hoffnung weckt, ihr nicht großartig erklären zu müssen, wo ich hin will. Allerdings hat meine Mom einen sechsten Sinn wenn es um Heimlichtuereien geht, auch wenn ich so lässig wie möglich zur Haustür laufe.

„May? Wo gehst du hin?"

Fast am Wohnzimmer vorbei, stoppe ich mitten im Schritt und verkneife mir ein genervtes Stöhnen. Als ich mich umdrehe, ziert ein nettes Lächeln mein Gesicht.

„Ich treffe mich mit Eva auf einen Eiskaffee."

Eine Hand auf dem Hörer, um ihren Gesprächspartner nicht mit diesem unnötigen Mutter-Tochter-Gespräch zu behelligen, kommt Mom auf mich zu und lehnt sich an den Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Diele.

„Bist du denn durch mit deinen Schulsachen? Ich hoffe, du hast dich nochmal mit Mathe auseinandergesetzt."

Ich weiß nicht genau, was mich mit einem Mal so auf die Palme bringt. Moms Lehrerblick, der Gedanke an die zig durchgestrichenen Blätter oben in meinem Zimmer oder dass ich einfach nur meine Ruhe und Freiheit haben will. Aber die Wut wallt in mir hoch, bevor ich es bemerken oder etwas dagegen tun kann.

„Mom! Es ist Sonntag, gönn' mir doch zumindest etwas Zeit mit meinen Freunden. Und wenn ich durch Mathe durchfalle, ist doch auch egal! Wer braucht schon diesen Scheiß? Im Notfall wandere ich einfach wie Dad aus und lebe in einer kleinen Hütte direkt am Strand, während ich mich von Kokosnüssen und Liebe ernähre."

Ich sehe wie Mom zusammenzuckt, weiß, dass mein letzter Kommentar nicht fair war. Eher, als würde ich in einer offenen Wunde herumstochern. Aber es ist mir egal. Ich schlüpfe einfach in meine Schuhe und schmeiße die Haustür hinter mir zu.

Wieso muss sie alles kontrollieren wollen? Mom beschwert sich doch immer, zu wenig Zeit für sich zu haben. Dann soll sie sich einfach nicht mehr in meine Angelegenheiten einmischen! Reicht ja wohl, dass ich ständig für die Familie koche, wasche und was sonst noch alles anfällt. Es ist wie Noah es gesagt hat: Wer eigenverantwortlich ist, darf auch machen was er will. Und ich will einen Eiskaffee mit meiner besten Freundin trinken.

Als ich an der Bushaltestelle angekommen bin, ziert meine Stirn noch immer tiefe Falten, so grimmig schaue ich. Über meine Kopfhörer Linkin Park anzumachen, hilft dabei auch nicht unbedingt. Aber es ist verdammt befriedigend jeden einfach zu Boden zu starren, der meint,, mich schief anschauen zu müssen.

Erst als ich vor Evas Haus stehe, zwinge ich mich, tief durchzuatmen und schüttle einmal meine Hände aus, um die Anspannung loszuwerden. Sie wird mir trotzdem direkt ansehen, dass etwas nicht stimmt, aber ich bemühe mich um ein sorgloses Lächeln, als sie auf meine Nachricht hin herauskommt. In ihrem luftigen Sommerkleid, der großen Sonnenbrille auf der Nase und ihren honigblonden Locken sieht sie wie einem Film entsprungen aus. Und ich neben ihr wahrscheinlich wie die miesmuffelige beste Freundin. Was ich wohl auch irgendwie bin.

Durch den Gedanken kommt das Lächeln auf meinem Gesicht ins Wanken und Eva, die wie ein Sonnenschein strahlt, runzelt besorgt die Stirn.

„Was ist los, May?"

Ich habe gar keine Zeit für eine Antwort, da liegt mir Eva auch schon um den Hals und bringt mich mit ihrer Überschwinglichkeit zum Lachen. Das ist Evas besondere Fähigkeit: Egal, wie es mir geht, eine Minute mit ihr und ich kann nicht anders als Lächeln.

„Alles gut, einfach etwas... genervt gewesen."

Eva lässt mich los und nachdem sie mich eine Sekunde kritisch mustert, beschließt sie, mir meine Ausrede abzunehmen. „Das schreit nach doppelt Sahne auf dem Eiskaffee. Komm mit! Ich brauche meine tägliche Dosis Zucker."

Lachend lasse ich mich an der Hand mitziehen, obwohl ich den Weg zu unserem Stamm-Eiscafé durchaus selbst kenne. Jeden Sommer verschlägt es uns dort hin, ungeachtet der steigenden Preise.

„Von deinem gestrigen Elend scheinst du dich ja gut erholt zu haben."

Als Eva stöhnend den Kopf in den Nacken legt, grinse ich etwas schadenfroh.

„Gott, erinnere mich nicht daran. Weißt du, wie schwer es war, mich vor meinen Eltern normal zu verhalten? Dabei hab ich es am Essenstisch kaum ein paar Minuten ausgehalten, ohne dass mir speiübel wurde."

„Selbst Schuld, kleine Suffnase."

Evas herausgestreckte Zunge kontere ich mit einem weiteren Grinsen, als wir um die letzte Ecke biegen und uns auf dem kleinen Marktplatz den letzten Platz unter einem Sonnenschirm schnappen. Die Eiskarten liegen bereits auf dem Tisch, aber ich muss gar nicht reinschauen, um zu wissen was ich will. Wir bestellen schon seit Jahren das Gleiche. Umso auffälliger ist es, als Eva beginnt an der Karte herumzunesteln.

„Du, wegen Freitagabend wollte ich mich auch noch entschuldigen. Ich erinnere mich nur wage, aber das sagt wahrscheinlich schon genug über meinen Zustand aus."

Eva weicht meinem Blick aus und sollte ich ihr jemals deswegen böse gewesen sein, ist es damit vergessen. Also lehne ich mich nur zurück und winke lässig ab.

„Mach dir keinen Kopf. Es war schon spektakulär, wie du meinen ehemaligen Nachbarn erst damit begrüßt, dass ich in ihn verknallt war, und uns dann eine Sekunde später vor die Füße kotzt."

Evas Wangen leuchten wie eine Ampel, als sie mich schockiert anschaut.

„Oh Gott, das ist wirklich passiert? Ich habe gehofft, ich hätte es nur geträumt."

Für einen Moment schauen wir uns beide an, während wohl die gleiche Szene vor unserem inneren Auge abläuft. Dann brechen wir beide in schallendes Gelächter aus, bis wir uns den Bauch vor Schmerzen halten.

„Oh Mann, es tut mir wirklich leid, MayMay. Aber ich verspreche dir, Gott hat mich gestern mit dem schlimmsten Kater meines Lebens bestraft." Eva wischt sich Lachtränen aus den Augen und wirft dem verschrecken Kellner ein Lächeln zu, damit wir bestellen können.

Als wir wieder für uns sind, winke ich erneut ab.

„Ich glaube, ich habe mir betrunken auch schon genug geleistet, dass wir quitt sind." Besonders vor einem halben Jahr, als bei uns zu Hause noch Amaggedon herrschte und ich alles dafür getan habe, ein paar Stunden einfach zu vergessen. Aber so wie ich Eva keine Vorwürfe mache, stehen auch in ihren Augen keine, als sie einverstanden nickt.

„Okay, dann lass uns jetzt zu den wichtigen Sachen kommen." Verschwörerisch lehnt sich Eva über den Tisch zu mir. „Noah ist also wieder in der Stadt. Sieht er immer noch so süß aus? Ich kann mich nur noch an ein verschwommenes Gesicht erinnern."

Sofort steigt ein Bild von Noah in mir auf und ob ich es will oder nicht, mein Herz legt einen Schlag zu.

„So wie früher." Nur erwachsener und noch attraktiver. Aber das lasse ich lieber weg und zucke mit den Schultern. Allerdings wäre Eva wohl kaum meine beste Freundin, wenn sie mich nicht durchschauen würde. Sie verdreht theatralisch die Augen und zückt ihr Handy.

„Na gut, wenn du mit keinen Details rausrücken willst, muss ich wohl meine Stalker-Fähigkeiten reaktivieren."

Ich sehe noch, wie sie Instagram öffnet, dann wird das Handy in sicherer Entfernung zu mir gehalten, weil ich es versuche ihr zu entreißen.

„Oh Gott, lass das! Eva!"

Aber ich bin absolut machtlos, als sie nach Noahs Profil sucht, außer ich will über den Tisch springen und sie mit Gewalt davon abhalten. Bei jemand anderem hätte ich vielleicht gehofft, dass sie das Profil nicht findet. Aber Eva ist so etwas wie ein Insta-Detektiv: Sie findet immer einen Weg, an die Info zu kommen, die sie will. Dieses Mal geschieht es über einen alten Klassenkameraden von Noah, dem sie folgt. Ein Klick auf dessen Follower, kurze Suche nach Noahs Namen und sie streckt mir mit einem Siegerlächeln ihr Handy unter die Nase.

„So wie früher also? Ich würde sagen, da sind zehn Kilo Muskelmasse dazu gekommen. Und Stil hat der Schnuckel ja auch..."

Abgelenkt verklingt Evas Stimme, während sie durch Noahs Beiträge scrollt, weshalb ihr wohl entgeht, wie ich mit einem verzweifelten Stöhnen die Hände vors Gesicht schlage. Allerdings auch nur, um eine Sekunde später durch meine Finger zu spähen und ebenfalls die Bilder zu betrachten. Wieso ist sein Account nicht privat und erspart mir diese Qual? Wahrscheinlich weil er nicht verstecken muss, wie er mit dem Meer im Hintergrund und einer Sonnenbrille auf der Nase in die Kamera grinst. Seine Locken sind vom Wind leicht verstrubbelt und die untergehende Sonne zeichnet das Bild weicher. Ich kann mir gut vorstellen, wie er mit seinen Kumpels am Strand sitzt, ein Bier trinkt und ...

"Ich folge ihm."

„Was? Nein!" Mein erschrockener Ausruf kommt zu spät. Eva hat schon den Folge-Button gedrückt und ich will augenblicklich im Boden versinken. Sie wiederum schaut sich unbekümmert seinen neusten Beitrag an und ignoriert mein Elend.

„Oh Mann, ich steh auf ältere Männer. Die drei Jahre, seitdem ich ihn nicht mehr gesehen habe, sind ihm zu Gute gekommen. Schade, dass ich nichts mehr von Freitag weiß. Er hätte mir den Abend versüßt. Weißt du wie lange er hier ist? Oh, oder bist du ihm vielleicht nochmal über den Weg gelaufen?"

Wir müssen einen witzigen Anblick bieten, als der Kellner uns die Eiscafés bringt. Ich, die Hände in meine Haare gekrallt und voller Einsetzen im Gesicht. Und Eva, die fröhlich vor sich hinplappert. Aber er besitzt die Manieren, nichts weiter dazu zu sagen und nach einem Schluck vom süßen Kühl, habe ich zumindest meine Stimme wiedergefunden.

„Ich hasse dich."

Mein Tonfall ist ernst, aber Eva weiß, dass ich sie niemals hassen könnte.

„Nein, du liebst mich", zwitschert sie und hält mir ihren Zeigefinger vorwurfsvoll unter die Nase. „Und jetzt sag: Hast du ihn nochmal gesehen?"

Mit einem Seufzen ergebe ich mich und lasse mich im Stuhl nach hinten sinken. Gegen Evas Inquisition kommt man nicht an.

„Ja, unsere Eltern haben gestern ein gemeinsames Essen veranstaltet." Ich ignoriere den Stich in meiner Brust, als mir klar wird, dass für unsere Eltern eigentlich mein Vater gefehlt hat.

„Und?" fragt Eva ungeduldig, als ich danach stumm bleibe. Ihre Augen glitzern erwartungsvoll, aber leider muss ich sie mit meiner Antwort enttäuschen.

„Es war schräg. Erst hat er mich ignoriert und mich dann wie eine fünfjährige behandelt. Die Jahre haben ihm vielleicht äußerlich gut getan, aber innerlich bin ich mir da noch nicht ganz so sicher."

Ich verziehe das Gesicht, als ich an das darauffolgende Gespräch auf dem Balkon denke. Er ist nicht mehr der Noah von früher, den ich in- und auswendig kannte. Das sollte ich nicht vergessen.

„Oder er war viel zu überrumpelt davon, wie hübsch und erwachsen du geworden bist, und wusste deswegen nicht, wie sich zu verhalten." Eva seufzt verträumt und ich schnaube belustigt.

„Du hast zu viele Liebesfilme gesehen."

„Nein", mit einem Grinsen nimmt Eva einen Schluck Eiscafé. „Ich bin nur eine Romantikerin und das hört sich nach dem Beginn einer tollen Liebesgeschichte an."

Ich verdrehe die Augen, unterlasse aber jeden Versuch des Widerspruchs. Das würde sie nur noch mehr in ihrer Meinung bestärken. Stattdessen lümmle ich mich gemütlich hin und genieße den Sommertag mit meiner besten Freundin, bevor ich mich abends meiner Mom stellen muss.

Sie sitzt immer noch im Wohnzimmer, als ich zurückkomme und dieses Mal schließe ich so sanft wie möglich die Haustür hinter mir. In dem Versuch, meinen Ausraster von vorhin wieder gut zu machen, oder in der Hoffnung, sie könne mich nicht bemerken, weiß ich selbst nicht so genau.

Beides funktioniert jedenfalls nicht. So viel ist klar, als meine Mom mir direkt entgegenschaut und ich mich ohne ein Wort aufs andere Ende des Sofas fallen lasse. Sie sieht angespannt und müde aus und ich fühle mich schrecklich deswegen. Sie hat morgen Frühschicht, was bedeutet, sie würde normalerweise schon längst im Bett liegen. Ich bin also Mal wieder eine Bürde.

„Hast du dich wieder beruhigt?"

Moms Tonfall ist kalt und es ist klar, dass sie nicht versteht, weshalb ich mich aufgeregt habe. Oder gar nachzuvollziehen versucht, wie es mir geht. Die patzige Entgegnung liegt mir sofort auf der Zunge, aber ich schlucke sie mühevoll herunter und versuche den Tumult in mir zu ignorieren, der sofort wieder einsetzt. Stattdessen nicke ich nur einmal abgehakt und halte den Blick knapp an Moms Gesicht vorbei gerichtet. Das ist leichter, als sie direkt anzuschauen.

Das schwerwiegende Seufzen lässt sich trotzdem nicht überhören, als sie sich herüberbeugt und eine Hand auf mein Bein legt.

„Ich habe in deinem Zimmer gesehen, dass du dich nochmal an den Aufgaben versucht hast. Ich bin stolz auf dich mein Schatz, dass du dich so reinhängst."

Schon komisch, wie zwei Sätze so viel widersprüchliche Empfindungen in mir auslösen können. Empören, was sie in meinem Zimmer zu suchen hatte. So etwas wie Freude, über ihr Lob. Und dann Verdruss, weil wir beide wissen, dass es wirklich nicht mehr als ein Versuch war.

„Ich weiß, Mathe ist nicht dein Lieblingsfach. Das hast du wohl von mir." Moms aufmunterndes Lächeln fällt eher wackelig aus. „Und ich würde dir wirklich gern Hilfe zukommen lassen, dir Nachhilfe bezahlen oder so. Aber..." Der Laut mit dem Mom sich in die Polster zurückfallen lässt schwebt zwischen Seufzen und Stöhnen und lässt mir alle Haare zu Berge stehen, so gequält klingt er.

„Um ehrlich zu sein, sieht es momentan finanziell nicht gut aus. Die Scheidung kostet noch mehr als ich gedacht habe und auch mit den Unterhaltszahlungen und meinem Gehalt ist das Haus..."

Mom unterbricht sich selbst mit einer wegwerfenden Handbewegung, trotzdem ist mir das Herz bereits in die Hose gerutscht. Was ist mit dem Haus? Müssen wir ausziehen? Ich kenne nichts anderes als Zuhause und der Gedanke das zu verlieren, ist wie den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen.

„Das sind Dinge, über die du dir keine Gedanken machen musst." Moms Lächeln ist tapfer, aber der Schaden ist bereits angerichtet. Ich schlucke trocken, nicke ihr zur Liebe und wünsche, mich einfach in mein Zimmer zurückziehen zu können. Aber Mom ist noch nicht fertig und ich bringe kein Wort raus, also sitze ich es einfach aus.

„Ich weiß, es ist bestimmt schwer für dich ohne... Matthias." Dads Name kommt ihr so schwer über die Lippen, als wäre er Voldemort und wir in einer verrückten Zauberwelt gefangen. Ich sinke noch etwas tiefer ins Sofa ein. „Aber vielleicht hast du ja eine Freundin, die dir helfen kann?"

Moms Blick ist hoffnungsvoll, als wäre mit meinen Matheproblemen auch alles andere aus der Welt geschaffen. Als hätte sie mir gerade nicht indirekt gestanden, dass wir eventuell das Haus verlieren. Als wäre Dad nicht der Bösewicht in ihrem Leben. Als hätte ich nicht das Gefühl, keine Luft zu bekommen, wenn ich noch länger hier sitzen bleibe. Die Hände ineinander gekrallt nicke ich erneut.

Erleichtert seufzt Mom und ein Teil der Anspannung fällt von ihr ab. „Dann lade sie doch für kommende Woche ein und ich spendiere euch ein Eis. Hört sich das gut an?"

Wunderbar. Als könne man damit den Klimawandel verhindern und eine Tierart vorm Aussterben retten. Doch die sarkastischen Worte schaffen es nicht durch meinen zugeschnürten Hals und letztendlich bin ich einfach nur froh, als Mom mich mit einem „Gute Nacht" entlässt. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und fliege geradezu die Treppen hoch, bis ich mich mit einer Mischung aus Wimmern und Schluchzen von innen an meine Zimmertür lehnen kann.

Die Augen geschlossen, drücke ich die Handballen auf meine Lider, um das Brennen dahinter zu unterdrücken. Ich will nicht weinen oder mich wie eine Ertrinkende fühlen. Trotzdem kommen meine Armenzüge nur rasselnd.

Keine Ahnung, weshalb der Gedanke hier auszuziehen, so erschütternd ist. Eigentlich habe ich gedacht, nach der Enthüllung, dass mein Vater meine Mutter betrogen hat, wäre ich abgehärtet. Aber gerade fühle ich mich eher puddingweich, wenn ich mir vorstelle, nie wieder die Straße langzulaufen oder im Garten ein Buch zu lesen. Dann gibt es nichts mehr, zu dem ich nach Hause kommen kann. Oder zu dem Dad nach Hause kommen kann.

Die Erkenntnis trifft mich im tiefsten Inneren und ich kann nichts mehr gegen die heißen Tränen tun, die mir über die Wangen laufen. Stumme Schluchzer erschüttern mich, doch ich bleibe einfach weiter dastehen - die Hände auf die Augen gepresst, im Rücken die Tür – als würde mein Zusammenbruch nicht existieren, solange ich mich nicht bewege.

Wie dumm und lächerlich zu glauben, dass Dad zurückkehren würde. Als könnte das Haus uns zusammenhalten, auch wenn alles andere zerbrochen ist. Ich fühle mich wie ein kleines naives Kind und die Wut auf mich selbst hilft dabei, nach ein paar Minuten die Tränen versiegen zu lassen.

Mit tiefen Atemzügen warte ich, bis sie nicht mehr zittrig sind und als ich die Hände fallen lasse, fühle ich mich wie innerlich überfahren. Ich will einfach nur in mein Bett und mich vor allem verstecken.

Stattdessen fällt mein Blick raus aus dem Fenster und ich zucke heftig zusammen, als ich die Gestalt auf dem gegenüberliegenden Balkon entdecke. In der Dämmerung sind nur Schemen zu erkennen, trotzdem weiß ich, wer es ist. Noahs Blick geht mir unter die Haut und während mir abwechselnd warm und kalt wird, setzt mein Gehirn aus. Ohnd darüber nachzudenken, wie lächerlich ich wirken muss, haste ich zum Rollladen und lasse ihn ratternd runter.

Aber das Gefühl seines wissenden Blicks verschwindet trotzdem nicht.

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