Die Verlierer - Herz aus Beton

By traumjaegerin

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[TEIL 3] Jay gehört die Unterwelt. Von der Siedlung über die Bahntrassen bis zum Görli, dort, wo sich die Dea... More

1 | Meine Welt, meine Regeln
2 | Saufen in Theorie und Praxis
3 | Farbe auf das Elend
4 | Todesmut oder Idealismus
5 | Unser süßes Geheimnis
6 | Die Welt ist käuflich
7 | Tote Augen, tote Seelen
8 | Spielplatzabende
9 | Flaschenpost ohne Message
10 | Scherben und Alkohol
11 | Kontrollverlust
12 | Eklige Idylle
14 | Du lügst mich nicht an
15 | Kein Grund nüchtern zu bleiben
16 | Welt in Scherben
17 | Viel zu viel Blut
Triggerwarnung

13 | Sicherheit

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By traumjaegerin


Irgendwann fuhren wir wieder auf die Autobahn, dann über die Grenze nach Deutschland. Die Fahrt verlief schweigend, die Luft war stickig vom Rauch unserer Zigaretten und wir sprachen nur das nötigste. Hin und wieder »Fährse raus, ich muss pissen« oder »Lass mal zur nächsten Tanke, wird Zeit fürn Energy.« Bald hatten wir uns auch von den anderen getrennt, jeder fuhr seine eigenen Wege. Wir erreichten Berlin, als die Abendsonne an den Dächern kratzte.

Schließlich hielt Tarek in meiner Straße an, wir hatten irgendwann nach der Grenze wieder gewechselt. »Ey, Bruder«, sagte er und suchte meinen Blick, als ich meine Hand schon am Türgriff hatte.

»Mh?«

»Bin da, falls du quatschen wills. So Redebedarf, dies das.«

Ich grinste. »Willst du für mich da sein oder hasse selber Redebedarf?« Bei den Worten streckte ich ihm die Hand hin, weil irgendwie war mir nicht mehr nach groß rumhängen.

Tarek grinste ebenfalls. »Schon gut, Bruder.«

Wir verabschiedeten uns und der Twingo mischte sich unter den niemals zu enden scheinenden Feierabendverkehr. Eigentlich fühlte sich alles wie immer an. Da war unser Block, die anderen Hochhäuser darum herum. Der kurdische Supermarkt, ein paar Häuser dahinter das blaugelb leuchtende Lidlschild. Ein paar Kinder, die mit Steinen gegen die Altglascontainer schmissen. Zwei junge Frauen mit Kopftuch, eine im Fenster im Erdgeschoss, die andere davor, die sich unterhielten. Ein glatzköpfiger Kerl im Unterhemd, im ersten Stock, in seiner Hand ein Glas Sekt.

Alles wirkte so gewohnt. So normal.

Nicht so, als hätte vor ein paar Stunden die Stille zerrissen.

Und den Körper des Mannes im Mantel.

Ich schluckte trocken, dann machte ich mich auf den Weg zu Lidl. Kaufte zwei Fertigpizzen mit Salami und diese Gummibärchen in Kirschenform, weil Fede die so gerne mochte.

Die Stille in meiner Wohnung war beruhigend und in meinem Zimmer angekommen, ließ ich die Jalousien herunter.

Kommse noch rum, schrieb ich ihm. Hoffte, dass er einfach schnell online kommen würde. Antworten und hier wäre. Mich in den Arm nehmen, darauf, dass ich mich ein bisschen besser fühlen würde.

Fede wurde weiterhin als offline angezeigt.

Dann halt nicht. Ich schenkte mir Whisky in das Glas ein, das auf meinem Nachttisch herumstand. Zeit, um den Whisky zu genießen, ließ ich mir keine. Ich trank ihn wie ich früher Wodkamischen gesoffen hatte, und auch, wenn sich die Welt bald schneller drehte, blieben die Bilder klar vor meinem Auge. Es war ein bisschen, als hätte der Alkohol seine Wirkfähigkeit verloren. Man konnte nicht alles wegsaufen, schon klar, aber manchmal fühlte sich diese Illusion verlockend an.

Ich fing an zu zocken, machte bald die Konsole aus. Kein Bock auf tote Menschen. Ging auf YouTube, scrollte durch die Trends. Irgendwer, der in Chicken Wings badete, eine andere trug sich 100 Schichten Nagellack auf. Heile Welt und für eine Weile tat es gut, sich den Nonsense reinzuziehen. Glitzerschleim, dumme Tier-Memes, Kinder, die auf die Fresse fallen – gebt mir alles.

Bloß keine Realität.

Nach einer Weile vibrierte mein Handy. Fedes Name tauchte auf, darunter die Nachricht: Bin noch bei bahar, fußball gucken. Können uns aber morgen sehen wenn du magst

Irgendwie stimmten mich die Worte traurig. Klar, er musste ja nicht 24/7 für mich bereit sein, doch irgendwie brauchte ich ihn gerade. Brauchte diese Sicherheit, die seine Umarmung vermittelten. Dieses Ankommen.

Ich schluckte. Irgendwie fühlte sich alles beängstigend an. Die Welt draußen mit ihrer Brutalität, die ich immer haben wollte. Die Tatsache, wie leicht Menschen sterben konnten, auch wenn ich das immer gewusst hatte.

Kannst du nachher noch kommen

Also kein stress ne

Guckt fußball undso

Aber danach

Meine Finger tippten die Nachrichten wie von alleine ein und ehe ich mich versah, hatte ich sie schon abgeschickt. Eine nach der anderen. Und es fühlte sich gar nicht an, als würde ich betteln, mich kleinmachen, oder sonst was. Sondern war richtig irgendwie.

Ich brauchte ihn und es war okay, das zu fragen.

Er musste ja nicht kommen.

Einen Moment später klingelte mein Handy. Fedes Name wurde angezeigt und ich wischte sofort nach rechts, um den Anruf entgegen zu nehmen. »Ja?«, fragte ich, während mir ein wenig wärmer ums Herz wurde. Es war irgendwie schön. Dass er sich direkt meldete, auch wenn er noch bei seiner besten Freundin war. Dass ihm etwas daran lag.

»Hey, Jay. Alles gut bei dir? Klang nicht so.« Im Hintergrund hallte es, als wäre er ins Bad gegangen, um zu telefonieren.

»Mhm. Ja. Mach dir keine Sorgen.« Ich tastete nach meinen Zigaretten auf dem Schreibtisch und fegte dabei eine Packung Salzstangen auf den Boden. Mein Blick blieb an der Rum-Flasche auf meinem Schreibtisch hängen. Ich könnte mich aus dem Leben schießen. Einfach saufen, vergessen. Aber das fühlte sich nicht richtig an. Vielleicht, weil ich hiervon eh nicht weglaufen könnte. Egal, wie viel ich soff.

»Ich kann auch gleich kommen. Bahar versteht das schon.«

»Nee. Ist echt okay. Macht euchn schönen Abend und dann kommse.« Ich schob mir eine Kippe zwischen die Lippen. Das Feuer fand ich unter meinem Kopfkissen.

»Wie dir lieber ist. Dann schreib ich dir, wenn ich mich aufn Weg mache, ja?«

Ich nahm einen tiefen Zug und stieß ihn in die schwarze Nacht. »Okay. Danke.«


Zwei Stunden später öffnete ich Fede die Tür. Es brauchte keine Worte, da zog er mich in eine enge Umarmung. Sein Griff war kräftig und mit ihm fühlte ich mich ein wenig sicherer. Gehalten irgendwie. »Ich bin da, Jay«, sagte er leise. »Egal, was ist. Wir können drüber reden oder schweigen oder ich lenk dich ab. Wie du willst.«

Ich räusperte mich und trat einen Schritt zurück. »Komm ersma rein.«

Im Flur schnürte er seine Chucks auf und stellte sie zu unseren anderen Schuhen, darauf bedacht, leise zu sein. Aus Lexies Zimmer klangen die leisen Stimmen einer Fernsehserie, gefolgt von dem gefakten Gelächter. Zurück in meinem Zimmer ließ ich mich auf mein Bett sinken. Zog die miefige Decke über meine Schulter und sah auf den Boden vor mir. Meine Boxhandschuhe lagen da herum und ein genutztes Handtuch, als ich vor unserem Trip nach Tschechien duschen war.

Fede setzte sich neben mich, ehe er sich entschied, sich hinzulegen und zu mir unter die Decke rutschte. Sein Körper strahlte Kälte ab.

»Pass auf mich auf«, murmelte ich. Die Worte kamen einfach so über meine Lippen, keine Ahnung, was das heißen sollte.

Er hob belustigt die Augenbrauen. »Ich auf dich? Nichts Neues.«

»Mach dich nich lustig, du Wichser.« Ich sah ihn böse an. Ging gar nicht. Ich öffnete mich ihm und der klopfte noch immer seine Sprüche.

»Mach ich nicht, ich pass auf dich auf«, sagte er dann und legte seine Arme um mich. Fest drückte er mich an seine Brust. »Dir wird nichts passieren.«

Ich spürte seine Wärme, seine starken Arme. Seinen Griff, der mich nicht loslassen würde. Die Illusion von Sicherheit, der ich mich hingeben wollte – und es doch nicht recht schaffte. Zu schwer war die Welt draußen, zu nah. Sirenen heulten, die Alltagsmelodie unseres Viertels und in diesem Moment lösten sie nur Fluchtinstinkt aus.

»Willst du reden? Mir erzählen, was passiert ist?«, fragte Fede nach einer Weile an meinem Ohr. Ich spürte seinen warmen Atem.

Meine Antwort kam schnell. Ein Kopfschütteln. Bloß nicht reden, einfach vergessen. »Sei nur da«, murmelte ich und Fede war da, den ganzen Abend lang, die ganze Nacht. Bis irgendwann der Morgengrauen hinter den Fenstern kratzte und mich die Müdigkeit übermannte.


Fede schnarchte leise. Noch immer lag ich eng in seinem Arm und spürte, wie er mich festhielt. Seinen Griff hatte er beim Schlafen nur wenig gelockert. Für einen Moment war alles gut. Sonnenlicht ließ meine Augen blinzeln, zeichnete warme Flächen auf Fedes Gesicht und den ein wenig unordentlichen Dreitage-Bart. Sein Mund war etwas geöffnet, Sabber im Mundwinkel.

Und da waren sie wieder. Die Bilder vor meinem inneren Auge. Der Typ in Tschechien. Auch sein Mund war etwas geöffnet, als der so in sich zusammengesackt war.

Ich schluckte und vergrub mein Gesicht an Fedes Brust. Es ist doch nichts passiert. Menschen sterben halt. Na und. Ich hatte den ja nicht mal gekannt. Und selbst wenn. Es sollte mir egal sein.

»Was is los, Jay?«, vernahm ich auf einmal Fedes Stimme.

Wann war der denn jetzt wach geworden?

»Was soll sein?«

»Na ja, du versuchst gerade mich zu zerquetschen oder so.« Fede lachte leise, wurde dann aber wieder ernst. »Falls du doch irgendwie reden willst, ich bin da. Wenn nicht, ist auch okay.«

»Hasse schon ma'n Menschen sterben gesehen?«

»Ja. Meine nonna Giovanna. Die hatte irgendsone Krankheit, ich weiß das gar nicht mehr so genau. Ich war da noch richtig jung. Ich glaub, Leonardo war noch gar nicht auf der Welt. Und sie sah schon richtig weiß aus, wie so ein Bettlaken, und verstanden hat man sie beim Reden nicht mehr. Da hat sie uns in ihr Zimmer gerufen, und sie hat noch irgendwas gesagt, und auf einmal ist ihr Kopf zur Seite weggekippt.«

»Hm«, machte ich. Wenn selbst ein Streber wie Fede schon Menschen sterben gesehen hatte, gehörte das wohl einfach dazu. Früher oder später machten alle die Erfahrung.

»Was ist passiert, Jay?« Ich sah, wie er meinen Blick suchte und schaute augenblicklich weg. Ich wollte nicht, dass er mich so anguckte. So freundschaftlich, so verständnisvoll. »Also ... wie gesagt, ich akzeptiers, wenn du nicht reden willst, aber manchmal ists ja doch besser, nochmal nachzufragen.«

»Nichts.«

»Zu viele Menschen beim Zocken getötet und jetzt doch ein schlechtes Gewissen?« Über sein Gesicht huschte ein fieses Grinsen und ich wusste nicht, ob ich ihn dafür hasste oder liebte. »Oder bereust du jetzt die ganzen weggenommen Hefte, die du anschließend mit Wasser übergossen hast?«

»Ey, das is immer noch bisschen lustig. Wie Marouan einfach geflennt hat deshalb, weil er sich ja immer so viel Mühe mit seinen Notizen gegeben hat.«

Fede grinste. »Lässt du jetzt absichtlich den Teil aus, wie er deinen Kopf unter das Wasser gedrückt hat, um sich zu rächen?«

»Ach ja. Siebte Klasse. Gute Zeiten warens. Da hat man sich noch nicht angeguckt, wie Menschen innen Kopf geschossen wird. Einfach bäm. Und weg.«

»Was?«

So musste es aussehen, wenn dieses Sprichwort mit dem Kinnlade runterfallen wirklich passierte. Kinnlade. Komplett abstruses Wort auch.

»Hast du wen umgebracht?«, fragte er weiter.

»Nee. Nicht ich.«

»Ja, scheiße, Mann ... das klingt heftig.« Fedes Fassungslosigkeit fühlte sich einen Moment lang nach heiler Welt an. Auf irgendeine Art und Weise war das gut. Weil nicht alles so kaputt war, wie es gerade schien. »Wie ist das passiert?«

»Kannst dir doch vorstellen.« Ich machte eine Geste, die einen Kopfschuss andeutete.

»Wer war das?«

Ich schüttelte den Kopf und zog Fede an mich. Vielleicht ein bisschen zu grob, doch er ließ sich nichts anmerken. Umarmte mich eng und hielt dann endlich die Fresse.

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