Nottinghamshire - Castle De Burgh
Als Marian über das Seil, welches Robin für sie an der Burgmauer befestigte, in Garten der Burg kletterte, war die Sonne längst hinter dem Horizont versunken und Sterne blinzelten am Nachthimmel. Eilig schlüpfte sie in einen der Nebengänge. Seufzend wischte sich Marian eine Strähne aus dem Gesicht und verlangsamte ein wenig ihren Schritt, als sie der Haupthalle näherkam. Aus dem Saal strahlte tänzelnder Feuerschein an die Wand gegenüber und in den spärlich beleuchteten Gang. Wenn sie sich nicht irrte, hatte sie eben die Stimme ihres Vaters vernommen?
'Du solltest aufhören, ständig in Gedanken zu schweben und aufmerksamer sein!', schimpfte sich Marian selbst und verzog dabei die leidig die Lippen.
Sie musste nur noch an dieser Halle vorbei, den Hauptgang entlang und konnte die Dienstbotentreppe nach oben nehmen. Schon öfter hatte sie sich fort geschlichen und hatte diesen Weg als den Sichersten auserkorene. Das schwierigste und riskanteste waren die wenigen Meter vorbei am Torbogen der Halle. Ihr Herz trieb sie zur Eile an, doch ein zu rascher Schritt konnte verräterisch sein. Also zwang Marian sich dazu, nicht wie ein gehetztes Reh vorbeizuspringen.
„Marian."
Ihr Name kam so geschliffen aus der Halle, wie ein präzise geführter Schwertstreich. Sofort zuckte sie zusammen und wäre fast über ihre eigenen Füße gestolpert.
Als Marian aus dem Schatten ins Licht trat, verzog er für einen Augenblick verärgert das Gesicht. Sie kam gar nicht erst zu seiner Antwort. „Gott, Mädchen, wie bist Du wieder gekleidet!" Empört schlug er die Hand auf die Holzplatte vor sich und schüttelte den Kopf. „Du hast Besuch und warst nicht hier, um ihn angemessen zu empfangen."
Marian war sich nicht sicher, ob er wütend war, oder nur den Schein wahren wollte. Ihre Aufmerksamkeit legte sich auf den besagten Besuch, der sich von dem hölzernen Stuhl erhob und ihr Magen zog sich zusammen.
„Guy", entkam es ihr und ein weiterer scharfer Blick ihres Vaters ließ sie eilig das Haupt senken. „Sire", verbesserte sie sich angemessen, um wenigstens den Schein zu wahren. „Verzeiht mein Gebaren und mein Auftreten", entschuldigte sie sich und spürte den Blick von Guy wie ein Kribbeln im Nacken. Ein Hauchen, dass einem ganz und gar bewusstmachte, dass man beobachtet wurde, aber noch nicht genau zu definieren vermochte, ob der Luftzug kalt oder warm ... oder beides gewesen war.
„Ihr müsst Euch nicht entschuldigen, Mylady", sagte er, als wären sie zwei Fremde in einem überfüllten Saal voll gaffender Adliger.
Sofort zog ihr Puls an und Nervosität breitete sich wie ein Lauffeuer in ihr aus. Vorsichtig hob sie leicht den Blick und spähte unter den langen Wimpern an den Tisch, um festzustellen, ob der Sheriff auch anwesend war.
Eine voreilige Erleichterung überschwemmte sie, als sich ihre Befürchtung nicht bewahrheitete. Aber warum war Guy jetzt und heute hier? Sicherlich hatte er schon von dem Überfall erfahren. Hatte der Sheriff ihn geschickt? Wollte er kontrollieren, ob sie hier war? Ahnte er etwas?
„Wie lange möchtet Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beehren, Sir of Gisborne?", fragte Marian. „So Ihr noch etwas zu bleiben wünscht, werde ich mir etwas anderes anziehen und Euch anschließend Gesellschaft leisten."
Oh, wie sehr Marian sich wünschte, Guy besser durchschauen zu können. Sie begegnete seinen Augen von der Farbe eines anrollenden Gewittersturms unter dem rabenschwarzen Haar und konnte doch nicht ahnen, was in ihm vorging. Er verzog keine Miene, die Züge unergründlich wie eh und je. Es verlieh ihm manchmal dieselbe unnahbare Kälte seines Vaters. Und diese Eigenschaft hasste sie an ihm.
„Ihr müsst Euch nicht entschuldigen", meinte er schließlich. „Mylord, mit Eurer Erlaubnis, möchte ich Eure Tochter zu einem kurzen Spaziergang in die Gärten begleiten." Der Stuhl scharrte über den Steinboden, als er ihn zurückschob. „Es ist nicht notwendig, sich umzuziehen. In dieser Kleidung wird sie weniger frösteln. Es wird auch nicht lange dauern. Schließlich ist es schon spät. Ich werde Eure Zeit nicht lange beanspruchen."
„Selbstverständlich." Marian schluckte, als ihr Vater nickte.
Guy überbrückte die Schritte in wenigen Sekunden und eine Dienstmagd brachte ihm geschwind seinen Umhang. Schwarzes Fuchsfell schmückte über dem edlen Stoff seine Schultern. Es ließ seine Statur noch breiter und den Mann imposanter erscheinen, ehe er ihr seinen Arm reichte. Marian zögerte für einen kurzen Moment. Dieses Bild, als sich die Diebin beim Sohn des Sheriffs einhakte, hätte nicht sonderbarer sein können.
Guy und Marian schwiegen, während sie durch die Gänge der Burg schritten. Neugierige Blicke folgten ihnen, wenn sie an Wachen und Dienstboten vorübergingen. Jeder Schritt gab einen dumpfen Klang von sich, löste sich bei den Teppichen mit Stille ab und kehrte dann wieder zurück. Diese Minuten erschienen ihr wie eine endlose Ewigkeit und doch wagte sie es nicht, die zerbrechliche Stille mit unbedachten Worten zu zerschlagen.
Als sie hinaus in die Gärten traten, strich der Wind vollkommen unschuldig über die Zierhecken und ließ die langen Äste einer alten Weide raunen. Unter ihren Stiefeln knirschte der Kies. Sobald die Sonne hinter dem Sherwood versunken war, verwandelten sich die Gärten in ein Meer aus Schatten. Auch deshalb waren zahlreiche Fackeln und Feuer entzündet worden, um es Robin Hood, sollte er es erneut versuchen wollen, nicht zu leicht zu machen.
„Wo bist Du gewesen, Marian?", brach Guy schließlich das Schweigen zwischen ihnen.
„Ich war ausreiten", antwortete sie schnell, um ihre Aufmachung zu rechtfertigen.
„Ich verstehe. War es ein angenehmer Ritt?"
Marian nickte und spürte ihren Hals enger werden. Als läge sich eine seidenweiche Schlinge um ihre Kehle. Ganz langsam, sodass man sie erahnen, aber nicht danach greifen konnte.
„Wenn ich fragen darf: Wo warst Du ausreiten?", fuhr er neugierig fort, „Unten am Flusslauf oder doch eher an den Feldern?" Guy sah sie an und Marian fühlte sich, als wurden ihre Schultern schwerer. „Oder im Sherwood Forest?"
Zum Glück zuckte sie nicht zusammen. Marian hatte im letzten Jahr so oft ihre Finger in die Schatullen der korrupten Zähler gesteckt, dass sie mit jedem Mal ein wenig besser zu Lügen lernte. Also: Was wäre am plausibelsten? Die junge Lady lächelte, auch wenn es schräg in ihren weichen Zügen hing und nicht ansatzweise ihre Augen erleuchten wollte.
„Sowohl als auch. An den Feldern entlang, dann am Rande des Waldes und zum Schluss am Flusslauf. Ich mag es, wie das Schilf um diese Jahreszeit am Ufer steht. Dort habe ich mich ein wenig in das Gras gelegt und muss eingeschlafen sein. Erst als die Sonne gesunken ist und es kühler wurde, bin ich aufgewacht und erinnerte mich des langen Rückweges."
Guy führte sie zu einer steinernen Bank vor der imposanten Weide. Der große Baum ließ in trauernder Manier passend zu seinem Namen die Äste hängen. Vom Gärtner waren einige der Zweige abgeschnitten worden, sodass der natürliche Vorhang aufgezogen worden war und einer idyllischen kleinen Stelle Platz machte. Dort deutete er ihr an, sich zu setzen.
Guy von Gisborne verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah auf die junge Frau hinab, die er seit Kindesbeinen kannte und die noch immer glaubte, ihn so leicht hinters Licht führen zu können. Guy wusste nicht, was ihn mehr kränkte: dass sie nach all der Zeit dennoch glaubte, er würde nicht erkennen, wie ihre Stimme verräterisch kiekste. Oder dass sie ihn überhaupt belog. Er kannte jedes Nasekräuseln. Wie sie die Lippen verzog, wenn ihr etwas nicht passte. Er war kein Narr.
„Ist das so?" Guy brummte und die junge Frau spürte unangenehme Schuldgefühle in ihrem Magen. „Du musst wissen, am heutigen Tage wurde eine Kutsche mit Steuergeldern im Sherwood Forest überfallen."
Marian hatte schon oft irgendetwas angestellt und danach das Haupt unter der Rüge ihres Vaters, des Sheriffs oder Guy senken müssen. Diesmal war es etwas anderes. Es ging nicht um das Pferd, das sie vom Markt brachte und welches nicht für ein zartes Weib geeignet war. Auch nicht um stibitzte Kekse oder eine Hose unter ihrem Rock.
„Das ist schrecklich", meinte sie und versuchte möglichst betroffen zu klingen. Es fiel ihr leichter als erwartet. Denn auch ihr war das Herz bei dem Gedanken schwer, wie viel Blut heute vergossen worden war. So hätte es nicht laufen sollen. „Wurden viele verletzt? Und die Banditen - habt ihr sie geschnappt?"
„Sie sind entkommen, ehe wir eintrafen. Der Großteil der Steuergelder wurde gestohlen, doch sie konnten von den Wachen zurückgetrieben werden", erzählte er, dann neigte Guy den Kopf und einige Strähnen des dunklen Haares fielen in sein Gesicht. „Nun erkläre mir Marian", seine Stimme schlug einen geschliffenen Tonfall an, wie schwarzes Öl.
Marian fühlte, dass nur ein kleiner Funke fehlte, um die Stimmung in Brand zu setzen.
„Wie kommt es, dass meine Männer Deinen Hengst zusammen mit einem weiteren Ross angebunden auf einer Lichtung im Sherwood Forest fanden?"