Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Schweigen, dann hörte ich Coco leise seufzen.
"Oh Lou, ich weiß nicht, was ich sagen soll", gestand sie schließlich und ich musste trotz der Tränen in meinen Augen schmunzeln.
"Schon okay, du musst nichts sagen. Ich hab es mir ehrlich gesagt nicht eingestanden bis ich es gerade laut ausgesprochen habe und jetzt hab ich keinen blassen Schimmer, wie es weitergehen soll", antwortete ich mit brüchiger Stimme und wischte mir mit der freien Hand über die Augen, um sie ein wenig zu trocknen.
"Denkst du, Pierre wird versuchen Kontakt zu dir aufzunehmen?"
"Keine Ahnung, aber ich wüsste nicht wie."
"Na ja, er kann nach dem Artikel fragen, den du geschrieben hast. Sein PR-Manager hat sicher irgendwo eine Sammlung aller Interviews und Artikel über ihn und da ist der von dir bestimmt dabei. Oder er wendet sich an Esteban, falls er mitbekommen hat, dass ihr wieder miteinander schreibt", überlege Coco laut und brachte mich damit kurz zum Lachen.
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass Pierre sich überwindet und Esteban um Hilfe bittet. Die beiden mögen ihre Feindseligkeit abgelegt haben und miteinander klarkommen, aber den jeweils anderen um Hilfe zu bitten, ist dann doch eine völlig andere Nummer."
"Na gut, damit könntest du Recht haben. Aber wäre es nicht romantisch, wenn sich Pierre um deinetwillen an Esteban wendet? Das wäre doch ein Zeichen, wie wichtig du ihm bist", warf meine Schwester ein und ich zog einige Sekunden lang nachdenklich die Stirn kraus.
"Ja, vielleicht wäre es romantisch. Aber selbst wenn er Kontakt zu mir aufnehmen sollte, wüsste ich nicht, was dann passieren würde. Es ist so viel Zeit vergangen, es ist so viel passiert und obwohl Pierre jetzt weiß, dass ich ihn damals nicht betrogen habe, weiß er ja trotzdem von dieser anderen Sache noch nichts. Dass ich ihn wegen des Betrugs angelogen habe, könnte er mir vielleicht noch verzeihen, aber das andere?"
"Aber wenn er doch jetzt sowieso schon die Wahrheit über die Absage der Hochzeit kennt, wieso dann noch weiter lügen? Sag es ihm und dann liegt der Ball bei ihm und er kann entscheiden, wie es von ihm aus weitergehen soll", schlug Coco vor, woraufhin ich sofort entschlossen den Kopf schüttelte.
"Nein, auf keinen Fall. Nur weil mir das eine Geheimnis rausgerutscht ist, muss ich das mit dem anderen nicht wiederholen", widersprach ich sofort.
"Aber was, wenn er es auf andere Weise herausfindet? Was, wenn ihr wieder zusammenkommt und glücklich seid und er es dann erfährt?", versuchte Coco mich zu bearbeiten, aber ich schüttelte erneut den Kopf.
"Da wir sowieso nicht wieder zusammenkommen werden, ist das eine unnötige Frage. Pierres und meine Geschichte ist vorbei und damit war's das. Vielleicht lassen meine Gefühle für ihn ja doch noch irgendwann nach."
"Ach Lou, du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht passieren wird. Wenn die letzten fünf Jahre Abstand und die Tatsache, dass er dich in Le Castellet mit voller Absicht so verletzt hat, nichts an deinen Gefühlen ändern konnten, dann wird mehr Zeit das auch nicht tun."
Das war nicht das, was ich hören wollte, aber ich wusste, dass Coco Recht hatte. Wenn all die Dinge, die passiert waren, meine Liebe zu Pierre nicht hatten mindern können, dann würden ein paar weitere Jahre daran auch nichts ändern. Und ein paar weitere Jahre klang nach einer verdammt langen Zeit.
Aber ich wollte ungern zugeben, dass meine Schwester richtig lag, obwohl mir klar war, dass sie das selbst wusste. Also biss ich mir kurz nachdenklich auf die Lippe und versuchte dann, meine Stimme irgendwie zuversichtlich klingen zu lassen.
"Na ja, was nicht ist, kann ja noch werden. Aber jetzt lass uns bitte das Thema wechseln, denn je eher ich mit dem Vergessen von Pierre anfange, umso schneller wird es mir wieder besser gehen."
"Okay, dann erzähl mir doch mal ein bisschen von Italien und von deinem gutaussehenden Kollegen. Habt ihr auch ein paar Sehenswürdigkeiten anschauen können? Hat mit dem Zimmer-Teilen alles geklappt? Seid ihr mit eurem Artikel zufrieden?", löcherte Coco mich sofort mit Fragen und ich lachte dankbar, weil sie meinen Wunsch nach Abwechslung sofort umzusetzen versuchte.
"Eins nach dem anderen, sonst komme ich ja gar nicht zum antworten", bremste ich sie schmunzelnd und begann von den letzten zwei Wochen zu erzählen.
Nachdem wir über eine Stunde lang telefoniert hatten, musste ich auflegen, um noch meine Sachen von Italien auszupacken und ein paar Dinge für die Arbeit morgen vorzubereiten und versprach meiner Schwester, dass wir im Laufe der Woche sicher wieder voneinander hören würden. Dann machte ich mich ans Werk, packte mein ganzes Zeug aus, schmiss die erste Waschmaschine an und sang währenddessen lauthals und alles andere als textsicher ein paar der italienischen Lieder vor mich hin, die ich in den letzten zwei Wochen ständig im Radio gehört hatte.
Die zweite Waschmaschine lief bereits, als ich mir meinen Rucksack schnappte, um auch diesen zu leeren. Fach für Fach schaute ich durch, dann kam ich beim vordersten an, griff hinein und ertastete zu meiner Überraschung ein Stück Papier, von dem ich mich nicht erinnern konnte, es eingesteckt zu haben. Skeptisch zog ich es raus, las mir die Worte und Zahlen darauf durch und erstarrte.
Der Zettel war von Pierre, seine Schrift hatte sich seit damals nur minimal verändert. Die Zahlenreihe unter seinem Namen sah verdächtig nach einer Handynummer aus und ich schluckte hart, als mir klar wurde, was das bedeutete.
Pierre hatte gar nicht vor Kontakt zu mir aufzunehmen, vielmehr erwartete er, dass ich diejenige sein würde, die sich bei ihm meldete. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken den Zettel einfach zu zerreißen oder zu verbrennen, dann hielt ich inne und starrte auf das kleine Stück Papier.
Das hier könnte meine Chance sein. Statt meine Gefühle zu verdrängen zu versuchen, könnte ich Pierre anrufen und wir hätten vielleicht nochmal die Möglichkeit von vorne anzufangen. Es könnte alles wieder so werden wie früher.
Nein, es würde nie wieder zu werden wie früher, dafür war viel zu viel passiert. Aber wegschmeißen wollte ich den Zettel irgendwie trotzdem nicht, also verstaute ich ihn kurzerhand in meiner Nachttischschublade und wollte diese gerade wieder schließen, als mir etwas einfiel.
Wann hatte Pierre mir den Zettel eigentlich zugesteckt? Es hätte mir doch auffallen müssen, wenn er den Rucksack an meinem Reißverschluss geöffnet und geschlossen hätte, oder? Außerdem war das eine halbe Woche her, seitdem hatte ich das kleine Fach oft benutzt und hätte seine Nachricht finden müssen.
Hatte etwa-? Oh, wenn ich den erwischte!
Wütend griff ich nach meinem Handy, öffnete den Chat mit Thierry und begann zu tippen.
Sag mal hast du mir einen Zettel in meinen Rucksack gesteckt, den Pierre dir gegeben hat?!
Ich wollte das Handy wieder beiseite legen, hielt aber inne, als ich sah, dass Thierry in diesem Moment online kam und zu schreiben begann. Als ich seine Antwort las, entfuhr mir ein ungläubiges Schnauben.
Ja, hab ich
Wieso???
Weil er mich darum gebeten hat und ich dir die Möglichkeit geben wollte, dich nochmal in Ruhe mit ihm zu unterhalten
Und wenn ich mich gar nicht mit ihm unterhalten will?
Dann kannst du den Zettel wegschmeißen
Vielleicht hab ich das ja schon getan
Wenn dem so ist, wieso hast du mich dann überhaupt gefragt? Hast du ihn zerstört und bereust das jetzt?
Blödsinn
Ich hab ihn abfotografiert, falls sowas passiert. Soll ich's dir schicken?
Nein! Und lösch dieses Foto, ich will ihn nicht anrufen. Außerdem hab ich den Zettel mit der Nummer noch...
🫣
Was soll das jetzt schon wieder heißen?
Das ist mein überraschtes Gesicht, weil du seine Nummer nicht sofort in Brand gesetzt hast. Find ich gut👍🏻
Wie auch immer, du hättest das nicht tun sollen
Dir den Zettel zustecken? Dafür werd ich mich nicht entschuldigen, falls du das erwartest, weil ich finde, dass es richtig war.
Ich hab euch beide nur ganz kurz zusammen gesehen, aber sogar ein Blinder hätte bemerkt, dass ihr zwei noch Gefühle füreinander habt.
Pierres Gefühl für mich ist Hass
Ach ja? Und wieso wollte er dann, dass du seine Nummer hast?
...
Ach halt doch die Klappe
😏
🖕🏻
Jaja, wir wissen beide, dass ich Recht habe.
Und bevor du jetzt auf die Idee kommst das zu bestreiten, geh ich offline und wünsche dir eine gute Nacht😈