Quarante-deux

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In den folgenden Wochen befand ich mich in einer Art Blase oder Zeitschleife, in der gleichzeitig alles wundervoll und furchtbar war.

Die Nachricht über Cocos Schwangerschaft munterte mich auf, sobald ich daran dachte, außerdem schrieb ich nahezu täglich mit Pierre und genoss unsere Annäherung und die Vertrautheit. Bei der Arbeit lief es großartig und mein Chef vertraute mir einen sehr positiv herausfordernden Artikel dran, für den ich hinterher viel gelobt wurde. Sogar das Wetter war für November außergewöhnlich freundlich.

Aber all diese guten Dinge konnten mich immer nur zeitweise davon ablenken, dass ein Damoklesschwert über mir hing, das nur darauf wartete, dass ich einen falschen Schritt machte. Sollte ich Pierre die Wahrheit sagen und ihm damit aller Voraussicht nach erneut das Herz brechen? Würde er mich überhaupt noch wollen, wenn er von meinem gut gehüteten Geheimnis erfuhr? Oder würde er mich in die Wüste schicken und nie wieder sehen wollen? War ich bereit ihm die Wahrheit zu sagen, auch wenn das vielleicht bedeutete, dass ich meine Chance auf eine gemeinsame Zukunft damit zerstörte?

All das wirbelte in meinem Kopf herum, ließ mich schlecht schlafen und verfolgte mich in jeder ruhigen Sekunde, aber einer Lösung kam ich deshalb trotzdem nicht näher. Die Deadline, die Pierre und ich ausgemacht hatten, nämlich das Ende der Formel-1-Saison 2022, rückte dagegen in zunehmend greifbare Nähe und ehe ich mich versah hatte in Abu Dhabi das letzte Rennen stattgefunden.

Pierre hatte leider nur Platz 14 erreichen können, was natürlich nicht der Abschied von seinem Team war, den er sich vorgestellt hatte, aber ich versuchte ihnen in meinen Nachrichten ein wenig aufzuheitern und es gelang mir recht gut. Weil er morgen erstmal nach England zum Hauptquartier von seinem zukünftigen Team Alpine fliegen würde, verabredeten wir uns für das kommende Wochenende in Paris, was mir nur nochmal aufs Neue vor Augen führte, wie wichtig es war, dass ich bald eine Entscheidung traf.

Doch es sollte alles ganz anders kommen.

~~~

"Guten Morgen Sonnenschein", begrüßte ich meine Schwester fröhlich, als ihr Name auf dem Display des Autos erschien und ich den eingehenden Anruf entgegennahm.

"Selber Sonnenschein. Wieso bist du um diese Uhrzeit schon so gut drauf?", antwortete sie ein wenig grummelig und brachte mich damit unweigerlich zum grinsen.

"Weil ich im Gegensatz zu dir heute morgen noch nicht kotzen musste, so wie du dich anhörst."

"Wie charmant du das immer sagst, kleine Schwester. So einfühlsam und mitleidig", murrte Coco und ich hörte im Hintergrund das Rascheln einer Wasserflasche.

Die schwangerschaftliche Morgenübelkeit hatte Coco fest im Griff und natürlich tat sie mir Leid, aber ich sah es in erster Linie als meine Aufgabe an, sie trotz allem aufzumuntern. Dazu nutzte ich mittlerweile immer meine morgendliche Fahrt zur Arbeit, erzählte Coco ein bisschen worüber ich zuletzt mit Pierre geschrieben hatte und was mich in letzter Zeit zum Lachen gebracht hatte und es funktionierte relativ gut.

Ich konnte schließlich nicht verantworten, dass meine Schwester mit ihrer schlechten Laune am Morgen ihre Schüler vergraulte und ich war froh, wenigstens das für sie tun zu können, wenn ich ihr schon nicht die Übelkeit abnehmen konnte. In solchen Momenten hasste ich es, dass wir so weit voneinander entfernt wohnten und ich sie nicht einfach jeden Tag besuchen konnte, um sie fest in den Arm zu nehmen, aber das war wohl die Realität des Erwachsenseins.

"Ich hab Mitleid mit dir, wirklich", beteuerte ich, während ich mich in letzter Sekunde davon abhalten konnte einem Idioten, der mir die Vorfahrt hatte nehmen wollen, den Mittelfinger zu zeigen, "Aber mein Mitleid hilft dir nicht weiter. Was du brauchst ist positive Energie und Zuversicht, also ist das hier deine tägliche Erinnerung daran, dass das Internet sagt, dass die Übelkeit in den meisten Fällen nach dem dritten Monat besser wird."

"Ja, in den meisten Fällen. Wenn ich nicht zu diesen Fällen gehöre, werde ich schreien und weinen und eventuell Jules verprügeln, weil er mich geschwängert hat", antwortete Coco und entlockte mir damit ein kurzes Lachen.

"Du bist verrückt, wirklich. Aber ich glaube fest daran, dass du das Ende der Übelkeit manifestieren kannst, also gib dein Bestes und dann wird auch das Beste passieren."

"Apropos das Beste passieren: Wann passiert denn das Beste bei dir?"

"Bei mir?", echote ich verwirrt, während ich die Abfahrt in Richtung Pariser Innenstadt nahm.

"Ja, wann triffst du dich mit Pierre?"

"Ach so, das meinst du. Er kommt am Freitag nach Paris, holt mich von der Arbeit ab und wir fahren zu mir nach Hause, um dort zu reden."

"Zu dir nach Hause? Das ist nicht gerade ein neutraler Ort, oder? Heißt das, du willst ihm die Wahrheit erzählen?"

"Ehrlich gesagt weiß ich das immer noch nicht und es macht mich absolut wahnsinnig. Heute ist schon Mittwoch, wie soll ich bis übermorgen eine Entscheidung treffen, für die ich schon fast einen Monat Zeit hatte und es trotzdem nicht auf die Reihe gekriegt hab?", jammerte ich.

"Hey, ganz ruhig. Es ist völlig verständlich, dass du diese Entscheidung nicht leichtfertig treffen kannst, schließlich geht es um ein sehr heikles Thema. Und auch wenn ich eine Meinung habe, heißt das nicht, dass ich nicht verstehe, welche Argumente dagegen sprechen. Ich wünsche mir einfach nur, dass du nicht mehr lange in dieser Schwebe sein musst, in der du nicht weißt, was passieren wird."

"Glaub mir, diese Schwebe raubt mir seit Wochen den Schlaf und die Nerven. Und wer mir auch die Nerven raubt, sind diese Idioten auf der Straße! Kann hier niemand mehr vernünftig am Straßenverkehr teilnehmen?", schimpfte ich und drückte einmal vernehmlich auf die Hupe.

"Paris eben, das Verkehrschaos dort tust du dir immer noch freiwillig an, meine Liebe. Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema: Egal wie du dich entscheidest, ich steh hinter dir und bin für dich da, okay? Gemeinsam kriegen wir das hin, egal was passiert."

"Ja, ich weiß und dafür liebe ich dich, Co- VERDAMMT!", entfuhr es mir panisch und ich riss die Augen auf.

Für den Bruchteil einer Sekunde passierte alles ganz langsam.

Auf meiner Spur kam mir plötzlich ein Auto entgegen, das gerade ein anderes überholte und mich dabei wohl übersehen hatte. Ich starrte in die Augen des Fahrers und entdeckte meine eigene Panik, die sich darin spiegelte, dann riss ich instinktiv das Lenkrad zur Seite und knallte nahezu frontal in einen großen Betonpoller.

Auf einen Schlag drehte die Erde sich wieder so schnell, dass mir schwindelig wurde. Mein Körper wurde nach vorne geschleudert und ich prallte in den Airbag, der sich geöffnet hatte, der Gurt schnitt mir schmerzhaft in die Brust, irgendwo erklang ein Knacken, dann wurde mir schwarz vor Augen.

Das letzte, was ich hörte, war die besorgte Stimme meiner Schwester.

"Lou? Lou, hörst du mich?"

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now